Die Uhlandstraße, die Hauptgeschäftsstraße von Wilmersdorf, hat eine Länge von 3,1 Kilometer, was in Berlin eher wenig ist. Ihr Wesen nach gleicht sie keine gewachsene städtische Verbindung, welche die Engländer gerne artery nennen. Nichts Rundes oder Welliges tut sich dem Auge hervor. Die Straße gleicht eher dem Rhein-Mainkanal, der mit seinen vielen kurzen Stichgräben die übrigen Kanäle des Viertels senkrecht durchquert und mit ihnen Wechselbeziehungen unterhält. Die Geburt der Uhlandstraße war einen Strich mit dem Bleistift auf dem Millimeterpapier: schnurstracks von Nord nach Süd durch den Hopfenbruch. Der Strich verlief vom städtischen Steinplatz in Charlottenburg bis zum Dorfkern im Flecken Wilmersdorf, wo 1900 noch die Schafe gehütet wurden. Bald wanderten die durchnummerierten Parzellen vom Papier in die Hände der Bauspekulanten, die Bürgerhäuser mit protzigem Marmor und Stuck darauf errichteten. Deren Kunden ging es darum, einen repräsentativen Platz an der Sonne im neuen Westen zu ergattern. In den 1920er Jahren staunte Gabriele Tergit über die vielen rosa-marmoren Springbrunnen in den Eingangshallen der elf-Zimmer Apartments, die Bärenfelle in den Herrenzimmern und das viele, schwerfällige Mobiliar. Die Uhlandstraße war die Straße der Neureichen. Kirchen und andere öffentliche Gebäude wurden hier nicht gebaut, Plätze ohnehin für nicht notwendig erachtet. Das entsprach nicht ihre Sinn und Zweck.
Nach dem zweiten Weltkrieg blieb eine ruinenbestandene Straße mit zahlreichen Baulücken zurück, die lange vor sich hin vegetierten bis sie ab dem 1970er Jahren mit kastenartigen Konstruktionen angefüllt wurden. Es entwickelte sich die bescheidene Infrastruktur mit den vielen kleinen Geschäften, die heute die Uhlandstraße prägen: Kurzwaren, Lakritz, Tee, Schreibwaren, Papier, Blumen, Änderungsschneider, Reinigungen, Wäschereien, Zeitungskioske, Apotheken und Reisebüros. Der erste Italiener Berlins - die Eisdiele Assisi - ließ sich an ihr nieder und gleich um die Ecke auch der allererste Grieche, der Berlin in die Geheimnisse des Ouzos und des griechischen Rundtanzes einweihte. Ihnen folgte im Laufe der Jahre eine wahre Vielfalt von Lokalen und Restaurants aus allen Windrichtungen. Heute sind es Russen, Polen, Tschechen und Franzosen, Spanier, Italiener, Griechen und Armenier, Japaner, Chinesen, Indonesier, Vietnamesen und Thai, Türken, Syrer, Israelis und Libanesen, die das Viertel mit Essen und einem Hauch von Welt versorgen. Dennoch hat die Uhlandstraße kaum Flair, nichts von der Eleganz des Kurfürstendamms, den sie im oberen Viertel kreuzt. Wer es aber unternimmt, sie von Anfang bis Ende zu durchschreiten, den erwartet ein dicker Schicht historischer Sedimente, in der die Höhen und Tiefen des zwanzigsten Jahrhunderts eng bei einander liegen. Die großen Querstraßen – Kantstraße, Kurfürstendamm, Lietzenburger Straße, Hohenzollerndamm und Berliner Straße – welche die Uhlandstraße jeweils senkrecht durchschneiden, unterteilen sie in historischen Abschnitten. Fünf davon wollen wir hier vorstellen.
1.
Auf der Ecke zum Steinplatz steht die Nr. 1. Es ist das erste und zugleich größte Haus der ganzen Uhlandstraße, ein Gründerzeitgebäude voller Stuck und Ornament. Über ihre verschiedenen Bewohner - preußische Offiziere, jüdische Gelehrte – ist etliches geschrieben worden. In den 1930er Jahren schaffte die neue Nazi-Elite durch Enteignung und Verjagung der jüdischen Einwohner Platz für sich. Durch ein Wunder blieb das Haus vom Bombenhagel verschont. Ihm schräg gegenüber befindet sich die Nr. 197 und damit das letzte Haus der Straße, einen hässlichen Neubau, der eine große Lücke füllt. Die Berliner Zählung hat die Uhlandstraße fest im Griff. Rechterhand zählt sie eins, zwei, drei, vier und so fort bis die hundert erreicht worden ist. Erst im fernen Wilmersdorf wird zur Überseite gewechselt und kehren die Nummern langsam zum Ausgangspunkt zurück. So stehen in diesem Abschnitt die 195, 196 und 197 den Anfangszahlen gegenüber. Noch eine Berliner Besonderheit: Linkerhand fielen die Bomben, die rechte Seite blieb verschont. Die Nr. 6 ist die Gründerzeit Villa des Bildhauers Hertel mit Pallas Athena auf der Stirn. Zwei Friesen voller nackten Nymphen erzählen von der klassischen Bildung und Griechenmanie des ersten Besitzers. Wo die Uhlandstraße die Kantstraße überquert, zeugen vier moderne Eckhäuser davon, dass die Kreuzungen insgesamt ins Visier genommen und gründlich pulverisiert wurden.
