DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
​Eine Ethnographie Berlins in der Corona-Krise
​
II. Ein Kiez geht durch die Krise

Abgeschlossen

Von 25. April bis 16. Mai

​Mittwoch, der 6. Mai – Relaxed durch den Ramadan

5/6/2020

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Imam der Moschee (50). Ort: Wilmersdorfer Moschee 
 
Er erwartet mich schon, sagt gleich, eine halbe Stunde Zeit für mich zu haben, dann kommt der nächste Besucher. Der Imam der Wilmersdorfer Moschee ist ein umtriebiger Mensch, der es gewohnt ist, Probleme anzupacken. Seit er vor fünf Jahren von Lahore nach Berlin geschickt wurde hat er erfahren, dass es in Berlin viele davon gibt. Seine Haare haben darüber schon weiße Strähne bekommen. Das Fasten, sagt er, bekomme ihm gut. Endlich Ruhe im Karton! Wir setzen uns in den weitläufigen Garten. Hinter ihm glänzt die Moschee in der Sonne. Er folgt meinen Blick und strahlt über beide Ohren: Wir haben angefangen die Innenseite zu renovieren, trotz Corona! 
Von der weltweiten Gemeinschaft ist bislang niemand infiziert worden, nicht in Pakistan, nicht in England, nicht auf den Philippinen, nirgendwo. Allen geht es gut! Beten kann man schließlich auch alleine zuhause. Die Gottesdienste sind per Videoübertragung geschaltet worden. Und schlecht geht es ihm dabei nicht. Er hat endlich ein etwas ruhigeres Leben und von allen Gemeinden, die zu seiner Gemeinschaft gehören, hat seine hier in Berlin noch den meisten Spielraum. Besucher kann er empfangen und theoretisch könnte er schon fünfzig Betende zu gleicher Zeit in die Moschee lassen, mit Abstand und Mundschutz natürlich und nach vorheriger Waschung zuhause. Aber noch tut er es lieber nicht. Sich nicht die Hände zu schütteln, sich nicht umarmen zu dürfen, das wäre für seine Leute das Schwierigste. Dann lässt er es lieber ganz sein. 
Sein Alltag hat sich durch die Krise sehr vereinfacht. Alles ganz relaxed! Er zählt auf den Fingern ab: Der interreligiöse Dialog findet im Augenblick nicht statt. Zum Vortrag eingeladen wird er nicht mehr. Die lange Nacht der Religionen ist abgesagt worden. Nach Lahore fliegen, um Bericht zu erstatten steht im Augenblick nicht am Horizont. Nur die bi-nationalen Paare, die heiraten wollen, die kommen nach wie vor, sogar zahlreicher als je. Freizeit ist Heiratszeit, meint er. Nun hofft er doch sehr, dass zumindest im September der Tag des offenen Denkmals stattfinden wird. Dann empfängt er meistens über tausend Besucher und das tut der Gemeinde jedes Mal gut. Was meine ich, ist es dann vorbei? Als ich sage, nein, wohl eher nicht, guckt er ziemlich erstaunt.
In zwei Wochen, wenn das Ende des Ramadans gefeiert wird, überlegt er sich schon Gruppen von fünfzig Personen nach einander in die Moschee kommen zu lassen: ‚um 12.00 – beten und weg! Die nächsten um 13.00 – beten, fertig.‘ Und so weiter. Aber das große Fest mit dem vielen Essen wird in diesem Jahr wohl ausfallen müssen. ‚Die Leute haben doch Angst vor dem Essen, das Andere gekocht haben. So etwas rühren sie momentan nicht an.‘ Zum Abschied bringt er mich zum Gartentor. Und bleibt dort gleich stehen für den nächsten Besucher. Ein zufriedener Mensch.
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Dienstag, der 5. Mai - Der Diebstahl

5/6/2020

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Inhaber eines griechischen Restaurants (70). Ort: Seitenstraße der Uhlandstraße
 
