DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
​Eine Ethnographie Berlins in der Corona-Krise
​
II. Ein Kiez geht durch die Krise

Abgeschlossen

Von 25. April bis 16. Mai

Samstag, der 16 Mai, Nachwort: Die Uhlandstraße

5/16/2020

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Die Uhlandstraße, die Hauptgeschäftsstraße von Wilmersdorf, hat eine Länge von 3,1 Kilometer, was in Berlin eher wenig ist. Ihr Wesen nach gleicht sie keine gewachsene städtische Verbindung, welche die Engländer gerne artery nennen. Nichts Rundes oder Welliges tut sich dem Auge hervor. Die Straße gleicht eher dem Rhein-Mainkanal, der mit seinen vielen kurzen Stichgräben die übrigen Kanäle des Viertels senkrecht durchquert und mit ihnen Wechselbeziehungen unterhält. Die Geburt der Uhlandstraße war einen Strich mit dem Bleistift auf dem Millimeterpapier: schnurstracks von Nord nach Süd durch den Hopfenbruch. Der Strich verlief vom städtischen Steinplatz in Charlottenburg bis zum Dorfkern im Flecken Wilmersdorf, wo 1900 noch die Schafe gehütet wurden. Bald wanderten die durchnummerierten Parzellen vom Papier in die Hände der Bauspekulanten, die Bürgerhäuser mit protzigem Marmor und Stuck darauf errichteten. Deren Kunden ging es darum, einen repräsentativen Platz an der Sonne im neuen Westen zu ergattern. In den 1920er Jahren staunte Gabriele Tergit über die vielen rosa-marmoren Springbrunnen in den Eingangshallen der elf-Zimmer Apartments, die Bärenfelle in den Herrenzimmern und das viele, schwerfällige Mobiliar. Die Uhlandstraße war die Straße der Neureichen. Kirchen und andere öffentliche Gebäude wurden hier nicht gebaut, Plätze ohnehin für nicht notwendig erachtet. Das entsprach nicht ihre Sinn und Zweck.
 
Nach dem zweiten Weltkrieg blieb eine ruinenbestandene Straße mit zahlreichen Baulücken zurück, die lange vor sich hin vegetierten bis sie ab dem 1970er Jahren mit kastenartigen Konstruktionen angefüllt wurden. Es entwickelte sich die bescheidene Infrastruktur mit den vielen kleinen Geschäften, die heute die Uhlandstraße prägen: Kurzwaren, Lakritz, Tee, Schreibwaren, Papier, Blumen, Änderungsschneider, Reinigungen, Wäschereien, Zeitungskioske, Apotheken und Reisebüros. Der erste Italiener Berlins - die Eisdiele Assisi - ließ sich an ihr nieder und gleich um die Ecke auch der allererste Grieche, der Berlin in die Geheimnisse des Ouzos und des griechischen Rundtanzes einweihte. Ihnen folgte im Laufe der Jahre eine wahre Vielfalt von Lokalen und Restaurants aus allen Windrichtungen. Heute sind es Russen, Polen, Tschechen und Franzosen, Spanier, Italiener, Griechen und Armenier, Japaner, Chinesen, Indonesier, Vietnamesen und Thai, Türken, Syrer, Israelis und Libanesen, die das Viertel mit Essen und einem Hauch von Welt versorgen. Dennoch hat die Uhlandstraße kaum Flair, nichts von der Eleganz des Kurfürstendamms, den sie im oberen Viertel kreuzt. Wer es aber unternimmt, sie von Anfang bis Ende zu durchschreiten, den erwartet ein dicker Schicht historischer Sedimente, in der die Höhen und Tiefen des zwanzigsten Jahrhunderts eng bei einander liegen. Die großen Querstraßen – Kantstraße, Kurfürstendamm, Lietzenburger Straße, Hohenzollerndamm und Berliner Straße – welche die Uhlandstraße jeweils senkrecht durchschneiden, unterteilen sie in historischen Abschnitten. Fünf davon wollen wir hier vorstellen.
 
1. 
Auf der Ecke zum Steinplatz steht die Nr. 1. Es ist das erste und zugleich größte Haus der ganzen Uhlandstraße, ein Gründerzeitgebäude voller Stuck und Ornament. Über ihre verschiedenen Bewohner - preußische Offiziere, jüdische Gelehrte – ist etliches geschrieben worden. In den 1930er Jahren schaffte die neue Nazi-Elite durch Enteignung und Verjagung der jüdischen Einwohner Platz für sich. Durch ein Wunder blieb das Haus vom Bombenhagel verschont. Ihm schräg gegenüber befindet sich die Nr. 197 und damit das letzte Haus der Straße, einen hässlichen Neubau, der eine große Lücke füllt. Die Berliner Zählung hat die Uhlandstraße fest im Griff. Rechterhand zählt sie eins, zwei, drei, vier und so fort bis die hundert erreicht worden ist. Erst im fernen Wilmersdorf wird zur Überseite gewechselt und kehren die Nummern langsam zum Ausgangspunkt zurück. So stehen in diesem Abschnitt die 195, 196 und 197 den Anfangszahlen gegenüber. Noch eine Berliner Besonderheit: Linkerhand fielen die Bomben, die rechte Seite blieb verschont. Die Nr. 6 ist die Gründerzeit Villa des Bildhauers Hertel mit Pallas Athena auf der Stirn. Zwei Friesen voller nackten Nymphen erzählen von der klassischen Bildung und Griechenmanie des ersten Besitzers. Wo die Uhlandstraße die Kantstraße überquert, zeugen vier moderne Eckhäuser davon, dass die Kreuzungen insgesamt ins Visier genommen und gründlich pulverisiert wurden. 
 