2.
Kurz vor der S-Bahn Brücke, wo die Botschaft Haitis passiert wird, verdecken moderne Hotels die alten Hinterhäuser die Sicht. Die Straße ist hier schmal und scheint ziellos vor sich her zu gehen. Plötzlich steht man auf dem weltläufigen Kurfürstendamm. Hier ist Raum und Sonne und ein Fernblick dekoriert mit Mundschutz, egal wohin man schaut: gepunktet, kariert, gestreift, geblümt, schwarz, rot, gelb und blau. Eine Frau im weißem Umhang trägt eine FFP-Kappe, die gut zu ihrem weißen Schleier passt. Ein Mann auf einem goldenen Fahrrad kombiniert das kleine Schwarze mit einem Panamahut. Ein junger Tramp, schwerfällig mit Taschen beladen, zieht einen Schal bis über die Nase. Mundschutz ist wohl die Mode der Stunde und wird es auch noch eine Weile bleiben. Schwer vorstellbar, dass sich rechterhand, wo heute Douglas ist, noch bis Kriegsende eine große, ländliche Gärtnerei befand. Nebenan sah die Reformpädagogin Tami Oelfken 1940 aus ihrem Fenster die Juden des Viertels zu, wie sie jeden Tag um vier Uhr nachmittags bis zur Sperrstunde den täglichen Einkauf zu bewältigen versuchten. Der Gestapo sprach von Kurfürstendamm-Juden und jagte sie vor sich her. Jüdisch war vor allem das angrenzende Wilmersdorf. Wer heute an einem stillen Wintertag die Uhlandstraße Richtung Süden betrachtet, kann im Mittaglicht soweit das Auge reicht die Stolpersteine blinken sehen. In den ersten Wochen der Krise gehörte dies zu den neuen Stadtansichten, die ohne Gefahr für Leib und Leben in Augenschau genommen werden konnten.
3.
Der kurze Abschnitt bis zur Lietzenburger Straße ist auch gleich der dichteste. Hier befinden sich heute die Esslokale für die Ku’Damm Touristen, die wohl in diesem Sommer zum ersten Mal ausbleiben werden. Mit den Nummern 173 und 175 stehen links auch gleich die protzigsten Stadthäuser Berlins. Ihre hohen Fassaden mit den grün-marmoren Säulen und Balkonvorsprüngen sind von Berliner Dauerbaustellen eingesäumt. Man muss schon ein paar Schritte zurücktreten, um sich vor Augen zu führen, dass sich vor dem Krieg genau hier das Herz des ‚little Orient‘ befand, eine mondäne Zeile, die sich quer durch das Viertel erstreckte. Gestaltet wurde sie von ägyptischen Jazzmusikern und Zirkusartisten, Aserbaidschanischen Restaurantbesitzern, persischen Verlagshäusern, den ersten Anbietern eines echten Schaschliks vom turkmenischen Grill, dem Hindustan Haus, einer indischen Moschee, einer ebenfalls indischen Sufi-Lodge, arabischen Kaffeehäusern und hochprozentigen Bars. In der Fasanenstraße, wo sich heute das Literaturhaus befindet, war das Islam Institut mit einem Archiv, einer Bibliothek, einer Tanzfläche und einem Restaurant vertreten. Die Ahmadiyya-Moschee wurde hinter dem Fehrberliner Platz errichtet. Nicht weit davon entfernt, in der Sächsischen Straße 10, befand sich die Sufi-Lodge des Inayath Khan.