Er sitzt am Tisch hinterm Fenster und notiert die Abholbestellungen. In dem großen Schankraum sind gerade die Böden abgezogen worden. Das Mobiliar steht noch gegen die Hinterwand gestapelt. Tresen und Flaschenwand wirken frisch lackiert. Ich setze mich zu ihm. Aus der Küche klingt das Kling-klang der Kochtöpfe zu uns rüber. Seine Stimme hallt von den kahlen Wänden.
Wie es mir geht? Mir sind diese 14.000€ Zuschuss vom IBB gestohlen worden. Das ging ruckzug. Ich habe das Geld noch auf dem Konto gesehen am Morgen als es reinkam. Dann war es verschwunden. Ich habe natürlich gleich die Polizei informiert. Dort hörte ich, dass das vielen so passiert ist. Irgendwelche Sicherheitslücken. Die sitzen in Weißrussland oder sonst wo, folgen der neuen Spur und räumen ab. Ich wusste nicht, dass so was möglich war. Habe natürlich auch die Bank informiert. Die hat daraufhin das Konto gesperrt. Jetzt geht nichts mehr, Miete, Rechnungen, Schulden, - keine Ahnung, was passiert. Ende des Monats wollen sie Bescheid geben. Mal sehen, ob sie dann auch vergüten.
Das wir doch haben renovieren können liegt daran, dass die Kunden viele Gutscheine gekauft haben. Das war überwältigend, soviel Hilfsbereitschaft. Von Freunden natürlich, aber auch von Kunden deren Namen ich nicht mal kenne. Gestern noch kam hier ein altes Ehepaar eine Bestellung abholen. Ich kenne sie natürlich von Gesicht. Die kommen hier jeden Tag vorbei, aber ich weiß nicht wie sie heißen oder wo sie wohnen. Der sagte, wir haben noch etwas Geld auf der Bank. Brauchen Sie welches?  Kannst du dir das vorstellen? Wo ich dir das jetzt erzähle, kommen mir noch die Tränen. 
Ich bin schon sechsunddreißig Jahre an diesem Ort. Damals, 1984, als ich frisch aus Zypern rüberkam, war das hier eher eine düstere Straße, verschlossen. Die Leute hatten Angst vor Ausländern, die wagten sich hier nicht mal rein. Ich habe angefangen, einen nach dem anderen anzusprechen, mal ein Glas auszuschenken, sie einzuladen. Dann sind sie reingekommen und seitdem sind das meine Kunden. Jetzt reden wir alle miteinander. Ich glaube, ich habe viel dazu beigetragen, dass dieser Kiez sich überhaupt erst geöffnet hat.
Ich las eben im Internet, dass wir wahrscheinlich in ein paar Wochen wieder aufmachen können, mit Auflagen natürlich. Nur zwei an einem Tisch, es sei denn, sie sind verwandt. Das wären vier Tische da drüben, hinten noch mal vier, einer am Tresen, dieser hier am Fenster, und draußen vier statt sonst acht. Dazu soll man die Namen und Adressen notieren für wenn’s losgeht. Keine Ahnung wie wir das hinkriegen werden. Aber wenn wir mit Reservierungen arbeiten und die Leute nach zwei Stunden wieder raus sind, ja, dann hätte ich erst einmal die Kosten raus. Das ist doch ein Anfang! Mich kriegen die nicht klein. Was kann mir schon groß passieren? Das kriegen wir hin.
 

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Sonntag, der 3. Mai – Dreißig Kilo Vogelfutter

5/4/2020

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Inhaber eines Zeitungskiosks (36). Ort: Seitenstraße der Uhlandstraße
 