2. 
Kurz vor der S-Bahn Brücke, wo die Botschaft Haitis passiert wird, verdecken moderne Hotels die alten Hinterhäuser die Sicht. Die Straße ist hier schmal und scheint ziellos vor sich her zu gehen. Plötzlich steht man auf dem weltläufigen Kurfürstendamm. Hier ist Raum und Sonne und ein Fernblick dekoriert mit Mundschutz, egal wohin man  schaut: gepunktet, kariert, gestreift, geblümt, schwarz, rot, gelb und blau. Eine Frau im weißem Umhang trägt eine FFP-Kappe, die gut zu ihrem weißen Schleier passt. Ein Mann auf einem goldenen Fahrrad kombiniert das kleine Schwarze mit einem Panamahut. Ein junger Tramp, schwerfällig mit Taschen beladen, zieht einen Schal bis über die Nase. Mundschutz ist wohl die Mode der Stunde und wird es auch noch eine Weile bleiben. Schwer vorstellbar, dass sich rechterhand, wo heute Douglas ist, noch bis Kriegsende eine große, ländliche Gärtnerei befand. Nebenan sah die Reformpädagogin Tami Oelfken 1940 aus ihrem Fenster die Juden des Viertels zu, wie sie jeden Tag um vier Uhr nachmittags bis zur Sperrstunde den täglichen Einkauf zu bewältigen versuchten. Der Gestapo sprach von Kurfürstendamm-Juden und jagte sie vor sich her. Jüdisch war vor allem das angrenzende Wilmersdorf. Wer heute an einem stillen Wintertag die Uhlandstraße Richtung Süden betrachtet, kann im Mittaglicht soweit das Auge reicht die Stolpersteine blinken sehen. In den ersten Wochen der Krise gehörte dies zu den neuen Stadtansichten, die ohne Gefahr für Leib und Leben in Augenschau genommen werden konnten.
 
3. 
Der kurze Abschnitt bis zur Lietzenburger Straße ist auch gleich der dichteste. Hier befinden sich heute die Esslokale für die Ku’Damm Touristen, die wohl in diesem Sommer zum ersten Mal ausbleiben werden. Mit den Nummern 173 und 175 stehen links auch gleich die protzigsten Stadthäuser Berlins. Ihre hohen Fassaden mit den grün-marmoren Säulen und Balkonvorsprüngen sind von Berliner Dauerbaustellen eingesäumt. Man muss schon ein paar Schritte zurücktreten, um sich vor Augen zu führen, dass sich vor dem Krieg genau hier das Herz des ‚little Orient‘ befand, eine mondäne Zeile, die sich quer durch das Viertel erstreckte. Gestaltet wurde sie von ägyptischen Jazzmusikern und Zirkusartisten, Aserbaidschanischen Restaurantbesitzern, persischen Verlagshäusern, den ersten Anbietern eines echten Schaschliks vom turkmenischen Grill, dem Hindustan Haus, einer indischen Moschee, einer ebenfalls indischen Sufi-Lodge, arabischen Kaffeehäusern und hochprozentigen Bars. In der Fasanenstraße, wo sich heute das Literaturhaus befindet, war das Islam Institut mit einem Archiv, einer Bibliothek, einer Tanzfläche und einem Restaurant vertreten. Die Ahmadiyya-Moschee wurde hinter dem Fehrberliner Platz errichtet. Nicht weit davon entfernt, in der Sächsischen Straße 10, befand sich die Sufi-Lodge des Inayath Khan.  
Die Ecke war beliebt für ihre kosmopolitischen Stil und orientalischen Flair und passte sich nahtlos in den ‚goldenen‘ Zwanzigern ein. Joseph Roth rätselte bereits 1920 über die Osmanen, die sich über Nacht in waschechten Berlinern verwandelt hatten. Ein Dezennium später sah Lev Nussimbaum die indischen Revolutionären beim Pläneschmieden zu. Berlin diente als Plattform für anti-koloniale Bestrebungen unterschiedlichster Art. Bereits 1922 verkehrten ca. 5.000 Studenten aus den britischen, französischen und russischen Imperien am Polytechnikum und der Berliner Universität. Es waren vor allem die Söhne (es gab auch einige wenige Töchter) der muslimischen Eliten aus Ägypten, Tunesien, Syrien und Palästina, Persien und Afghanistan. Aus Russland kamen die Söhne und Töchter der gelehrten Tatarendynastien. Die größte Gruppe stammte indes aus Britisch-Indien: 800 muslimische Adeligen, dazu auch Hindu-Eliten, zogen jährlich nach Deutschland, um zu promovieren und Netzwerke aufzubauen, um anti-koloniale Widerstand zu organisieren und sich auf die Unabhängigkeit vorzubereiten. 
Mit ihren jüdischen Nachbarn verstanden diese Muslime sich gut. Man kannte und vertraute sich. Nach den Crash von 1923 entstand das Phänomen der muslimischen Studenten als Untermieter in den großbürgerlichen jüdischen Wohnungen rundum den Kurfürstendamm, wo sie als Freund der Familie adoptiert wurden, mit am Tisch aßen und am Wochenende zum Segeln, Wandern oder zum Tennisspiel verabredet waren. In der Moschee wurden bi-nationale Ehen vollzogen. In Two Lives hat der indische Autor Vikram Seth der jüdischen Familie Caro, in die sein Großonkel Shanti hineinheiratete, ein liebevolles Denkmal gesetzt. Neben den großbürgerlichen Haushalten bot die intensive Missionierung, die in den 1920er Jahren von indischen Missionaren in Berlin betrieben wurde, eine weitere wichtige Schaltstelle für die Herausbildung einer Wahlverwandtschaft zwischen Juden und Muslimen. Im Spektrum der Missionskommunikation entstanden Konvertiten und ‚Freunde des Islam‘, aber auch lebenslange Freundschaften zwischen jüdischen Berliner Familien und muslimischen Familien in Lahore, Mumbai und Aligarh, begleitet von jeder Menge Liebschaften, Ehen und Nachwuchs. Es waren diese Verbindungen, die so manchen jüdischen Berlinern das Leben gerettet haben. 
Berlin nahm es ihnen nicht in Dank ab. Nach dem Krieg wurde die Erinnerung an diese Geschichte, zusammen mit den Spuren jüdisches Lebens in Berlin, für lange Zeit weggeschoben. Als in den 1960er Jahren die ersten ‚Gastarbeiter‘ aus der Türkei geholt wurden, meinte man sogar, dies sei der Anfang islamischen Lebens in Berlin, obwohl die Moschee noch immer funktionierte, der Imam jeden Freitag im RIAS sprach und auf dem türkischen Friedhof am Columbiadamm die einst stadtbekannten Namen für alle sichtbar waren, die es wissen wollten.
 