Die Ecke war beliebt für ihre kosmopolitischen Stil und orientalischen Flair und passte sich nahtlos in den ‚goldenen‘ Zwanzigern ein. Joseph Roth rätselte bereits 1920 über die Osmanen, die sich über Nacht in waschechten Berlinern verwandelt hatten. Ein Dezennium später sah Lev Nussimbaum die indischen Revolutionären beim Pläneschmieden zu. Berlin diente als Plattform für anti-koloniale Bestrebungen unterschiedlichster Art. Bereits 1922 verkehrten ca. 5.000 Studenten aus den britischen, französischen und russischen Imperien am Polytechnikum und der Berliner Universität. Es waren vor allem die Söhne (es gab auch einige wenige Töchter) der muslimischen Eliten aus Ägypten, Tunesien, Syrien und Palästina, Persien und Afghanistan. Aus Russland kamen die Söhne und Töchter der gelehrten Tatarendynastien. Die größte Gruppe stammte indes aus Britisch-Indien: 800 muslimische Adeligen, dazu auch Hindu-Eliten, zogen jährlich nach Deutschland, um zu promovieren und Netzwerke aufzubauen, um anti-koloniale Widerstand zu organisieren und sich auf die Unabhängigkeit vorzubereiten.
Mit ihren jüdischen Nachbarn verstanden diese Muslime sich gut. Man kannte und vertraute sich. Nach den Crash von 1923 entstand das Phänomen der muslimischen Studenten als Untermieter in den großbürgerlichen jüdischen Wohnungen rundum den Kurfürstendamm, wo sie als Freund der Familie adoptiert wurden, mit am Tisch aßen und am Wochenende zum Segeln, Wandern oder zum Tennisspiel verabredet waren. In der Moschee wurden bi-nationale Ehen vollzogen. In Two Lives hat der indische Autor Vikram Seth der jüdischen Familie Caro, in die sein Großonkel Shanti hineinheiratete, ein liebevolles Denkmal gesetzt. Neben den großbürgerlichen Haushalten bot die intensive Missionierung, die in den 1920er Jahren von indischen Missionaren in Berlin betrieben wurde, eine weitere wichtige Schaltstelle für die Herausbildung einer Wahlverwandtschaft zwischen Juden und Muslimen. Im Spektrum der Missionskommunikation entstanden Konvertiten und ‚Freunde des Islam‘, aber auch lebenslange Freundschaften zwischen jüdischen Berliner Familien und muslimischen Familien in Lahore, Mumbai und Aligarh, begleitet von jeder Menge Liebschaften, Ehen und Nachwuchs. Es waren diese Verbindungen, die so manchen jüdischen Berlinern das Leben gerettet haben.
Berlin nahm es ihnen nicht in Dank ab. Nach dem Krieg wurde die Erinnerung an diese Geschichte, zusammen mit den Spuren jüdisches Lebens in Berlin, für lange Zeit weggeschoben. Als in den 1960er Jahren die ersten ‚Gastarbeiter‘ aus der Türkei geholt wurden, meinte man sogar, dies sei der Anfang islamischen Lebens in Berlin, obwohl die Moschee noch immer funktionierte, der Imam jeden Freitag im RIAS sprach und auf dem türkischen Friedhof am Columbiadamm die einst stadtbekannten Namen für alle sichtbar waren, die es wissen wollten.
4.
Hat man einmal die Lietzenburger Straße hinter sich, so beginnt der Abschnitt mit den kleinen Geschäften und ethnischen Lokalen, die der Uhlandstraße ihr heutiges Gesicht verleihen. Nichts Auffälliges ist dabei. Bis zum Hohenzollerndamm überwiegen die Imbisse und kleinflächige Schaufenster, mit ein paar Ausnahmen. Schön ist es hier nicht. Obwohl baumbestanden, macht dieser Straßenabschnitt einen eher kahlen Eindruck, vielleicht weil die Bäume erst neulich gepflanzt wurden, oder auch weil die vielen Neubauten schlicht hässlich sind. Erst wer in die Pariser und Ludwigkirchstraße hineinschaut, die beiden Stichkanäle, welche die Uhlandstraße nacheinander in kurzem Abstand kreuzen, erblickt die ursprüngliche Opulenz, mit der der Kiez bebaut wurde. Dort hinten befinden sich auch die Kunstgalerien und feine Geschäfte, die davon zeugen, dass das Viertel noch immer zu den reichsten Berlins‘ gehört. Hier lief Stella Goldschlag 1944 Tag für Tag die Straßen ab, den Blick an die oberen Fenster geheftet, einen Gestapomann auf den Fersen: Pariserstraße bis zum Olivaerplatz - zurück durch die Ludwigkirchstraße – Fasanenstraße bis zur Lietzenburgerstraße – wieder bis zum Olivaerplatz hoch und rechts über den Kurfürstendamm bis zum Ausgangspunkt zurück. Stella suchte die jungen Juden, die sich noch im Viertel versteckt hielten. Sie sah die verräterischen Bewegungen hinter den Vorhängen und erspähte ihre Gesichter in der Menge am Kurfürstendamm. Wer sie sah erblasste und war verloren. Man kannte sich noch von der Schule her und die Hartnäckigkeit, womit sie ihre ehemalige Mitschülern aufspürt hatte sich längst herumgesprochen. Trotzdem haben fünftausend dieser ‚U-Boote‘ bis Mai 1945 durchgehalten und damit überlebt. Kein Denkmal, keine Tafel erinnert heute an sie. Nur Stolpersteine markieren die letzten Wohnorte derer, die der Deportation nicht entkommen konnten.