‚Die Berliner Zeitung? Um diese Uhrzeit? Da brauche ich nicht mal zu schauen. Die sind alle schon weg. Hier. Nehmen Sie den Berliner Kurier, der kostet nur 1.30€. Die berichten doch alle dasselbe, zumindest wo es darauf ankommt.‘ Ich schaue auf die schwarz-rote Schlagzeile. ‚Was ab Montag alles erlaubt ist. Corona-Lockerungen für Friseure, Öffis, Schulen ...‘, steht da in fetter Aufmachung geschrieben. Tatsächlich, das wollte ich wissen. Ich nehme die Zeitung in Empfang und rechne ab. Ein Freund des Inhabers ist gerade zu Besuch gekommen und stellt einen Klapptisch vor der Tür. Die Männer machen sich daran, eine Zigarette zu rollen. Ich bleibe noch ein bisschen stehen. Morgen darf man wieder zu fünft draußen zusammenkommen. Da können drei heute nicht verkehrt sein.
‚Wie es geht? Heute zum ersten Mal etwas ruhiger. Die Leute schaffen sich jetzt alles über Internet an. Kann man sich gar nicht ausdenken, was alles. Katzenstreu, Säcke Katzenfutter, Dosen Hundefutter. Das wiegt, wenn man einen Karton davon bestellt. Letztens hatte einer dreißig Kilo Vogelfutter bestellt. Der kam hier an ohne eine Sackkarre und konnte das Paket nicht mal heben. Wusste nicht, dass das so schwer sein würde, sagte er. Dann kam er zurück mit einem Kinderwagen. Da greift man sich doch am Kopf, oder? 
Warum? Die Leute haben keine Lust sich anzustellen, darum. Das dauert ihnen alles zu lange. Es ist eine Art Abstimmung mit den Füßen, - mit den Händen, müsste man korrekterweise sagen. Schnell noch ins Internet und dann denken sie, dass Ihnen das auch noch bis oben geliefert wird. Aber das machen die DSL-Fahrer nicht mehr. Ist auch nicht zu schaffen. Wussten Sie, dass die morgens mit hundertachtzig Paketen losgeschickt werden? Hundertachtzig Pakete die sie in zehn Stunden ausliefern müssen! Rechnen Sie mal nach! Das ist drei Minuten pro Paket, vom Wagen bis vor der Haustür, und dann sind sie meistens nicht zuhause. Und dann solche Pakete. Die Fahrer sind ganz schön kaputt, wenn sie hier alles im Laden abgestellt haben. Mit zurück in die Halle nehmen dürfen sie nicht. Dann bekommen sie richtig Ärger. Ich habe einen Freund, der arbeitet als DSL-Fahrer. Der sagt, die Halle ist so überfüllt, da ist kein Durchkommen mehr.‘
An dieser Stelle mischt sich der Freund, der bislang nur zugehört hat, ins Gespräch ein: ‚Ich habe mal was in der Ökonomie gemacht, daher kann ich sagen, die machen alle zusammen den Einzelhandel kaputt. Da rollt demnächst eine Welle von Pleiten auf uns zu. Das ist nicht die Politik. Das machen die Leute selber. Zu faul ihren Arsch zu bewegen und dann wundern sie sich irgendwann, dass es keine Geschäfte mehr gibt.‘ Der Kiosk-Inhaber nickt zustimmend. ‚Und dann sind nur noch wir übrig. Das hätten die wohl gerne.‘ Wir reden noch ein bisschen über die allgemeine Malaise, wie langsam alles vorankommt. ‚Wie Treibsand ist das‘, observiert der Freund. Nicken. Dann gehe ich wieder heim.
 
 


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Samstag, der 2. Mai – Der Nachschub

5/4/2020

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Gemüsebauer aus dem Berliner Umland (82). Ort: Wochenmarkt
 
Sie haben heute einen kleinen Stand?
‚Ja. Das kommt, ich empfange keinen Nachschub mehr. Es gibt nichts. Meine eigenen Tomaten, die dauern noch bis Ende Mai. Mindestens. Es ist zu kalt gewesen. Jetzt verkaufe ich was noch da ist (er weist auf die Auslage). Da. Es gibt noch ein paar Kartoffeln und rote Beeten vom letzten Jahr. Die können Sie haben. Und Rhabarber natürlich, der ist schon gekommen.‘ Ich schaue in der angegebenen Richtung. Richtig. Was fehlt sind die Frühlingszwiebeln, die Kräuter und jungen Salate aus Italien, die er sonst immer um diese Zeit im Angebot hat. Auch die kleinen grünen und weißen Blumenkohlen fehlen. Als ich nicke hebt er erst richtig an: 
‚Was fehlt sind meine Tomaten. Ich habe nur Harzfeuer wie Sie wissen, die sind aber jedes Jahr spät ran. Juni – Juli, dann geht’s erst richtig los. Haben Sie einen Garten? (...) Ah. Und machen Sie auch Tomaten? Ich sage Ihnen. Man muss ihnen die Spitze nehmen, richtig kürzen. Das zwingt die unteren Triebe auszulaufen. Dann haben Sie die Tomaten unten. Wenn die Pflanze dann noch einmal in der Mitte ausläuft, dann sollen Sie den Trieb stehen lassen. Verstehen Sie das? Stehen lassen! Dann klettern die Früchte im Laufe des Sommers nach oben, dann hat man erst richtig Ernte. Was haben Sie für Boden? (...) Das reicht nicht. Pferdeäpfel, mindestens! Mineralerde brauchen Sie noch dazu. Man müsste auch Frühblüher haben. Haben Sie Frühblüher? Ich habe die nicht. Mit Frühblühern hätte man in diesem Monat schon eine Ernte. Die drüben (er weist auf die Spargelstände gegenüber), die haben ihre Ernte schon. Die müssen jetzt sogar schon losschlagen. Aber Harzfeuer. Wir kriegen noch mal Bodenfrost, wissen Sie das? Es wird nochmal richtig kalt.‘ 
Ich kaufe ihm den Rhabarber, die rote Bete, die Petersilie und noch ein paar Wurzeln ab, halt alles was da ist. Gesamtsumme: sechs Euro. Als ich mich anschließend verabschieden will, kommt er hinter seinem Stand hervor, ein kleiner Mann mit krummen Gliedmaßen vom vielen Feldarbeit, und läuft mir über den Markt hinterher. Die Leute bleiben stehen und drehen sich nach uns um. Er aber sieht nichts mehr. Es muss ihm noch etwas vom Herzen: ‚Wenn Frost kommt, müssen Sie Kerzen im Tomatenzelt brennen lassen. Solche dicke Kirchenkerzen, die sind gar nicht so teuer. Abends anzünden und die ganze Nacht brennen lassen. Der Frost kommt von oben, verstehen Sie? So bleibt es am Boden gerade über null. Das reicht. Sonst kann man alles wegwerfen.‘ Er macht mit der Hand eine wegwerfende Bewegung, in der all seine Verzweiflung beschlossen liegt.  Und ich weiß: da droht jemand unter die Räder der Krise zu kommen.
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​Donnerstag, der 30. April – Was haben die davon, wenn wir alle Pleite machen?

