DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
​Eine Ethnographie Berlins in der Corona-Krise
​
II. Ein Kiez geht durch die Krise

Abgeschlossen

Von 25. April bis 16. Mai

​Donnerstag, der 30. April – Was haben die davon, wenn wir alle Pleite machen?

4/30/2020

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Inhaberin eines Perlen-Geschäfts (50). Ort: Uhlandstraße
 
Als ich auf dem Weg zum Supermarkt einen Blick in die Perlen-Auslage werfe, winkt sie. ‚Hallo, komme doch mal rein, hier ist ja sonst niemand.‘ Der Laden ist leer. Die Perlen glänzen in ihren Fächern. Auf dem Tisch stehen Erdbeeren. Auch Perlen? ‚Nein echte‘, sagt sie, ‚probiere mal eine.‘ Wir setzen uns jede ans andere Ende des langen Tisches. Den Mundschutz hält sie zur Hand, falls notwendig. Da sitzt eine Ethnologin, die aus ihrem Wissen über Perlen ein Geschäft gemacht hat und wegen ihrer Herzlichkeit allgemein beliebt ist. Ihre Kunden kommen aus der Nachbarschaft und weit darüber hinaus. Nebenbei noch alleinerziehende Mutter mit einem großen Sohn. Hat sich durch alles durchgeboxt und ist zum Fixstern der Nachbarschaft aufgestiegen.
‚Wie es mir geht? Ich sage mal so, ich habe meine Wohnung besser kennengelernt. Das hat mir sehr gefallen. Noch eine Woche länger und ich hätte auch noch die Fenster geputzt. Sonst bin ich immer neun bis zehn Stunden hier im Laden zugange. So war es mir auch mal recht. Aber seit wieder geöffnet wurde ... niemand will jetzt Perlen kaufen, basteln, sich schön machen. Die erste Woche war schon sehr mäßig. Dann kam nach Einführung der Maskenpflicht noch ein weiterer Dip hinzu. Morgen ist der erste Mai, da ist der Laden sonst brechend voll. Dann wollen die alle noch schnell etwas Besonderes basteln, ein Kettchen hier, ein Kettchen dort, etwas für die Ohren, - will wohl niemand jetzt. Sitzen alle zuhause. 
Ich war gleich dabei, als man Unterstützung für Gewerbetreibende beantragen konnte. Hatte mich vorher erkundigt, wie so ein Formular aussieht und auch gleich einen Slot beantragt. Man bekam ja nur eine halbe Stunde Zeit, um das Formular im Internet auszufüllen. Als es dann so weit war, konnte ich meine Notizen nicht mehr finden, hatte sie aus lauter Aufregung verlegt. Aber es ging dann doch und nach drei Tage war das Geld auf dem Konto. Das hat erst mal Erleichterung gebracht. Bis Ende Mai. Was dann wird, weiß ich nicht. Muss man dann sehen.
Niemand will diesen Mundschutz tragen, natürlich nicht, ist auch ‚ne Scheiße, aber das ist nicht das Wichtigste.  Wichtig ist, - Ich weiß nicht ob die (die Politik, Verf.) das alles so richtig machen. Was haben die davon, wenn wir alle Pleite machen? Hier, der ganzen Uhlandstraße entlang, lauter kleine Geschäfte. Wenn die Leute nicht mehr einkaufen gehen und nur noch im Internet bestellen? Ich bin jetzt dabei, einen Internetpräsenz vorzubereiten, klar mache ich das. Aber der Laden lebt davon, dass die Leute hierherkommen und sich die Perlen zusammensuchen. Dann setzen sie sich an den Tisch und fädeln selber auf. Diese Nachbarschaft, die da entstanden ist, die kommt uns in dem ganzen Durcheinander noch abhanden.‘
Erst nachdem ich mich verabschiedet habe, geht mir die volle Tragweite ihrer Worte auf. Bis Ende Mai also? Ein unerträglicher Gedanke.