Zurück zur Uhlandstraße. Die neunzehn aufgezeichnete Gespräche haben gezeigt, dass man hier nicht um solche Geschichten weiß. Hier hat man schlicht andere Sorgen. Zum täglichen Kampf ums Überleben sind seit nunmehr zwei Monaten die neuen Wortungetüme gekommen. Man hat sich mit Corona-Regeln, Corona-Maßnahmen, Corona-Schließungen, Corona-Preise und Corona-Lockerungen abgemüht. Corona, die Krone, ist allem und jedem aufgesetzt worden. Man hat sie ausgehalten, ertragen und erlitten. Das Virus hat das vertraute Kiez-Leben auf dem Kopf gestellt. Trotz alledem haben alle die Türen wieder geöffnet, sind die Tischdecken aufgelegt worden, werden täglich die wechselnden Angebote an die Tafel geschrieben. Dieser Kiez hat schon viele verschiedenen Krisen gesehen. Einige haben sie an dem Rand des Abgrunds gebracht. Auch wenn die heutigen Inhaber nicht um diese Geschichte wissen, so handeln sie doch innerhalb derselben Kulisse, wohnen in den selben Wohnungen, dekorieren dieselbe Schaufenster, stellen ihre Werbeschilder auf dem selben Pflaster auf. So und nicht anders fügen sie, mit jedem Tag das sie durchhalten, dem Sediment des Vergangenen ihren eigenen Erfahrungsschicht hinzu.
5.
Im letzten Viertel, vom Hohenzollerndamm bis zur Berliner Straße, wird die Uhlandstraße zunehmend blasser und auf eine undefinierbare Art auch schmuddeliger. Vielleicht sind es die Dauercontainer, die irgendwann entlang der Straße abgestellt worden sind und nicht mehr von ihr loskommen. Vielleicht sind es auch die noch-nicht-bebauten Unterstücke mit den vielen schreienden Werbeplakaten. Die gute Einkaufsstruktur, welche die Güntzelstraße sich seit hundert Jahre erhalten hat reicht dennoch noch ein wenig in die Uhlandstraße hinein. Dort wo die beiden sich queren gibt es noch einmal ein gewisses Flair. Danach gleitet die Straße in die Bedeutungslosigkeit ab. Auch die Berliner Straße kann da nicht mehr helfen: noch ein Blumenladen, das Lakritz-Geschäft, der Biomarkt, eine letzte Reinigung und damit ist endgültig Schluss. Die Hausnummern wechseln hier zur Überseite und kehren Schritt für Schritt zu ihren Ausgangspunkt zurück. Es folgt die Aue, die von 1685 bis 1900 die Dorfstraße von Wilmersdorf war. Wer sich in sie hineinbegibt findet alte Bauernhäuser, versteckte Scheunen und ein kleines, hochbetagtes Gutshaus, angeordnet um einer ehemaligen Bleiche, genauso wie die Straßendörfer in Brandenburg. Dahinter erstreckt sich der Volkspark, einst schlammige Endmoräne der Berliner Seenplatte, Schwimmanstalt, Ausflugsort für durstige Berliner, Wiesengrund für die Schafe und Grenze zum Brandenburger Land. Heute in Corona-Zeiten findet in ihm täglich die neue Öffentlichkeit zusammen, die sich aus Müttern mit Kindern, Senioren und Männern mit Bierflaschen zusammensetzt. Er ist ebenfalls der Endpunkt unserer Reise.
Literatur
Udo Christoffel (Hg.), Berlin Wilmersdorf. Ein StadtTeilBuch. Berlin: Kunstamt Wilmersdorf, 1981.
Gerdien Jonker, On the Margins. Jews and Muslims in Interwar Berlin. Leiden, Boston: E.J. Brill 2020.
Gerdien Jonker, ‘Etwas hoffen muß das Herz’. Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen. Göttingen: Wallstein Verlag, 2018.