4/30/2020

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Inhaberin eines Perlen-Geschäfts (50). Ort: Uhlandstraße
 
Als ich auf dem Weg zum Supermarkt einen Blick in die Perlen-Auslage werfe, winkt sie. ‚Hallo, komme doch mal rein, hier ist ja sonst niemand.‘ Der Laden ist leer. Die Perlen glänzen in ihren Fächern. Auf dem Tisch stehen Erdbeeren. Auch Perlen? ‚Nein echte‘, sagt sie, ‚probiere mal eine.‘ Wir setzen uns jede ans andere Ende des langen Tisches. Den Mundschutz hält sie zur Hand, falls notwendig. Da sitzt eine Ethnologin, die aus ihrem Wissen über Perlen ein Geschäft gemacht hat und wegen ihrer Herzlichkeit allgemein beliebt ist. Ihre Kunden kommen aus der Nachbarschaft und weit darüber hinaus. Nebenbei noch alleinerziehende Mutter mit einem großen Sohn. Hat sich durch alles durchgeboxt und ist zum Fixstern der Nachbarschaft aufgestiegen.
‚Wie es mir geht? Ich sage mal so, ich habe meine Wohnung besser kennengelernt. Das hat mir sehr gefallen. Noch eine Woche länger und ich hätte auch noch die Fenster geputzt. Sonst bin ich immer neun bis zehn Stunden hier im Laden zugange. So war es mir auch mal recht. Aber seit wieder geöffnet wurde ... niemand will jetzt Perlen kaufen, basteln, sich schön machen. Die erste Woche war schon sehr mäßig. Dann kam nach Einführung der Maskenpflicht noch ein weiterer Dip hinzu. Morgen ist der erste Mai, da ist der Laden sonst brechend voll. Dann wollen die alle noch schnell etwas Besonderes basteln, ein Kettchen hier, ein Kettchen dort, etwas für die Ohren, - will wohl niemand jetzt. Sitzen alle zuhause. 
Ich war gleich dabei, als man Unterstützung für Gewerbetreibende beantragen konnte. Hatte mich vorher erkundigt, wie so ein Formular aussieht und auch gleich einen Slot beantragt. Man bekam ja nur eine halbe Stunde Zeit, um das Formular im Internet auszufüllen. Als es dann so weit war, konnte ich meine Notizen nicht mehr finden, hatte sie aus lauter Aufregung verlegt. Aber es ging dann doch und nach drei Tage war das Geld auf dem Konto. Das hat erst mal Erleichterung gebracht. Bis Ende Mai. Was dann wird, weiß ich nicht. Muss man dann sehen.
Niemand will diesen Mundschutz tragen, natürlich nicht, ist auch ‚ne Scheiße, aber das ist nicht das Wichtigste.  Wichtig ist, - Ich weiß nicht ob die (die Politik, Verf.) das alles so richtig machen. Was haben die davon, wenn wir alle Pleite machen? Hier, der ganzen Uhlandstraße entlang, lauter kleine Geschäfte. Wenn die Leute nicht mehr einkaufen gehen und nur noch im Internet bestellen? Ich bin jetzt dabei, einen Internetpräsenz vorzubereiten, klar mache ich das. Aber der Laden lebt davon, dass die Leute hierherkommen und sich die Perlen zusammensuchen. Dann setzen sie sich an den Tisch und fädeln selber auf. Diese Nachbarschaft, die da entstanden ist, die kommt uns in dem ganzen Durcheinander noch abhanden.‘
Erst nachdem ich mich verabschiedet habe, geht mir die volle Tragweite ihrer Worte auf. Bis Ende Mai also? Ein unerträglicher Gedanke.