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Mittwoch, der 29. April – Wieder klein anfangen

4/30/2020

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Tischler (72). Ort: Seitenstraße der Uhlandstraße
 
Er steht wie eh und je auf dem Gehsteig und streicht einen Möbelteil an. Gegen die Häuserwand stehen seine Möbel gelehnt: Spiegelrahmen, Flurtische, Biedermeierstühle und Fußschemel. Manchmal hält jemand inne, um sie zu begutachten und den Preis zu erfragen. Ein Gesprächsfaden ist dann meistens schnell gefunden. Viele haben zuhause noch einen Mahagonischrank, oder einen Empiretisch der dringend der Überarbeitung bedarf, informieren ob er mal vorbeischauen kann und schon ist er im Geschäft. Heute freut er sich, dass ich anhalte um zu fragen wie es ihm geht. 
Er war gestern zum ersten Mal wieder im Supermarkt einkaufen und hatte sich darüber gewundert, wie diszipliniert die meisten Leute sich dann doch verhielten. Hatte einem Gespräch zwischen zwei Verkäuferinnen gelauscht, wie sie darüber klagten den ganzen Tag Mund und Nase bedecken zu müssen, wie erstickend das für sie sei, und hatte Mitleid empfunden. Ihm selber geht es gut. Er fühle sich durch die Verordnungen zum ersten Mal seit langer Zeit ganz entschleunigt. In den Wochen des Lockdowns waren neue Aufträge zwar weitgehend ausgeblieben. Dafür hatte er die alten, die noch aus dem letzten Jahr kamen, abarbeiten können. Das fühlt sich gut an, damit könne er erst einmal leben. Aber ob sich das Geschäft auf Dauer damit erhalten lässt, daran hat er so seine Zweifel.
‚Man merkt, dass die Leute kein Geld mehr ausgeben wollen. Sie sind zögerlich geworden. Obwohl es hier in der Gegend weiß Gott Geld genug gibt. Warum? Weil man nicht weiß wie es weiter geht. Wie soll es auch weiter gehen? Hat man die erste Welle einmal weg, wird das Virus hinten rum wieder reinkommen. Das weiß man doch. Das kann man sich doch an den Fingern ausrechnen. So sitzen sie alle auf ihrem Geld und warten erst einmal ab.‘ 
Was ihn ärgert ist das Gerede vom ‚Recht auf Ferien, oder wie die das nennen. Mein Gott, dann mal ein Jahr nicht an die Ostsee. Das ist aber für die meisten zu schwierig. Das ist unsere Ich-Gesellschaft, die sich unbedingt verwirklichen will. Erst ich und davon immer mehr. Dann lange Zeit nichts.‘ So etwas bekommt er mit den Einrichtungswünschen immer hautnah mit. Das kann aber auf Dauer nicht gut gehen. Auch deswegen empfindet er die Krise als Chance. ‚Wir müssen erst mal ganz demütig werden. Man könnte sich darüber freuen, dass die Bäume grünen und man ein Spaziergang machen kann.‘ Wieder klein anfangen nennt er das. Für sich hat er das Ziel abgesteckt, später im Jahr vielleicht mit dem Fahrrad nach Brandenburg rausfahren zu können. Aber dafür müssten erst die Gastwirtschaften wieder geöffnet sein. 
Drinnen klingelt es. ‚Kunde droht mit Auftrag!‘ ruft er erfreut und geht eilig davon.
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Dienstag, der 28. April – Bis Weihnachten

4/30/2020

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Inhaber eines Lakritz-Geschäfts (56). Ort: Uhlandstraße
 