Gerdien Jonker, The Ahmadiyya Quest for Religious Progress. Missionizing Europe 1900 – 1965. Leiden, Boston: E.J. Brill, 2016.
Lev Nussimbaum (Kurban Said), Das Mädchen vom goldenen Horn (1937). München: Matthes & Seitz, 2001.
Tami Oelfken, Fahrt durch das Chaos. Logbuch von Mai 1939 bis Mai 1945. Überlingen: Werner Wulf-Verlag, 1946.
Joseph Roth, ‚Der Club der armen Türken‘. Neue Berliner Zeitung (30.6.1920).
Vikram Seth, Two Lives. London: HarperCollins, 2005.
Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931). Frankfurt: Schöffling & Co., 2002.
Peter Wyden, Stella. Göttingen: Steidl Verlag, 1993.
Nach dem zweiten Weltkrieg blieb eine ruinenbestandene Straße mit zahlreichen Baulücken zurück, die lange vor sich hin vegetierten bis sie ab dem 1970er Jahren mit kastenartigen Konstruktionen angefüllt wurden. Es entwickelte sich die bescheidene Infrastruktur mit den vielen kleinen Geschäften, die heute die Uhlandstraße prägen: Kurzwaren, Lakritz, Tee, Schreibwaren, Papier, Blumen, Änderungsschneider, Reinigungen, Wäschereien, Zeitungskioske, Apotheken und Reisebüros. Der erste Italiener Berlins - die Eisdiele Assisi - ließ sich an ihr nieder und gleich um die Ecke auch der allererste Grieche, der Berlin in die Geheimnisse des Ouzos und des griechischen Rundtanzes einweihte. Ihnen folgte im Laufe der Jahre eine wahre Vielfalt von Lokalen und Restaurants aus allen Windrichtungen. Heute sind es Russen, Polen, Tschechen und Franzosen, Spanier, Italiener, Griechen und Armenier, Japaner, Chinesen, Indonesier, Vietnamesen und Thai, Türken, Syrer, Israelis und Libanesen, die das Viertel mit Essen und einem Hauch von Welt versorgen. Dennoch hat die Uhlandstraße kaum Flair, nichts von der Eleganz des Kurfürstendamms, den sie im oberen Viertel kreuzt. Wer es aber unternimmt, sie von Anfang bis Ende zu durchschreiten, den erwartet ein dicker Schicht historischer Sedimente, in der die Höhen und Tiefen des zwanzigsten Jahrhunderts eng bei einander liegen. Die großen Querstraßen – Kantstraße, Kurfürstendamm, Lietzenburger Straße, Hohenzollerndamm und Berliner Straße – welche die Uhlandstraße jeweils senkrecht durchschneiden, unterteilen sie in historischen Abschnitten. Fünf davon wollen wir hier vorstellen.
1.
Auf der Ecke zum Steinplatz steht die Nr. 1. Es ist das erste und zugleich größte Haus der ganzen Uhlandstraße, ein Gründerzeitgebäude voller Stuck und Ornament. Über ihre verschiedenen Bewohner - preußische Offiziere, jüdische Gelehrte – ist etliches geschrieben worden. In den 1930er Jahren schaffte die neue Nazi-Elite durch Enteignung und Verjagung der jüdischen Einwohner Platz für sich. Durch ein Wunder blieb das Haus vom Bombenhagel verschont. Ihm schräg gegenüber befindet sich die Nr. 197 und damit das letzte Haus der Straße, einen hässlichen Neubau, der eine große Lücke füllt. Die Berliner Zählung hat die Uhlandstraße fest im Griff. Rechterhand zählt sie eins, zwei, drei, vier und so fort bis die hundert erreicht worden ist. Erst im fernen Wilmersdorf wird zur Überseite gewechselt und kehren die Nummern langsam zum Ausgangspunkt zurück. So stehen in diesem Abschnitt die 195, 196 und 197 den Anfangszahlen gegenüber. Noch eine Berliner Besonderheit: Linkerhand fielen die Bomben, die rechte Seite blieb verschont. Die Nr. 6 ist die Gründerzeit Villa des Bildhauers Hertel mit Pallas Athena auf der Stirn. Zwei Friesen voller nackten Nymphen erzählen von der klassischen Bildung und Griechenmanie des ersten Besitzers. Wo die Uhlandstraße die Kantstraße überquert, zeugen vier moderne Eckhäuser davon, dass die Kreuzungen insgesamt ins Visier genommen und gründlich pulverisiert wurden.
2.