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Mittwoch, der 29. April – Wieder klein anfangen

4/30/2020

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Tischler (72). Ort: Seitenstraße der Uhlandstraße
 
Er steht wie eh und je auf dem Gehsteig und streicht einen Möbelteil an. Gegen die Häuserwand stehen seine Möbel gelehnt: Spiegelrahmen, Flurtische, Biedermeierstühle und Fußschemel. Manchmal hält jemand inne, um sie zu begutachten und den Preis zu erfragen. Ein Gesprächsfaden ist dann meistens schnell gefunden. Viele haben zuhause noch einen Mahagonischrank, oder einen Empiretisch der dringend der Überarbeitung bedarf, informieren ob er mal vorbeischauen kann und schon ist er im Geschäft. Heute freut er sich, dass ich anhalte um zu fragen wie es ihm geht. 
Er war gestern zum ersten Mal wieder im Supermarkt einkaufen und hatte sich darüber gewundert, wie diszipliniert die meisten Leute sich dann doch verhielten. Hatte einem Gespräch zwischen zwei Verkäuferinnen gelauscht, wie sie darüber klagten den ganzen Tag Mund und Nase bedecken zu müssen, wie erstickend das für sie sei, und hatte Mitleid empfunden. Ihm selber geht es gut. Er fühle sich durch die Verordnungen zum ersten Mal seit langer Zeit ganz entschleunigt. In den Wochen des Lockdowns waren neue Aufträge zwar weitgehend ausgeblieben. Dafür hatte er die alten, die noch aus dem letzten Jahr kamen, abarbeiten können. Das fühlt sich gut an, damit könne er erst einmal leben. Aber ob sich das Geschäft auf Dauer damit erhalten lässt, daran hat er so seine Zweifel.
‚Man merkt, dass die Leute kein Geld mehr ausgeben wollen. Sie sind zögerlich geworden. Obwohl es hier in der Gegend weiß Gott Geld genug gibt. Warum? Weil man nicht weiß wie es weiter geht. Wie soll es auch weiter gehen? Hat man die erste Welle einmal weg, wird das Virus hinten rum wieder reinkommen. Das weiß man doch. Das kann man sich doch an den Fingern ausrechnen. So sitzen sie alle auf ihrem Geld und warten erst einmal ab.‘ 
Was ihn ärgert ist das Gerede vom ‚Recht auf Ferien, oder wie die das nennen. Mein Gott, dann mal ein Jahr nicht an die Ostsee. Das ist aber für die meisten zu schwierig. Das ist unsere Ich-Gesellschaft, die sich unbedingt verwirklichen will. Erst ich und davon immer mehr. Dann lange Zeit nichts.‘ So etwas bekommt er mit den Einrichtungswünschen immer hautnah mit. Das kann aber auf Dauer nicht gut gehen. Auch deswegen empfindet er die Krise als Chance. ‚Wir müssen erst mal ganz demütig werden. Man könnte sich darüber freuen, dass die Bäume grünen und man ein Spaziergang machen kann.‘ Wieder klein anfangen nennt er das. Für sich hat er das Ziel abgesteckt, später im Jahr vielleicht mit dem Fahrrad nach Brandenburg rausfahren zu können. Aber dafür müssten erst die Gastwirtschaften wieder geöffnet sein. 
Drinnen klingelt es. ‚Kunde droht mit Auftrag!‘ ruft er erfreut und geht eilig davon.
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Dienstag, der 28. April – Bis Weihnachten

4/30/2020

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Inhaber eines Lakritz-Geschäfts (56). Ort: Uhlandstraße
 