4. 
Hat man einmal die Lietzenburger Straße hinter sich, so beginnt der Abschnitt mit den kleinen Geschäften und ethnischen Lokalen, die der Uhlandstraße ihr heutiges Gesicht verleihen. Nichts Auffälliges ist dabei. Bis zum Hohenzollerndamm überwiegen die Imbisse und kleinflächige Schaufenster, mit ein paar Ausnahmen. Schön ist es hier nicht. Obwohl baumbestanden, macht dieser Straßenabschnitt einen eher kahlen Eindruck, vielleicht weil die Bäume erst neulich gepflanzt wurden, oder auch weil die vielen Neubauten schlicht hässlich sind. Erst wer in die Pariser und Ludwigkirchstraße hineinschaut, die beiden Stichkanäle, welche die Uhlandstraße nacheinander in kurzem Abstand kreuzen, erblickt die ursprüngliche Opulenz, mit der der Kiez bebaut wurde. Dort hinten befinden sich auch die Kunstgalerien und feine Geschäfte, die davon zeugen, dass das Viertel noch immer zu den reichsten Berlins‘ gehört. Hier lief Stella Goldschlag 1944 Tag für Tag die Straßen ab, den Blick an die oberen Fenster geheftet, einen Gestapomann auf den Fersen: Pariserstraße bis zum Olivaerplatz - zurück durch die Ludwigkirchstraße – Fasanenstraße bis zur Lietzenburgerstraße – wieder bis zum Olivaerplatz hoch und rechts über den Kurfürstendamm bis zum Ausgangspunkt zurück. Stella suchte die jungen Juden, die sich noch im Viertel versteckt hielten. Sie sah die verräterischen Bewegungen hinter den Vorhängen und erspähte ihre Gesichter in der Menge am Kurfürstendamm. Wer sie sah erblasste und war verloren. Man kannte sich noch von der Schule her und die Hartnäckigkeit, womit sie ihre ehemalige Mitschülern aufspürt hatte sich längst herumgesprochen. Trotzdem haben fünftausend dieser ‚U-Boote‘ bis Mai 1945 durchgehalten und damit überlebt. Kein Denkmal, keine Tafel erinnert heute an sie. Nur Stolpersteine markieren die letzten Wohnorte derer, die der Deportation nicht entkommen konnten.  
Zurück zur Uhlandstraße. Die neunzehn aufgezeichnete Gespräche haben gezeigt, dass man hier nicht um solche Geschichten weiß. Hier hat man schlicht andere Sorgen. Zum täglichen Kampf ums Überleben sind seit nunmehr zwei Monaten die neuen Wortungetüme gekommen. Man hat sich mit Corona-Regeln, Corona-Maßnahmen, Corona-Schließungen, Corona-Preise und Corona-Lockerungen abgemüht. Corona, die Krone, ist allem und jedem aufgesetzt worden. Man hat sie ausgehalten, ertragen und erlitten. Das Virus hat das vertraute Kiez-Leben auf dem Kopf gestellt. Trotz alledem haben alle die Türen wieder geöffnet, sind die Tischdecken aufgelegt worden, werden täglich die wechselnden Angebote an die Tafel geschrieben. Dieser Kiez hat schon viele verschiedenen Krisen gesehen. Einige haben sie an dem Rand des Abgrunds gebracht. Auch wenn die heutigen Inhaber nicht um diese Geschichte wissen, so handeln sie doch innerhalb derselben Kulisse,  wohnen in den selben Wohnungen, dekorieren dieselbe Schaufenster, stellen ihre Werbeschilder auf dem selben Pflaster auf. So und nicht anders fügen sie, mit jedem Tag das sie durchhalten, dem Sediment des Vergangenen ihren eigenen Erfahrungsschicht hinzu.  
 
5. 
Im letzten Viertel, vom Hohenzollerndamm bis zur Berliner Straße, wird die Uhlandstraße zunehmend blasser und auf eine undefinierbare Art auch schmuddeliger. Vielleicht sind es die Dauercontainer, die irgendwann entlang der Straße abgestellt worden sind und nicht mehr von ihr loskommen. Vielleicht sind es auch die noch-nicht-bebauten Unterstücke mit den vielen schreienden Werbeplakaten. Die gute Einkaufsstruktur, welche die Güntzelstraße sich seit hundert Jahre erhalten hat reicht dennoch noch ein wenig in die Uhlandstraße hinein. Dort wo die beiden sich queren gibt es noch einmal ein gewisses Flair. Danach gleitet die Straße in die Bedeutungslosigkeit ab.  Auch die Berliner Straße kann da nicht mehr helfen: noch ein Blumenladen, das Lakritz-Geschäft, der Biomarkt, eine letzte Reinigung und damit ist endgültig Schluss. Die Hausnummern wechseln hier zur Überseite und kehren Schritt für Schritt zu ihren Ausgangspunkt zurück. Es folgt die Aue, die von 1685 bis 1900 die Dorfstraße von Wilmersdorf war. Wer sich in sie hineinbegibt findet alte Bauernhäuser, versteckte Scheunen und ein kleines, hochbetagtes Gutshaus, angeordnet um einer ehemaligen Bleiche, genauso wie die Straßendörfer in Brandenburg. Dahinter erstreckt sich der Volkspark, einst schlammige Endmoräne der Berliner Seenplatte, Schwimmanstalt, Ausflugsort für durstige Berliner, Wiesengrund für die Schafe und Grenze zum Brandenburger Land. Heute in Corona-Zeiten findet in ihm täglich die neue Öffentlichkeit zusammen, die sich aus Müttern mit Kindern, Senioren und Männern mit Bierflaschen zusammensetzt. Er ist ebenfalls der Endpunkt unserer Reise. 
 