Kurz vor der S-Bahn Brücke, wo die Botschaft Haitis passiert wird, verdecken moderne Hotels die alten Hinterhäuser die Sicht. Die Straße ist hier schmal und scheint ziellos vor sich her zu gehen. Plötzlich steht man auf dem weltläufigen Kurfürstendamm. Hier ist Raum und Sonne und ein Fernblick dekoriert mit Mundschutz, egal wohin man schaut: gepunktet, kariert, gestreift, geblümt, schwarz, rot, gelb und blau. Eine Frau im weißem Umhang trägt eine FFP-Kappe, die gut zu ihrem weißen Schleier passt. Ein Mann auf einem goldenen Fahrrad kombiniert das kleine Schwarze mit einem Panamahut. Ein junger Tramp, schwerfällig mit Taschen beladen, zieht einen Schal bis über die Nase. Mundschutz ist wohl die Mode der Stunde und wird es auch noch eine Weile bleiben. Schwer vorstellbar, dass sich rechterhand, wo heute Douglas ist, noch bis Kriegsende eine große, ländliche Gärtnerei befand. Nebenan sah die Reformpädagogin Tami Oelfken 1940 aus ihrem Fenster die Juden des Viertels zu, wie sie jeden Tag um vier Uhr nachmittags bis zur Sperrstunde den täglichen Einkauf zu bewältigen versuchten. Der Gestapo sprach von Kurfürstendamm-Juden und jagte sie vor sich her. Jüdisch war vor allem das angrenzende Wilmersdorf. Wer heute an einem stillen Wintertag die Uhlandstraße Richtung Süden betrachtet, kann im Mittaglicht soweit das Auge reicht die Stolpersteine blinken sehen. In den ersten Wochen der Krise gehörte dies zu den neuen Stadtansichten, die ohne Gefahr für Leib und Leben in Augenschau genommen werden konnten.
3.
Der kurze Abschnitt bis zur Lietzenburger Straße ist auch gleich der dichteste. Hier befinden sich heute die Esslokale für die Ku’Damm Touristen, die wohl in diesem Sommer zum ersten Mal ausbleiben werden. Mit den Nummern 173 und 175 stehen links auch gleich die protzigsten Stadthäuser Berlins. Ihre hohen Fassaden mit den grün-marmoren Säulen und Balkonvorsprüngen sind von Berliner Dauerbaustellen eingesäumt. Man muss schon ein paar Schritte zurücktreten, um sich vor Augen zu führen, dass sich vor dem Krieg genau hier das Herz des ‚little Orient‘ befand, eine mondäne Zeile, die sich quer durch das Viertel erstreckte. Gestaltet wurde sie von ägyptischen Jazzmusikern und Zirkusartisten, Aserbaidschanischen Restaurantbesitzern, persischen Verlagshäusern, den ersten Anbietern eines echten Schaschliks vom turkmenischen Grill, dem Hindustan Haus, einer indischen Moschee, einer ebenfalls indischen Sufi-Lodge, arabischen Kaffeehäusern und hochprozentigen Bars. In der Fasanenstraße, wo sich heute das Literaturhaus befindet, war das Islam Institut mit einem Archiv, einer Bibliothek, einer Tanzfläche und einem Restaurant vertreten. Die Ahmadiyya-Moschee wurde hinter dem Fehrberliner Platz errichtet. Nicht weit davon entfernt, in der Sächsischen Straße 10, befand sich die Sufi-Lodge des Inayath Khan.
Die Ecke war beliebt für ihre kosmopolitischen Stil und orientalischen Flair und passte sich nahtlos in den ‚goldenen‘ Zwanzigern ein. Joseph Roth rätselte bereits 1920 über die Osmanen, die sich über Nacht in waschechten Berlinern verwandelt hatten. Ein Dezennium später sah Lev Nussimbaum die indischen Revolutionären beim Pläneschmieden zu. Berlin diente als Plattform für anti-koloniale Bestrebungen unterschiedlichster Art. Bereits 1922 verkehrten ca. 5.000 Studenten aus den britischen, französischen und russischen Imperien am Polytechnikum und der Berliner Universität. Es waren vor allem die Söhne (es gab auch einige wenige Töchter) der muslimischen Eliten aus Ägypten, Tunesien, Syrien und Palästina, Persien und Afghanistan. Aus Russland kamen die Söhne und Töchter der gelehrten Tatarendynastien. Die größte Gruppe stammte indes aus Britisch-Indien: 800 muslimische Adeligen, dazu auch Hindu-Eliten, zogen jährlich nach Deutschland, um zu promovieren und Netzwerke aufzubauen, um anti-koloniale Widerstand zu organisieren und sich auf die Unabhängigkeit vorzubereiten.