Als er die Türklingel hört kommt er aus dem hinteren Zimmer nach vorne, ruft, ‚warten Sie ein Moment‘, sucht unter der Theke und setzt umständlich eine Apothekenmaske auf. Ein großer gemütlicher Mann mit einer norddeutschen Mundart. ‚Ich hörte eben im Radio, dass es morgen auch in Berlin gesetzlich ist, so dachte ich, da übst du schon mal ein bisschen. Hallo. Was wird es denn sein? Nein, nein, rühren Sie nichts an, ich bediene jetzt selbst.‘ 
Er hat seine grüne Schürze vorgebunden und geht mit seinem Schaufelchen an den Gläsern entlang. Weist mich darauf hin was es an Neuem im Assortiment gibt, empfiehlt ‚die Griotten sind vorzüglich, wollen Sie eine probieren?‘ und beginnt von allem etwas in ein Zellophan Tütchen zu löffeln. ‚Hätte ich auch nicht gedacht, dass ich so noch mal im Laden stehen würde (weist mit der Schaufel ins Gesicht), aber ich denke, die Chinesen haben’s auch gemacht. Ich meine, die taten es einfach. Wenn die das können, dann können wir es auch. Hauptsache, wir kriegen es hinter uns.‘
Wie läuft das Geschäft? 
Ach, ich kann nicht klagen. Es geht mir manchmal ein bisschen zu langsam zu, mit nur einem Kunden zugleich im Laden, wissen Sie. Auf der anderen Seite, die Leute bestellen jetzt auch. Das ist für mich interessant. Ist natürlich viel Arbeit, die Ware muss verpackt und zur Post gebracht werden, umständlich alles, aber es wird doch richtig viel bestellt. Nicht so ein Schiet Tütchen, Pardon! wie dieses hier. Es kostet auch 4.50 Euro extra  wenn man es mit der Post verschickt. So ein bisschen würde sich dann nicht lohnen. Ein Kilo verpacke ich jedes Mal locker. Die sitzen zuhause auf dem Sofa und bestellen dies noch und das noch, da kommt etwas zusammen. Die Leute können nicht auf ihre Lakritze verzichten. Die gehören halt dazu. Jetzt erst recht.
Was meinen Sie wie lange es dauern wird?
Sie meinen, diesen Zustand? Ich rechne bis Weihnachten. Das habe ich mir so zurechtgelegt. So kann ich mich darauf einstellen. Man hört die Leute im Radio allerlei reden. Die sagen dann, Jahre, wir müssen uns auf Jahre umstellen. Das glaub‘ ich aber nicht. Das kann ich auch nicht. Bis Weihnachten sage ich, und danach ist wieder eine andere Zeit. Wenn wir Glück haben! Viel länger können wir auch nicht mit diesen Dingern vorm Gesicht, glaub‘ ich. 

Während dem Abrechnen hält er einen Moment lang inne und schaut mich nachdenklich an. ‚Es laufen hier viele mit einer Infektion rum, ohne es zu wissen. Meinen Sie nicht auch?‘ In mir keimt eine Ahnung, in welches Dilemma dieser Mann sich täglich begibt. Jeder Kunde ist ihm willkommen aber auch eine potentielle Bedrohung. Damit muss er leben. ‚So. lassen Sie jetzt mal die nächste Kundin rein. Sonst wartet die zulange.‘
 

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Montag, der 27. April – Das ganz große Geschäft

4/27/2020

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China-Importeur (44). Ort: Uhlandstraße auf der Kreuzung
 