Literatur
 
Udo Christoffel (Hg.), Berlin Wilmersdorf. Ein StadtTeilBuch. Berlin: Kunstamt Wilmersdorf, 1981.
Gerdien Jonker, On the Margins. Jews and Muslims in Interwar Berlin. Leiden, Boston: E.J. Brill 2020. 
Gerdien Jonker, ‘Etwas hoffen muß das Herz’. Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen. Göttingen: Wallstein Verlag, 2018. 
Gerdien Jonker, The Ahmadiyya Quest for Religious Progress. Missionizing Europe 1900 – 1965. Leiden, Boston: E.J. Brill, 2016. 
Lev Nussimbaum (Kurban Said), Das Mädchen vom goldenen Horn (1937). München: Matthes & Seitz, 2001.
Tami Oelfken, Fahrt durch das Chaos. Logbuch von Mai 1939 bis Mai 1945. Überlingen: Werner Wulf-Verlag, 1946.
Joseph Roth, ‚Der Club der armen Türken‘. Neue Berliner Zeitung (30.6.1920).
Vikram Seth, Two Lives. London: HarperCollins, 2005.
Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931). Frankfurt: Schöffling & Co., 2002.
Peter Wyden, Stella. Göttingen: Steidl Verlag, 1993.


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Freitag, der 15. Mai, Aus Essen gehen

5/16/2020

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Ort: Quer durch den Kiez
 
Nun dürfen die Restaurants wieder ihre Türen öffnen und wir Anwohnenden, wir dürfen wieder reingehen und uns hinsetzen. Auf den Straßen keine kopfstehende Tische mehr, keine angeketteten Stuhlbeine. Heute bewegt sich der Kiez wieder ein Schrittchen Richtung wie-es-einmal-war. Entlang der Uhlandstraße werden schon früh die frischgebügelten Tischdecke aufgelegt, rotkarierte beim Italiener, blaue beim Russen. Der Wind bläst so kräftig, dass manche mitten auf die Fahrbahn fliegen. Zur Mittagszeit machen wir uns auf zum China Restaurant. Zwischen anderen Leute zu sitzen und mit einem Getränk auf die Bestellung zu warten scheint das Gebot der Stunde. Am Eingang unterrichtet uns der freundliche junge Mann jedoch, dass sie theoretisch zwar öffnen könnten, es dennoch nicht tun werden. ‚Mit den strengen Vorgaben sind bei uns nur vier Tische möglich‘, sagt er. Und was hat man dann? ‚Wenn wir Pech haben: eine Person an jedem Tisch. Das ist zu wenig, um die Grundkosten zu decken und wird außerdem neue Probleme schaffen. Denken Sie nur, wenn einmal einer im Lokal sitzt dann wollen alle sitzen. Essen mit Mundschutz geht nicht, also sitzen sie ohne am Tisch. Wenn dann jemand niest, und das kann schon vom scharfen Essen kommen, dann sitzen wir in der Tinte. Nein, da wird nichts daraus!‘ 
Beim indonesischen Restaurant am Ludwig-Kirchplatz sieht man das anders. Vor der Tür warten sechs kleine Holztische auf Gäste. Die Sonne scheint, die Vögel singen, die Besucher freuen sich ersichtlich dabei zu sein. Der Chef trägt einen eleganten Mundschutz passend zum Hemd. Sobald er an den Tisch tritt setzen seine Gäste aus Respekt den eigenen kurz auf. Und, oh Wunder, das Essen, das er serviert gefällt noch besser als man es im Gedächtnis hatte. Am Tisch nebenan macht eine junge Frau eine Reihe Selfies und sagt feierlich hinüber zu unserem Tisch: ‚diesen Moment will ich mir festhalten.‘
Etwas wichtiges ist geschehen. Mit der Öffnung der Lokale hat der Kiez heute eine höhere Gangschaltung eingelegt. Noch nicht die vier und schon gar nicht die fünf, aber von der zwei in die drei zu schalten schafft bereits einen Moment des befreiten Aufatmens. Auf der Ecke zur Pfalzburgerstraße hat sich eine große Gruppe junger Männer mit Biergläsern in der Hand niedergelassen, die Stühle im Halbkreis auf den Gehsteig und den angrenzenden Straßenabschnitt gestellt. Die wenigen Autos manövrieren vorsichtig – man würde fast denken: nachsichtig - an Ihnen vorbei. Beim Eisladen stehen aufgeregt die Kinder, kehren die Erwachsene ihr Gesicht zur Sonne, beschnüffeln sich die Hunde, schauen die Nachbarn aus den Fenstern. Dem exzentrischen Leser in den zwanziger Jahren des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts, der sich über unsere Erlebnisse im Zeitalter der ersten Corona-Krise ein Bild machen möchte, möge gesagt sein, dass uns allen etwas Gemeinsames anhaftete. Wir taten, was man in Berlin sonst nur selten tut: wir lachten uns gegenseitig zu. 

 

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Donnerstag, der 14. Mai – Corona!

5/14/2020

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Italienischer Restaurantbesitzer (60). Ort: Seitenstraße der Konstanzer Straße
 