Mit ihren jüdischen Nachbarn verstanden diese Muslime sich gut. Man kannte und vertraute sich. Nach den Crash von 1923 entstand das Phänomen der muslimischen Studenten als Untermieter in den großbürgerlichen jüdischen Wohnungen rundum den Kurfürstendamm, wo sie als Freund der Familie adoptiert wurden, mit am Tisch aßen und am Wochenende zum Segeln, Wandern oder zum Tennisspiel verabredet waren. In der Moschee wurden bi-nationale Ehen vollzogen. In Two Lives hat der indische Autor Vikram Seth der jüdischen Familie Caro, in die sein Großonkel Shanti hineinheiratete, ein liebevolles Denkmal gesetzt. Neben den großbürgerlichen Haushalten bot die intensive Missionierung, die in den 1920er Jahren von indischen Missionaren in Berlin betrieben wurde, eine weitere wichtige Schaltstelle für die Herausbildung einer Wahlverwandtschaft zwischen Juden und Muslimen. Im Spektrum der Missionskommunikation entstanden Konvertiten und ‚Freunde des Islam‘, aber auch lebenslange Freundschaften zwischen jüdischen Berliner Familien und muslimischen Familien in Lahore, Mumbai und Aligarh, begleitet von jeder Menge Liebschaften, Ehen und Nachwuchs. Es waren diese Verbindungen, die so manchen jüdischen Berlinern das Leben gerettet haben.
Berlin nahm es ihnen nicht in Dank ab. Nach dem Krieg wurde die Erinnerung an diese Geschichte, zusammen mit den Spuren jüdisches Lebens in Berlin, für lange Zeit weggeschoben. Als in den 1960er Jahren die ersten ‚Gastarbeiter‘ aus der Türkei geholt wurden, meinte man sogar, dies sei der Anfang islamischen Lebens in Berlin, obwohl die Moschee noch immer funktionierte, der Imam jeden Freitag im RIAS sprach und auf dem türkischen Friedhof am Columbiadamm die einst stadtbekannten Namen für alle sichtbar waren, die es wissen wollten.
4.
Hat man einmal die Lietzenburger Straße hinter sich, so beginnt der Abschnitt mit den kleinen Geschäften und ethnischen Lokalen, die der Uhlandstraße ihr heutiges Gesicht verleihen. Nichts Auffälliges ist dabei. Bis zum Hohenzollerndamm überwiegen die Imbisse und kleinflächige Schaufenster, mit ein paar Ausnahmen. Schön ist es hier nicht. Obwohl baumbestanden, macht dieser Straßenabschnitt einen eher kahlen Eindruck, vielleicht weil die Bäume erst neulich gepflanzt wurden, oder auch weil die vielen Neubauten schlicht hässlich sind. Erst wer in die Pariser und Ludwigkirchstraße hineinschaut, die beiden Stichkanäle, welche die Uhlandstraße nacheinander in kurzem Abstand kreuzen, erblickt die ursprüngliche Opulenz, mit der der Kiez bebaut wurde. Dort hinten befinden sich auch die Kunstgalerien und feine Geschäfte, die davon zeugen, dass das Viertel noch immer zu den reichsten Berlins‘ gehört. Hier lief Stella Goldschlag 1944 Tag für Tag die Straßen ab, den Blick an die oberen Fenster geheftet, einen Gestapomann auf den Fersen: Pariserstraße bis zum Olivaerplatz - zurück durch die Ludwigkirchstraße – Fasanenstraße bis zur Lietzenburgerstraße – wieder bis zum Olivaerplatz hoch und rechts über den Kurfürstendamm bis zum Ausgangspunkt zurück. Stella suchte die jungen Juden, die sich noch im Viertel versteckt hielten. Sie sah die verräterischen Bewegungen hinter den Vorhängen und erspähte ihre Gesichter in der Menge am Kurfürstendamm. Wer sie sah erblasste und war verloren. Man kannte sich noch von der Schule her und die Hartnäckigkeit, womit sie ihre ehemalige Mitschülern aufspürt hatte sich längst herumgesprochen. Trotzdem haben fünftausend dieser ‚U-Boote‘ bis Mai 1945 durchgehalten und damit überlebt. Kein Denkmal, keine Tafel erinnert heute an sie. Nur Stolpersteine markieren die letzten Wohnorte derer, die der Deportation nicht entkommen konnten.