Als er die Türklingel hört kommt er aus dem hinteren Zimmer nach vorne, ruft, ‚warten Sie ein Moment‘, sucht unter der Theke und setzt umständlich eine Apothekenmaske auf. Ein großer gemütlicher Mann mit einer norddeutschen Mundart. ‚Ich hörte eben im Radio, dass es morgen auch in Berlin gesetzlich ist, so dachte ich, da übst du schon mal ein bisschen. Hallo. Was wird es denn sein? Nein, nein, rühren Sie nichts an, ich bediene jetzt selbst.‘ 
Er hat seine grüne Schürze vorgebunden und geht mit seinem Schaufelchen an den Gläsern entlang. Weist mich darauf hin was es an Neuem im Assortiment gibt, empfiehlt ‚die Griotten sind vorzüglich, wollen Sie eine probieren?‘ und beginnt von allem etwas in ein Zellophan Tütchen zu löffeln. ‚Hätte ich auch nicht gedacht, dass ich so noch mal im Laden stehen würde (weist mit der Schaufel ins Gesicht), aber ich denke, die Chinesen haben’s auch gemacht. Ich meine, die taten es einfach. Wenn die das können, dann können wir es auch. Hauptsache, wir kriegen es hinter uns.‘
Wie läuft das Geschäft? 
Ach, ich kann nicht klagen. Es geht mir manchmal ein bisschen zu langsam zu, mit nur einem Kunden zugleich im Laden, wissen Sie. Auf der anderen Seite, die Leute bestellen jetzt auch. Das ist für mich interessant. Ist natürlich viel Arbeit, die Ware muss verpackt und zur Post gebracht werden, umständlich alles, aber es wird doch richtig viel bestellt. Nicht so ein Schiet Tütchen, Pardon! wie dieses hier. Es kostet auch 4.50 Euro extra  wenn man es mit der Post verschickt. So ein bisschen würde sich dann nicht lohnen. Ein Kilo verpacke ich jedes Mal locker. Die sitzen zuhause auf dem Sofa und bestellen dies noch und das noch, da kommt etwas zusammen. Die Leute können nicht auf ihre Lakritze verzichten. Die gehören halt dazu. Jetzt erst recht.
Was meinen Sie wie lange es dauern wird?
Sie meinen, diesen Zustand? Ich rechne bis Weihnachten. Das habe ich mir so zurechtgelegt. So kann ich mich darauf einstellen. Man hört die Leute im Radio allerlei reden. Die sagen dann, Jahre, wir müssen uns auf Jahre umstellen. Das glaub‘ ich aber nicht. Das kann ich auch nicht. Bis Weihnachten sage ich, und danach ist wieder eine andere Zeit. Wenn wir Glück haben! Viel länger können wir auch nicht mit diesen Dingern vorm Gesicht, glaub‘ ich. 

Während dem Abrechnen hält er einen Moment lang inne und schaut mich nachdenklich an. ‚Es laufen hier viele mit einer Infektion rum, ohne es zu wissen. Meinen Sie nicht auch?‘ In mir keimt eine Ahnung, in welches Dilemma dieser Mann sich täglich begibt. Jeder Kunde ist ihm willkommen aber auch eine potentielle Bedrohung. Damit muss er leben. ‚So. lassen Sie jetzt mal die nächste Kundin rein. Sonst wartet die zulange.‘
 

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Montag, der 27. April – Das ganz große Geschäft

4/27/2020

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China-Importeur (44). Ort: Uhlandstraße auf der Kreuzung
 
He hallo! Wie geht’s?
Fantastisch! Wir sind dran mit Schutzkleidung, aber auch Masken. Die werden momentan überall händeringend nachgefragt. Es ist das ganz große Geschäft. Aber man muss die Ware erstmal hierherkriegen. Wie soll man das machen? Bestellen können wir und die Chinesen wollen auch liefern. Die kommen aber nicht mehr hierher und wir dürfen nicht nach China einreisen. Kann man jetzt vergessen. Und wenn wir wieder reisen können, dann ist man erst dort für vierzehn Tage in Quarantäne und bei Einreise hier noch einmal. Es ist der Wahnsinn! 
Mit unseren chinesischen Geschäftspartnern gibt‘s jetzt mehrfach wöchentlich Telefonkonferenzen. Wir haben sehr gute Ware bestellen können. Also, unsere Masken, solche hat man hier noch nicht gesehen. Die werden aus einer ganz feinen Mikrofaser gefertigt, mit in der Mitte einem elektrischen Feld, das alle Viren anzieht. Da geht nichts mehr durch. Klasse Ware! Die werden jetzt gebraucht. Überall! Überlege mal, wenn auch die Schulen Maskenpflicht bekommen, nicht auszudenken.
Das ist jetzt echt ranklotzen. Das Problem ist das Geld. Wir sind mit Bestellungen von bis zu 150 Mio. Euro konfrontiert, darunter geht nichts. Soviel schütteln wir auch nicht mal eben aus dem Ärmel. Dafür brauchen wir einen guten Geldgeber, der mit einsteigen will. Haben wir auch, aber der nimmt uns 80 Prozent des Gewinns ab (lacht). Das macht aber nichts, irgendwo muss man anfangen. Beim dritten Mal legen wir das selber hin. Wir haben die Zeit vor uns.
Bis nächstes Jahr Sommer? Wo denkst du hin! Bis diese Gesellschaft wieder im Lot ist, da sind wir schon längst tot. Also, was wir China-Importeure sehen kommen ist eine Gesellschaft, in der Maskenpflicht für lange Zeit zur Normalität gehören wird. Dass wir das alles irgendwann als normal empfinden. Überlege mal, sowie wir jetzt hier stehen: Du trägst eine Maske, die mich schützt, ich trage eine Maske, die dich schützt und zusammen bilden wir eine Solidargemeinschaft. Hauptsache, die Maske ist gut. Aber weißt du, manche wollen auch das nicht. Die muss man zu ihrem Glück zwingen. Du wirst sehen, so wird man die Leute noch mal von einer ganz anderen Seite kennenlernen.  Sogar im eigenen Freundeskreis. Überraschungen gibt’s!
 