Dienstag, der 12. Mai
‚Signor! Wie geht es Ihnen!?‘ ‚Wie es geht, Signora? Wie soll es gehen? Es ist schwer. Jeden Tag wache ich auf mit einem Gefühl der Fremdheit. Das ist alles nicht natürlich und es geht auch nicht vorbei. Jeden Tag wieder von vorne! Wo soll das hingehen? Aber meine Verwandten in Italien, die haben es noch schwerer. Die dürfen nicht mal raus! Dagegen ist es hier noch immer eine Art Freizeit. Man kann joggen. Man kann spazieren gehen, Pilze suchen! Aber trotzdem: schwer. Jetzt dürfen wir am Freitag das Restaurant wieder öffnen. Aber ehrlich, wie soll das gehen? All diese Leute hier drinnen an den Tischen. Da kann man sich doch so wieder infizieren!‘ 
Ich verspreche, in zwei Tagen noch einmal vorbeizuschauen.
Donnerstag, der 14. Mai
Als ich wiederkomme ist der Laden am Brummen. Der Restaurantraum wurde heute auf Hochglanz geputzt und die schweren Eichentische neu aufgestellt. Diejenige, die jetzt fehl am Platz sind, werden gerade nach draußen getragen. Das sind ziemlich viele. Aber alle sind wieder da und packen mit an. Die junge Frau in der Bar, die die ganze Zeit beim Kind zuhause geblieben ist, nickt verstohlen und lacht. Der ältliche Kellner, der uns immer mit einer leichten zeremoniellen Verbeugung empfing, steht heute lächelnd im Eingang und grüßt die Vorbeigehenden: Come stai! Come stai! Bona sera, Signor! Bona serata, Signorina! Es wird rege zurückgegrüßt. Man freut sich. Autos fahren vor, um eine Tischbestellung zu machen. Der Chef flitzt vorbei, ruft, ‚Gleich, Signora!‘, trägt Einkäufe rein, trägt eine Tischplatte raus, macht im Vorbeigehen Witze mit einem Pizza-Abholer, schwitzt. 
Als er sich zu mir stellt zieht er ein großes Taschentuch raus. ‚Am 17. März haben wir schon zugemacht. Samstag ist das zwei Monate her. Es muss jetzt was passieren! Morgen machen wir auf!‘ Damit ich richtig verstehe was los ist, presst er den Daumen mit den Zeige- und Mittelfingern zusammen und beschreibt damit einen Kreis in der Luft. Öffnen ja. Aber die Öffnungszeiten halten sich vorläufig noch in Grenzen. Zu Mittag gibt es weiter den Abhol-Service. Abends wird das Restaurant nur von sechs bis zehn geöffnet sein. Das ist nicht viel, aber es ist ein Anfang. Man wird abwarten müssen und zuschauen, wie es weiter geht. ‚Es sind harte Zeiten, Signora. Da sind wir in hundert Tagen noch nicht raus. Aber Weihnachten vielleicht. Weihnachten wäre gut.‘ Er schaut mich zweifelnd an. 
Auf dem Nachhauseweg steht ein Mann mitten auf dem Gehsteig. Soeben hat er seinen kleinen Sohn auf die Schultern gehievt und hält die Hände noch schützend hoch. Der Junge aber balanciert da oben als ob es die natürlichste Sache der Welt ist. Er kann das. Die väterlichen Schultern sind ihm wohlvertraut. Als er meiner ansichtig wird ruft er triumphierend: ‚Corona!‘  


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Mittwoch, der 13. Mai – In der Falle

5/13/2020

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Verwalter eines Appartementhauses (47). Ort: Hohenzollerndamm
 
Meine Mieter kommen meistens aus Libyen, manchmal auch aus den Golfstaaten, aber meistens aus Libyen. Es sind Schwerkranke die hierherkommen, um in Berliner Krankenhäuser behandelt zu werden. Meistens reisen sie mit Verwandten an, mit einem Sohn, einer Tochter oder einer Ehefrau, die sie während der Reise begleiten, während der Behandlung im Appartement wohnen und sie im Krankenhaus besuchen. Das ist eine große Aufgabe. Libyer können nur über Tunis hierher fliegen und um zum Flughafen zu gelangen müssen sie ein gefährliche Reise auf sich nehmen, - erst mit Bussen, dann mit Autos, oft umsteigen, viele Umwege, so ungefähr. Für kranke Menschen ist das sehr beschwerlich. 
Als sich in März die Krise ausbreitete machte Tunesien früher zu als Deutschland. Meine Mieter konnten also auf einmal nicht mehr zurückfliegen. Panik. Während wir noch nachdachten über Alternativrouten machte auch Deutschland zu. Seitdem sitzen sie hier fest, jetzt schon seit sieben Wochen. Die Behandlungen wurden abgesagt und neue Termine nicht vergeben. Das war sehr schwer für sie. Jetzt kommt zwar alles langsam wieder im Gang. In Juni geht es wieder mit den Terminen los. Aber bei den meisten Mietern ist das Geld ausgegangen, oder, sagen wir mal so, sie können nicht mehr darankommen. Jetzt werden sie alle versuchen, bei der erstbesten Gelegenheit wieder nach Tunis zu fliegen. Zwar haben sie mir versprochen, das Geld zu schicken sobald sie wieder daheim sind. Aber, - was soll ich sagen? Wie soll ich ihnen hinterher, wenn sie das nicht tun? Nein, das Geld ist weg. Das ist für mich ein einziger Verlustposten gewesen. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Sie auf die Straße setzen? Das sind Schwerkranke, das kann man nicht machen, rein menschlich kommt das nicht im Frage. Und, verstehen Sie, man lernt sich kennen, sieben Wochen ist eine lange Zeit. Diese Menschen haben viele, viele Probleme. Glauben Sie mir.
Er atmet durch und schaut mich an: ein Palästinenser, der in den frühen 1990 Jahren nach Berlin kam, um an der TU Elektroingenieur zu studieren und Wahlberliner geworden ist. Jetzt verwaltet er dieses Haus, das einzige in seiner Sorte in Berlin. Für die Zukunft sieht er schwarz. Aus Libyen und den Golfstaaten werden sie nicht mehr hierherkommen, sagt er. Europa ist in der arabischen Welt als eine hochinfizierte Region verschrien. Die drüben wollen nicht sehen, dass hier mehr getestet wird als anderswo und dass die Zahlen dadurch höher sind. Was das Virus in Nordafrika anrichtet, das wissen wir einfach nicht. Darüber gibt es schlicht keine Zahlen.
Was er machen wird? Das weiß er noch nicht. Jetzt ist Ramadan. Das Fasten macht müde und schläfrig, da kann er nicht so klar denken. Aber danach ist wieder eine andere Zeit. Eines ist aber jetzt schon deutlich geworden: das Virus wird uns erhalten bleiben bis ein Serum gefunden ist. Und das kann dauern.