Zurück zur Uhlandstraße. Die neunzehn aufgezeichnete Gespräche haben gezeigt, dass man hier nicht um solche Geschichten weiß. Hier hat man schlicht andere Sorgen. Zum täglichen Kampf ums Überleben sind seit nunmehr zwei Monaten die neuen Wortungetüme gekommen. Man hat sich mit Corona-Regeln, Corona-Maßnahmen, Corona-Schließungen, Corona-Preise und Corona-Lockerungen abgemüht. Corona, die Krone, ist allem und jedem aufgesetzt worden. Man hat sie ausgehalten, ertragen und erlitten. Das Virus hat das vertraute Kiez-Leben auf dem Kopf gestellt. Trotz alledem haben alle die Türen wieder geöffnet, sind die Tischdecken aufgelegt worden, werden täglich die wechselnden Angebote an die Tafel geschrieben. Dieser Kiez hat schon viele verschiedenen Krisen gesehen. Einige haben sie an dem Rand des Abgrunds gebracht. Auch wenn die heutigen Inhaber nicht um diese Geschichte wissen, so handeln sie doch innerhalb derselben Kulisse, wohnen in den selben Wohnungen, dekorieren dieselbe Schaufenster, stellen ihre Werbeschilder auf dem selben Pflaster auf. So und nicht anders fügen sie, mit jedem Tag das sie durchhalten, dem Sediment des Vergangenen ihren eigenen Erfahrungsschicht hinzu.
5.
Im letzten Viertel, vom Hohenzollerndamm bis zur Berliner Straße, wird die Uhlandstraße zunehmend blasser und auf eine undefinierbare Art auch schmuddeliger. Vielleicht sind es die Dauercontainer, die irgendwann entlang der Straße abgestellt worden sind und nicht mehr von ihr loskommen. Vielleicht sind es auch die noch-nicht-bebauten Unterstücke mit den vielen schreienden Werbeplakaten. Die gute Einkaufsstruktur, welche die Güntzelstraße sich seit hundert Jahre erhalten hat reicht dennoch noch ein wenig in die Uhlandstraße hinein. Dort wo die beiden sich queren gibt es noch einmal ein gewisses Flair. Danach gleitet die Straße in die Bedeutungslosigkeit ab. Auch die Berliner Straße kann da nicht mehr helfen: noch ein Blumenladen, das Lakritz-Geschäft, der Biomarkt, eine letzte Reinigung und damit ist endgültig Schluss. Die Hausnummern wechseln hier zur Überseite und kehren Schritt für Schritt zu ihren Ausgangspunkt zurück. Es folgt die Aue, die von 1685 bis 1900 die Dorfstraße von Wilmersdorf war. Wer sich in sie hineinbegibt findet alte Bauernhäuser, versteckte Scheunen und ein kleines, hochbetagtes Gutshaus, angeordnet um einer ehemaligen Bleiche, genauso wie die Straßendörfer in Brandenburg. Dahinter erstreckt sich der Volkspark, einst schlammige Endmoräne der Berliner Seenplatte, Schwimmanstalt, Ausflugsort für durstige Berliner, Wiesengrund für die Schafe und Grenze zum Brandenburger Land. Heute in Corona-Zeiten findet in ihm täglich die neue Öffentlichkeit zusammen, die sich aus Müttern mit Kindern, Senioren und Männern mit Bierflaschen zusammensetzt. Er ist ebenfalls der Endpunkt unserer Reise.
Literatur
Udo Christoffel (Hg.), Berlin Wilmersdorf. Ein StadtTeilBuch. Berlin: Kunstamt Wilmersdorf, 1981.
Gerdien Jonker, On the Margins. Jews and Muslims in Interwar Berlin. Leiden, Boston: E.J. Brill 2020.
Gerdien Jonker, ‘Etwas hoffen muß das Herz’. Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen. Göttingen: Wallstein Verlag, 2018.
Gerdien Jonker, The Ahmadiyya Quest for Religious Progress. Missionizing Europe 1900 – 1965. Leiden, Boston: E.J. Brill, 2016.
Lev Nussimbaum (Kurban Said), Das Mädchen vom goldenen Horn (1937). München: Matthes & Seitz, 2001.
Tami Oelfken, Fahrt durch das Chaos. Logbuch von Mai 1939 bis Mai 1945. Überlingen: Werner Wulf-Verlag, 1946.
Joseph Roth, ‚Der Club der armen Türken‘. Neue Berliner Zeitung (30.6.1920).
Vikram Seth, Two Lives. London: HarperCollins, 2005.
Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931). Frankfurt: Schöffling & Co., 2002.
Peter Wyden, Stella. Göttingen: Steidl Verlag, 1993.