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Sonntag, der 26. April – Das alte Mädchen

4/26/2020

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Lehrerin in Ruhestand (77). Ort: Hohenzollerndamm in der Nähe der Autobahn
 
Ich sehe sie, wie sie vorsichtig den Damm überquert - leichter plissierter Sommerrock, hochgeschlossene Bluse, weiße Sandalen – und dabei einen altmodischen Kinderwagen vor sich herschiebt. Als wir uns passieren, erblicke ich darin einen alten Pudel, der mit seiner graubraunen Schnauze gerade aus der Decke hervorlugt. Zwei kleine, weiß verschleierten Augen gucken blind in die Welt. Sie fängt meinen Blick auf und nickt mir ermunternd zu.
Ich: Genießt er das? So herumgefahren zu werden? 
Sie: ‚Sie. Genießt sie es. Es ist ein altes Mädchen, schon siebzehn Jahre alt ist sie. Da wird man steif auf den Beinen (lacht). Ich wohne drüben am Ku’damm, wo Hildegard Knef gewohnt hat, wissen Sie? Und ich fahre sie jeden Tag hierher, damit sie spazieren gehen kann. Dahinten (weist Richtung Friedhof), da tut sie dann ein paar Schritte. Aber soweit hierher kann sie nicht mehr laufen.
Ich: Aber Sie. 
Sie: ‚Ja ich, ich laufe viele Kilometer am Tag. Ich sage immer, das alte Mädchen hält mich jung. Ich komme aus Thüringen, müssen Sie wissen, aus Smöln. Ich bin eine Thüringerin. Da lagen die Russen nach dem Krieg. Meine Mutter hat uns immer im Kohlenverschlag versteckt. Ich war noch ein Kind, aber meine Schwester, die war sieben Jahre älter als ich. Immer in den Kohlenverschlag! Die von der Kommandantur, das waren die Schlimmsten. Die kamen nachts über die Zäune. Schrecklich waren die! Aber es gab auch Frauen, die haben da mitgemacht. Die hatten es dadurch leichter. Geschenke bekamen sie, und Kinder natürlich. Ich sage mal, der Russe war nicht immer schlecht. Deswegen. Die Russen hier im Viertel und auch die Ausländer, die kann ich gut um mich haben. Was sind Sie für Sternbild?‘
Ich: Ich bin Krebs. 
Sie: ‚Ah ja. Ich bin Skorpion, die vertragen sich gut mit Krebsen. Mein bester Freund war einer. Nein. Das geht immer gut zusammen. Und wo sind Sie her, wenn ich fragen darf? (...) Ah ja, das hört man. Und wie alt sind Sie? (...) Das ist aber noch jung! Mein Freund, müssen Sie wissen, mit dem habe ich immer im Sandkasten gespielt (bei ‚Sandkasten‘ leuchtet ihr Gesicht mädchenhaft auf). Der war an der Bornstädter Straße, da wo die Russen immer durchkamen. Dann haben wir geguckt. Später hat er mich erzählt, dass er also ein Kind von denen war. Sein Vater war russischer Offizier. Der hat ihm aber auf Hände getragen. Muss man akzeptieren, ist halt auch eine Realität.‘ 
Ich: Und? Sind Sie bislang gut durch die Krise gekommen? 
Sie: ‚Sie meinen: Das hier? (macht ein Handgebärde Richtung Stadt). Ach wo. All diese Aufregung. Da haben wir schon Schlimmeres erlebt. Ich sage zu meinem Mann, wir sehen einfach was kommt. Ich habe natürlich so ein Ding (fischt einen Mundschutz aus der Tasche). Das muss sein. Aber, nun ja. Soll man sich mal nicht zu sehr aufregen, deswegen. Das geht wieder vorbei.‘ 