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Dienstag, der 12. Mai – Um den Schlaf gebracht

5/12/2020

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Weinimporteur (55). Ort: Seitenstraße der Uhlandstraße
 
Ein kleiner Laden. Rechterhand australische Stiefel. Linkerhand Kisten und ein großer Kühlschrank voller Weinflaschen, ebenfalls aus Australien. In der Mitte ein Ledersofa zum Fernsehgucken. Der hintere Teil ist mit Tisch, Stuhl und Bildschirm als Büro ausstaffiert: Voilà das Kontor des Großimporteurs australischer Weine in Berlin. Er selber sagt entschuldigend, dass die Vorstellung ‚ins Büro zu gehen‘ ihm immer abstoßend gewesen ist. Viel besser sei es für ihn, in einem Laden zu sitzen, regelmäßig Leute zu sehen und nebenbei die weltumspannenden Fahrten seiner Weincontainer zu verfolgen. Außerdem ist es fürs Geschäft besser, mehrgleisig zu fahren. Anfänglich, vor zwanzig Jahren, sagt er, lag das Verhältnis Wein – Stiefel noch bei 90:10. Heute ist es schon 70:30. Das ist eine gute Entwicklung. Als Geschäftsmann muss man flexibel bleiben. Das hat die Corona-Krise mal wieder bestätigt.
Wie denn? Ganz einfach. Das ging so: Von China fuhren Ende Januar keine Containerschiffe mehr ab. Das Land wurde ja zugemacht. Dadurch fehlten als nächstes Container in Australien. Kein Container, kein Transport. Aber sein Geschäft ist es nun mal, den Transport australischer Wein vom Weinbauer bis zum Abnehmer zu organisieren. Er sorgt dafür, dass leere Container beim Weingut abgestellt, befüllt, zu den Containerhafen gebracht, in dem reservierten Slot gestellt, um die Welt gefahren, abgeliefert, und schließlich bis zum Abnehmer transportiert werden. Ohne Container fiel das alles nun weg. Aber nicht genug damit. Als nächstes sagten auch die Abnehmer ihre Bestellungen ab, oder sie zahlten nicht. Zwar fahren seit Anfang Mai die Containerschiffe wieder rund um die Welt, aber das Loch, das in der Bilanz geschlagen worden ist, wird so schnell nicht gefüllt werden können. 
Hat er schlaflose Nächte gehabt? Doch das hat er. Das Ganze hat ihn nachts des öfteren wach gehalten. Und leider auch ungeduldiger mit den Kindern. Er hebt bedauernd die Schultern. Anderseits hat er schlagartig aufgehört noch ein Glas zu trinken und das war wirklich nicht einfach mit all dem Wein vor der Nase. Sechs Wochen ist das jetzt her. ‚In Krisen brauche ich einen klaren Kopf‘, sagt er, und ist auch ein wenig Stolz ob der Leistung. ‚Außerdem passen die Hosen jetzt besser!‘ 
Wie es weiter gehen wird? Das hängt von vielen Faktoren ab. Restaurants und Tankstellen, beide wichtige Abnehmer australischer Weine, wurden hart getroffen. Der Großhandel hält sich entsprechend zurück. Aber auch im Kleinen herrscht Zurückhaltung. Die Leute wissen nicht, ob sie in Ferien fahren können, also kaufen sie keine australische Sandalen wie sonst um dieser Zeit, um nur ein Beispiel zu nennen. Vorläufig fährt er also mit halber Kraft und auch mithilfe eines Überbrückungskredits. Sonst, ja wirklich, sonst könnte er einpacken. Und das, sagt er, wird wahrscheinlich vielen so gehen.
 


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Montag, der 11. Mai – Die Bekloppten

5/12/2020

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Inhaberin einer Apotheke (46). Ort: Uhlandstraße
 
Morgens im Park: ‚Wie geht’s?‘ ‚Wir halten es gut. Dann kommt es auch gut!‘ Wenig später beim Zeitungsmann: ‚Weniger Lärm tut gut!‘ Ich gehe zur Apotheke, fragen, wie die Stimmung im Kiez so ist.
Haben Sie noch einen Mundschutz für mich?
Natürlich, die haben ich jetzt in rauen Mengen. Die Apothekerversion ist etwas besser als die Selbstgemachte, aber davon habe ich auch ein paar angeschafft. Sieht etwas freundlicher aus, finde ich. Also, die trage ich selber auch. Wir werden uns daran gewöhnen müssen.
Hoffentlich nicht.
Doch. Solange kein Impfstoff gefunden wird, werden wir sie tragen müssen. Bis nächsten Sommer mindestens. In diesem Sommer wird die Kurve etwas runter gehen, so wie bei der Grippe auch in jedem Jahr, aber sobald es Herbst wird, ist das Virus wieder zurück. Das kann man sich an den Fingern abzählen. Die Grippe kommt auch jedes Jahr zurück, von Januar bis März, aber dafür kann man sich impfen lassen. Sollte man auch tun, wenn man ein bisschen Vernunft hat.
Ich höre immer öfter: Was soll das alles? Die 2018-Grippe hat 20.000 Tote gefordert, dieses Virus aber nur 7.000. 
Ja, höre ich auch jeden Tag, kriege ich sozusagen von jedem zweiten Kunden an den Kopf geworfen. Aber die vergessen, dass man sich gegen dieses Virus nicht schützen kann. Dabei ist es hochansteckend und gefährlich. Wenn man liest, was es alles verursachen kann... Außerdem hinterlässt es Spuren. Wer es einmal gehabt hat, ist ein Leben lang weiter damit beschäftigt. Nee, sollte man besser nicht kriegen.
Haben Sie eine größere Laufkundschaft bekommen?
Es geht jetzt wieder. Aber am Anfang, die ersten sechs Wochen oder so, die waren zum wahnsinnig werden. So was hatte ich noch nicht erlebt. Der normale Betrieb ging natürlich weiter. Die Leute gehen weiter zum Arzt. Aber dann wollten sie sich zusätzlich mit Vitaminen und Mineralien eindecken. Dachten, dass sie sich damit gegen das Virus schützen würden. Alles Unsinn natürlich, man tut besser daran, ausreichend Obst und Gemüse zu essen. Aber sag das mal einer. Da redet man gegen eine Wand.
Verschwörungstheorien?
(Denkt nach). Ich glaube, ich hatte bislang nur einen einzigen. Der wollte mir erzählen, dass es die Chinesen waren. Nicht Merkel, nicht Bill Gates, - die Chinesen! Die würden jetzt jedes Jahr ein neues Vitus um die Welt schicken, um die Weltherrschaft zu erobern. Damit konnte ich nun gar nichts anfangen. Habe das Thema gewechselt, was soll man auch machen. Diskutieren geht nicht. Ansonsten ist das hier eher eine ruhige Ecke. Doch. Die Leute haben ihre Macken, aber bekloppt, nein, das sind sie nicht.