He hallo! Wie geht’s?
Fantastisch! Wir sind dran mit Schutzkleidung, aber auch Masken. Die werden momentan überall händeringend nachgefragt. Es ist das ganz große Geschäft. Aber man muss die Ware erstmal hierherkriegen. Wie soll man das machen? Bestellen können wir und die Chinesen wollen auch liefern. Die kommen aber nicht mehr hierher und wir dürfen nicht nach China einreisen. Kann man jetzt vergessen. Und wenn wir wieder reisen können, dann ist man erst dort für vierzehn Tage in Quarantäne und bei Einreise hier noch einmal. Es ist der Wahnsinn! 
Mit unseren chinesischen Geschäftspartnern gibt‘s jetzt mehrfach wöchentlich Telefonkonferenzen. Wir haben sehr gute Ware bestellen können. Also, unsere Masken, solche hat man hier noch nicht gesehen. Die werden aus einer ganz feinen Mikrofaser gefertigt, mit in der Mitte einem elektrischen Feld, das alle Viren anzieht. Da geht nichts mehr durch. Klasse Ware! Die werden jetzt gebraucht. Überall! Überlege mal, wenn auch die Schulen Maskenpflicht bekommen, nicht auszudenken.
Das ist jetzt echt ranklotzen. Das Problem ist das Geld. Wir sind mit Bestellungen von bis zu 150 Mio. Euro konfrontiert, darunter geht nichts. Soviel schütteln wir auch nicht mal eben aus dem Ärmel. Dafür brauchen wir einen guten Geldgeber, der mit einsteigen will. Haben wir auch, aber der nimmt uns 80 Prozent des Gewinns ab (lacht). Das macht aber nichts, irgendwo muss man anfangen. Beim dritten Mal legen wir das selber hin. Wir haben die Zeit vor uns.
Bis nächstes Jahr Sommer? Wo denkst du hin! Bis diese Gesellschaft wieder im Lot ist, da sind wir schon längst tot. Also, was wir China-Importeure sehen kommen ist eine Gesellschaft, in der Maskenpflicht für lange Zeit zur Normalität gehören wird. Dass wir das alles irgendwann als normal empfinden. Überlege mal, sowie wir jetzt hier stehen: Du trägst eine Maske, die mich schützt, ich trage eine Maske, die dich schützt und zusammen bilden wir eine Solidargemeinschaft. Hauptsache, die Maske ist gut. Aber weißt du, manche wollen auch das nicht. Die muss man zu ihrem Glück zwingen. Du wirst sehen, so wird man die Leute noch mal von einer ganz anderen Seite kennenlernen.  Sogar im eigenen Freundeskreis. Überraschungen gibt’s!
 


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Sonntag, der 26. April – Das alte Mädchen

4/26/2020

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Lehrerin in Ruhestand (77). Ort: Hohenzollerndamm in der Nähe der Autobahn
 
Ich sehe sie, wie sie vorsichtig den Damm überquert - leichter plissierter Sommerrock, hochgeschlossene Bluse, weiße Sandalen – und dabei einen altmodischen Kinderwagen vor sich herschiebt. Als wir uns passieren, erblicke ich darin einen alten Pudel, der mit seiner graubraunen Schnauze gerade aus der Decke hervorlugt. Zwei kleine, weiß verschleierten Augen gucken blind in die Welt. Sie fängt meinen Blick auf und nickt mir ermunternd zu.
Ich: Genießt er das? So herumgefahren zu werden? 
Sie: ‚Sie. Genießt sie es. Es ist ein altes Mädchen, schon siebzehn Jahre alt ist sie. Da wird man steif auf den Beinen (lacht). Ich wohne drüben am Ku’damm, wo Hildegard Knef gewohnt hat, wissen Sie? Und ich fahre sie jeden Tag hierher, damit sie spazieren gehen kann. Dahinten (weist Richtung Friedhof), da tut sie dann ein paar Schritte. Aber soweit hierher kann sie nicht mehr laufen.
Ich: Aber Sie. 
Sie: ‚Ja ich, ich laufe viele Kilometer am Tag. Ich sage immer, das alte Mädchen hält mich jung. Ich komme aus Thüringen, müssen Sie wissen, aus Smöln. Ich bin eine Thüringerin. Da lagen die Russen nach dem Krieg. Meine Mutter hat uns immer im Kohlenverschlag versteckt. Ich war noch ein Kind, aber meine Schwester, die war sieben Jahre älter als ich. Immer in den Kohlenverschlag! Die von der Kommandantur, das waren die Schlimmsten. Die kamen nachts über die Zäune. Schrecklich waren die! Aber es gab auch Frauen, die haben da mitgemacht. Die hatten es dadurch leichter. Geschenke bekamen sie, und Kinder natürlich. Ich sage mal, der Russe war nicht immer schlecht. Deswegen. Die Russen hier im Viertel und auch die Ausländer, die kann ich gut um mich haben. Was sind Sie für Sternbild?‘
Ich: Ich bin Krebs. 
Sie: ‚Ah ja. Ich bin Skorpion, die vertragen sich gut mit Krebsen. Mein bester Freund war einer. Nein. Das geht immer gut zusammen. Und wo sind Sie her, wenn ich fragen darf? (...) Ah ja, das hört man. Und wie alt sind Sie? (...) Das ist aber noch jung! Mein Freund, müssen Sie wissen, mit dem habe ich immer im Sandkasten gespielt (bei ‚Sandkasten‘ leuchtet ihr Gesicht mädchenhaft auf). Der war an der Bornstädter Straße, da wo die Russen immer durchkamen. Dann haben wir geguckt. Später hat er mich erzählt, dass er also ein Kind von denen war. Sein Vater war russischer Offizier. Der hat ihm aber auf Hände getragen. Muss man akzeptieren, ist halt auch eine Realität.‘ 
Ich: Und? Sind Sie bislang gut durch die Krise gekommen? 
Sie: ‚Sie meinen: Das hier? (macht ein Handgebärde Richtung Stadt). Ach wo. All diese Aufregung. Da haben wir schon Schlimmeres erlebt. Ich sage zu meinem Mann, wir sehen einfach was kommt. Ich habe natürlich so ein Ding (fischt einen Mundschutz aus der Tasche). Das muss sein. Aber, nun ja. Soll man sich mal nicht zu sehr aufregen, deswegen. Das geht wieder vorbei.‘ 