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Samstag, der 25. April – Auf der Straße

4/25/2020

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Beruf: Bauingenieur (70). Ort: Seitenstraße vom Kurfürstendamm
 
Er sitzt mit gekreuzten Beinen auf einer rechteckigen Schaumstoffunterlage, einem kleineren Stück Schaumstoff im Rücken und einer karierten Wolldecke über die Knie ausgebreitet. Die Turnschuhe stehen neben der Matte. Er folgt meinem Blick und sagt, ‚sonst tun mir die Füße weh.‘ Ein gut gepflegter Mann mit einer Wollmütze auf dem Kopf und einer zweiten vor sich auf dem Pflaster. Ich lege eine Gabe in die Mütze. Er schaut mich aus nüchternen grauen Augen an. 
Ob ihm nicht zu kalt ist? Nein, sagt er, so ist es gut. Solange ich meine innere Ruhe bewahre, kann ich, wenn nötig, hier auch den ganzen Tag sitzen bleiben. Ich brauche halt das Geld, am besten 20€ am Tag dazu, dann komme ich gerade so über die Runden. Er erzählt, dass er bis Anfang der Krise noch Flyer auf dem Kurfürstendamm verteilte, 8€ die Stunde, da war er meist in ein paar Stunden fertig. Seine Rente war zu gering, um davon leben zu können. So hat er allerlei dazu gejobbt, zum Schluss bei Subunternehmern und eben diesem Flyer-Job. Dann lag nach dem 18. März auf einmal alles flach. Nichts mehr zu kriegen. Da ist er auf die Straße gegangen. Bauingenieur hat er früher gelernt, war immer auf Montage, die Auslandmontage brachte am meisten Geld ein, aber dann hat er irgendwann mal eine Frau kennengelernt und dann war mit dem Ausland Schluss (lacht). ‚Man sagt, jede zehn Jahre fängt eine neue Zeit an. So war das immer mit mir. Jetzt haben wir wieder eine neue Zeit.‘
Wo er schläft? ‚Ich habe meine Wohnung aufgeben müssen. Dafür reicht im Augenblick das Geld nicht. Jetzt schlafe ich hier um die Ecke (weist auf dem Marmor-Eingang eines Bekleidungsgeschäfts), dort ist es sauber und relativ ruhig. Es geht. Haben Sie gesehen wie es dort drüben zugeht? (er weist Richtung Savignyplatz). Die setzen dort alle Nadel, ein Zustand ist es da, das oder die Flasche. Da kann ich nicht dazwischen. In einem Obdachlosenheim war ich auch einmal. Ein Lärm! Nie wieder. Dann lieber hier. Die Leute geben zwar nicht viel, man merkt, dass Andere auch Geldsorgen haben, aber es kommt jeden Tag doch etwas zusammen.‘ 
Was ist mit der Zukunft? Er meint, dass er erst einmal so durch den Sommer kommen will, dann sieht er weiter. ‚Man kann zum Senat, einen Wohnungszuschuss beantragen. Dafür muss man aber erst eine Wohnung haben. Da beißt die Katze sich in den Schwanz.‘  Dass es alles seine Zeit dauern wird, ja, das muss man akzeptieren. Sagt noch einmal, ‚aber solange ich meine innere Ruhe habe wird es gehen.‘ Er schaut mich aus seinen nüchternen grauen Augen an. Hat alles rational durchgedacht und bislang ist es auch gegangen. Wir nicken uns freundlich zum Abschied zu.


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    Die Autorin wohnt in Berlin-Wilmersdorf

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    May 2020
    April 2020

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