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Sonntag, der 10. Mai, Zur Schule

5/12/2020

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Samstag, der 9. Mai – Auf Sicht fahren

5/9/2020

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Hoch-Bau Architektin (45). Ort: Volkspark
 
Seit diese Krise begonnen hat fahre ich auf Sicht, so von – halt sehen was kommt und das jeden Tag von neuem. Mein Leben ist mehr nicht planbar und wie es aussieht wird es auf lange Sicht auch nicht sein. Geplant war, dass der Kleine, der gerade ein Jahr alt geworden ist, in Mai in dieselbe Kita kommen würde in die mein Großer bis Ausbruch der Krise schon ging. Geplant war auch, dass ich im Sommer wieder in den Arbeitsprozess einsteigen und erste Aufträge akquirieren würde. Das wäre gegangen. Der Markt ist gerade gut und Leute wie ich werden händeringend gesucht. Aber daraus wird nun nichts.  Das kann ich jetzt vergessen. Mit zwei kleinen Kindern zuhause sind mir die Hände gebunden. Am Anfang war ich erbost darüber. Ich habe sogar sehr damit gehadert wie auf einmal, mir nichts dir nichts meine Bürgerrechte eingeschränkt wurden. So von, - das machen wir jetzt mal, nur vorübergehend, muss halt sein.
Du musst wissen, ich bin Bürgerin dieses Landes, hinter dessen Grundgesetze ich völlig stehe, und bin somit in einem ganz bestimmten Umfeld aufgewachsen. Ich habe mich viel mit der Nazi-Vergangenheit auseinandergesetzt, habe meine ersten Zeitzeugen so zu sagen schon in der Grundschule gehört. Immer ging es darum, dass wir lernten die Anfänge zu erkennen. In den 1930er Jahren waren sie alle miteinander peux-à-peux in den Abgrund geschlittert: hier noch ein Gesetz, dort noch eine Maßnahme und dann saßen sie auf einmal in der Falle. Da gab es keinen Weg mehr zurück. Und vor zwei Monaten dachte ich, jetzt geht es wieder von vorne los, gleich sitzen wir drin und werden die Maßnahmen festgemeißelt. Damit habe ich gehadert.
Meine Umgebung hat mir meine Bosheit nicht gespiegelt. Die sagten alle, wieso, das muss jetzt sein, ist nur für kurze Zeit. Und dann merkte ich auch, dass meine Unruhe von der AFD vereinnahmt wurde, dass die versuchten genau daraus Münze zu schlagen. Das wollte ich auch wieder nicht. Das bin ich nicht. Da gehöre ich nicht hin. Also habe ich es gelassen. 
Seitdem versuche ich jeden Tag zu sehen was kommt und es dann auch anzunehmen. Das ist total schwierig. Finanziell ist es enger geworden. Außerdem habe ich die kleinen Inseln, die ich für mich geschaffen hatte, - mal eine Freundin zum Lunch treffen, mal ohne Kinder einkaufen oder in den Garten gehen - verloren. Für die Kinder bedeutet es, dass ich ungeduldiger geworden bin. Das merken sie und die geben mir das zurück. Der Älteste, der ist eigentlich ein ganz lieber, der tut auf einmal Dinge wovon er weiß, dass sie mich ärgern. Ob ihm Aufmerksamkeit fehlt oder was anders muss ich noch herausfinden.
Wir müssen ein neues Gleichgewicht finden. Aus dem ‚nur für ein paar Wochen‘ ist jetzt doch eine unbestimmt lange Zeit geworden. Ich mag gar nicht daran denken, wie das weiter gehen wird. Darum sage ich die ganze Zeit, ich fahre auf Sicht.


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Freitag, der 8. Mai – In froher Erwartung

5/8/2020

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Ärztin (32). Ort: Seitenstraße der Uhlandstraße
 