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Samstag, der 25. April – Auf der Straße

4/25/2020

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Beruf: Bauingenieur (70). Ort: Seitenstraße vom Kurfürstendamm
 
Er sitzt mit gekreuzten Beinen auf einer rechteckigen Schaumstoffunterlage, einem kleineren Stück Schaumstoff im Rücken und einer karierten Wolldecke über die Knie ausgebreitet. Die Turnschuhe stehen neben der Matte. Er folgt meinem Blick und sagt, ‚sonst tun mir die Füße weh.‘ Ein gut gepflegter Mann mit einer Wollmütze auf dem Kopf und einer zweiten vor sich auf dem Pflaster. Ich lege eine Gabe in die Mütze. Er schaut mich aus nüchternen grauen Augen an. 
Ob ihm nicht zu kalt ist? Nein, sagt er, so ist es gut. Solange ich meine innere Ruhe bewahre, kann ich, wenn nötig, hier auch den ganzen Tag sitzen bleiben. Ich brauche halt das Geld, am besten 20€ am Tag dazu, dann komme ich gerade so über die Runden. Er erzählt, dass er bis Anfang der Krise noch Flyer auf dem Kurfürstendamm verteilte, 8€ die Stunde, da war er meist in ein paar Stunden fertig. Seine Rente war zu gering, um davon leben zu können. So hat er allerlei dazu gejobbt, zum Schluss bei Subunternehmern und eben diesem Flyer-Job. Dann lag nach dem 18. März auf einmal alles flach. Nichts mehr zu kriegen. Da ist er auf die Straße gegangen. Bauingenieur hat er früher gelernt, war immer auf Montage, die Auslandmontage brachte am meisten Geld ein, aber dann hat er irgendwann mal eine Frau kennengelernt und dann war mit dem Ausland Schluss (lacht). ‚Man sagt, jede zehn Jahre fängt eine neue Zeit an. So war das immer mit mir. Jetzt haben wir wieder eine neue Zeit.‘
Wo er schläft? ‚Ich habe meine Wohnung aufgeben müssen. Dafür reicht im Augenblick das Geld nicht. Jetzt schlafe ich hier um die Ecke (weist auf dem Marmor-Eingang eines Bekleidungsgeschäfts), dort ist es sauber und relativ ruhig. Es geht. Haben Sie gesehen wie es dort drüben zugeht? (er weist Richtung Savignyplatz). Die setzen dort alle Nadel, ein Zustand ist es da, das oder die Flasche. Da kann ich nicht dazwischen. In einem Obdachlosenheim war ich auch einmal. Ein Lärm! Nie wieder. Dann lieber hier. Die Leute geben zwar nicht viel, man merkt, dass Andere auch Geldsorgen haben, aber es kommt jeden Tag doch etwas zusammen.‘ 
Was ist mit der Zukunft? Er meint, dass er erst einmal so durch den Sommer kommen will, dann sieht er weiter. ‚Man kann zum Senat, einen Wohnungszuschuss beantragen. Dafür muss man aber erst eine Wohnung haben. Da beißt die Katze sich in den Schwanz.‘  Dass es alles seine Zeit dauern wird, ja, das muss man akzeptieren. Sagt noch einmal, ‚aber solange ich meine innere Ruhe habe wird es gehen.‘ Er schaut mich aus seinen nüchternen grauen Augen an. Hat alles rational durchgedacht und bislang ist es auch gegangen. Wir nicken uns freundlich zum Abschied zu.


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    Die Autorin wohnt in Berlin-Wilmersdorf

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    May 2020
    April 2020

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