Ich sehe sie am Fenster im ersten Stock, gerade damit beschäftigt ihrem Partner eine Tüte herunter zu werfen, aufgeweckt, energisch und hochschwanger. Will sie mich erzählen was die Krise für sie bedeutet? frage ich nach oben. Sie will. Das darauffolgende Gespräch führen wir durch die Eingangstür, ich draußen im Flur, die beiden drinnen, eine Sicherheitsabstand von mindestens zwei Metern zwischen uns.
Wie es geht? Gut geht’s. Sie hatte das Glück, dass ihre Hausärztin ihr gleich zu Beginn der Krise wegen der Schwangerschaft krank schrieb. Das war zwar eine Koinzidenz, aber es war ihr schon recht gewesen. Die Morgenbesprechungen im Krankenhaus waren ihr immer suspekter vorgekommen. Fünfzig Ärzte dicht an dicht in einem Zimmer und Besprechungen, die immer länger dauerten. Das war der Beginn der Covid. Es gab jeden Tag mehr zu bereden. Klar war auch gleich, dass es kaum Schutzkleidung geben würde. Man würde improvisieren müssen. Die Ärztin neben ihr auf dem Flur machte noch alle Covid-Abstriche alleine, aber sie tranken Kaffee aus derselben Kaffeemaschine. Sie dachte an ihr Kind im Bauch und war froh, sich und das Baby isolieren zu können.
‚Wann es kommt? Ende Mai, Anfang Juni. Wir werden dafür doch ins Krankenhaus gehen müssen. Es ist das erste Mal und man weiß ja nicht, ob es Komplikationen geben wird. Mein Körper ist es noch nicht gewohnt. Dann besser im Kreissaal. Aber wenn alles gut geht werden wir nach vier Stunden wieder heim gehen. Besser zuhause als dort. Dort kann jeden Moment ein anderer durch die Tür kommen. Nein danke!‘ Ihr Partner sagt, ‚ich darf bei der Geburt dabei sein, aber danach würde ich sie dann nicht besuchen können.‘ Beide lachen ob der Absurdität der Lage. Aber dann meint sie: ‚Was soll man auch machen? Es geht nicht anders. Wir müssen uns anpassen.‘ 
Er: ‚Jetzt wird gesagt, dass der erste Impfstoff in einem Jahr erwartet wird. Aber für Masern hat man vier Jahre benötigt. Das ist die Realität, damit müssen wir versuchen zu leben. Nicht einander anstecken. Konsequent Mundschutz tragen, das hilft. Ich begreife die Leute nicht, die stattdessen allerlei absurden Verschwörungstheorien hinterherlaufen, zum Beispiel dass Merkel das macht, um uns einen elektrischen Chip zu implantieren. Das ist doch absurd.‘ Beide ärgern sie sich an den Leuten im Supermarkt, die nur lässig einen Mundschutz überstreifen, weil es halt sein muss, aber ihn sofort nach der Kasse wieder herunterziehen. Fahrlässig. ‚Diese arme Kassiererinnen, die sitzen da den ganzen Tag stoisch hinter der Scheibe. Die müssen das alles ertragen.‘
Es ist schwierig ausgerechnet jetzt ein Kind zu bekommen, meint sie. Abgesehen vom Risikofaktor Krankenhaus, abgesehen davon, dass man noch nicht genau weiß, was das Virus mit Kindern macht: keine Kita, kein Kinderladen nimmt jetzt neue Kinder auf. Sich in einer Liste eintragen? Geht nicht! Auch deshalb überlegt sie sich, ihre Mutterzeit auf einundeinhalb Jahre auszuweiten. ‚Wäre doch gut. Wenn das Baby dann anfängt zu laufen bin ich dabei. Das würde ich sonst verpassen.‘ Beide stehen da und lächeln versonnen. Zwei Eltern in froher Erwartung. Wir wünschen ihnen alles Gute.
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Donnerstag, der 7. Mai – Omar's Geschichte

5/7/2020

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Inhaber eines Falafel-Imbisses (40). Ort: Uhlandstraße
 
Er steht vor seinem Laden mit den Händen in den Hosentaschen. Eine schmächtige jugendliche Gestalt, hellblauer Pullover, schwarze Schildpad-Brille, intellektuelles Gesicht. Wir sind verabredet, aber er weiß nicht so genau was er mir sagen soll. Verlegen. Als ich frage, ‚warum diese Ecke?‘, lacht er.
‚Ich bin 2010 von Damaskus hierhergezogen. Davor war ich schon ein paar Mal in Berlin, fand es eine coole Stadt, mehr so meine Stadt. Hier gab es allerlei Möglichkeiten. Hier gehöre ich hin, dachte ich. In Damaskus war damals alles schwierig, zu bürokratisch, nichts ging mehr. Das war ein Jahr bevor der Krieg begann. Ich habe mich zuerst in Berlin an der Universität beworben und bekam auch gleich einen Studienplatz. Dann dachte ich, nein, ich will meinen Traum verwirklichen. Ich hatte einen Traum von einem eigenen Restaurant mit Essen, das genauso gut wie zuhause schmeckt. Mein Restaurant sollte das gewisse Etwas haben. Wenn das Essen hervorragend und die Musik gut ist, und es dazu noch eine coole Atmosphäre gibt, dann hat man all die Elemente zusammen, die Zauber hervorrufen können. Das wollte ich erreichen.  
Zuletzt habe ich im Waldorf-Astoria am Zoo gearbeitet, schickes Hotel, aber das war es nicht für mich. Es hat alles länger gedauert als ich dachte, aber 2019 konnte ich dann hier dieses Lokal öffnen. Es ist eine schwierige Ecke, das ist wohl wahr, aber ich wohne hier (weist nach oben) und wenn das Essen gut ist kommen die Leute irgendwann von selber. Wir führen verschiedene syrische Gerichte, darunter der Damaszener Falafel. Die erhält viel Petersilie und Koriander sowie zehn Kräuter, die natürlich zum Betriebsgeheimnis gehören. Sie ist knusprig, aber nicht fett. Man gibt sie schöne Beilagen und Soßen bei. Sie sieht einfach schön aus. Um das zu erreichen muss man etwas mehr investieren, gute Qualität einkaufen, gute Qualität liefern, dann spricht sich das herum. Aber man braucht Zeit dafür.
Nachdem ich ein halbes Jahr geöffnet hatte hörte ich dass ich wegen Bauarbeiten schließen musste. Na schön. Hat man gerade geöffnet, dann das. So bleiben einem doch die Kunden weg! Ich sagte erst, vergiß es, aber es ging um einen schwerwiegenden Baufehler. Mein Anwalt sagte, das kann dir noch gefährlich werden, wenn die Decke runterkommt. Mache es! Aber zumachen wollte ich nicht. Da habe ich also nur die Ecke mit den Tischen zugemacht und auf Imbiss umgestellt. 
Das war Januar. Wir wollten gerade wieder zum normalen Betrieb zurück, dann kam Corona. Aber wissen Sie, eigentlich haben wir dadurch gewonnen. Alle Restaurants gingen zu. Wir blieben offen. Wir waren schon Imbiss. Es sind in der Zeit ganz neue Leute gekommen, wollten mal ausprobieren und haben gemerkt, mmm, das schmeckt! Der Laden läuft noch nicht ganz wie er laufen soll. Das braucht halt seine Zeit.
Vor seinem Laden hat er gegen die Wände kleine Gärten angelegt und drinnen Kakteen angepflanzt. Nun will er noch Clematis hochklettern lassen und nach dem 16. Mai, wenn Tische wieder erlaubt sind, draußen die Tische wieder aufstellen. Ein Fleckchen Damaskus in Berlin. ‚Ich bin ein optimistischer Mensch‘, sagt er zum Abschied. ‚So schnell gebe ich nicht auf.‘ 


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    Die Autorin wohnt in Berlin-Wilmersdorf

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    May 2020
    April 2020

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