DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins
​in der Corona-Krise
​
I. Das Geräusch der Stille

Abgeschlossen

Von 18. März bis 23. April

Dienstag, der 24. März - Wo Berlin am Stillsten ist

3/24/2020

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Heute ist es still. Stille auf allen Wegen, wie der Dichter sagt. Die Sonne ist aufgegangen und hat die Häuser berührt. Die Zeitung lag wie von Zauberhand auf der Matte. Die Müllmänner sind gekommen und haben die Tonnen durch den Hof gerollt. Dann haben die Staren noch laute Pfeiftöne von sich gegeben. Dann war Ruh‘. Am Anfang der Schöpfung soll die Welt tohu wa bohu, wüst und leer gewesen sein. Von Lärm war nie die Rede. In der Antike bedeutete Stille Einsamkeit oder die greifbare Nähe der Transzendenz, ein Ort voller Potential. Wir, die wir in unseren Wohnungen sitzen und verständnislos nach draußen schauen, nähern uns ihm langsam an. Draußen glänzt die Straße vor Möglichkeiten. Ein DHL Fahrer hält, trägt Pakete in den Kiosk, fährt wieder davon, lässt Stille zurück. Wo es heute in Berlin am Stillsten ist? Ich begebe mich auf die Suche.
Auf dem Vorplatz des Berliner Krematoriums, aufgestellt in der Choreographie dieser Tage, verharren schweigend sieben Personen, jede mit einer weißen Rose in der Hand. Zwischen vier Grablichtern die Urne. Der Friedhofswärter spricht einen Satz in die Stille hinein, umfasst die Urne, schreitet sorgfältig den Säulengang entlang. Die Füße der Trauernden klopfen ein Requiem auf das Pflaster. In mir steigen Purcell’s funeral sentences hoch‚ ‘In the midst of life we are in death‘ und ‘Rejoice in the Lord alway / and again I say rejoice.’ 
An der anderen Seite des Krematoriums liegt das Gräberfeld verlassen in der Mittagsonne. Hier ruhen sie, die auch im Tode sich nicht von der Religion vereinnahmen lassen wollten. Berliner mit altbekannten Namen wie Schubert, Naumann und Blisse. Nachkommen aus den bi-nationalen Ehen der Zwischenkriegszeit wie Ursula Özdemir, Dr. Soraja Wenig, Abdel Kader Sheikh-Ali oder Feiridoun Kankarlou. Eine Familie Asher. Eine Familie Levin. Die Ghazanfarians. Berlin war immer ein multikultureller und vor allem ein säkularer Ort. Um das zu wissen braucht es nicht den Lärm der Wilmersdorfer Straße oder der Sonnenallee. Hier waren sie schon immer in Stille vereint. 
Hinter dem Friedhof die Stadtautobahn. Ich folge ihr bis zur Fußgängerbrücke und schaue überm Rand. Nein, noch keine autofreie Sonntag Qualität, aber seit langem nicht mehr so leer. Das lässt hoffen. Ich weiß nicht was 1972 die Berliner machten, aber wir in Amsterdam, wir fuhren mit unseren Fahrrädern und Rollerblades auf die Autobahn und veranstalteten jeden Sonntag ein Fest. 
Zuhause begrüßt mich Karl Gottfried von Leitner: ‚Es ist so still, so heimlich um mich /
Die Sonn‘ ist unter, der Tag entwich / Wie schnell nun heran der Abend graut! / Mir ist es recht, sonst ist mir’s zu laut.‘ Vertont von Franz Schubert, gesungen von Christian Gerhaher mit Gerold Huber am Klavier ist das ein unwiderstehlicher Genuss.


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Montag, der 23. März - Auf der Suche nach 'Russki Berlin'

3/23/2020

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Die Russen sind in keiner besonderen Gegend zuhause. Dafür gibt es Ukrainer, Weißrussen, Tataren, Armenier, Aserbaidschaner, Russlanddeutsche und Georgier, die in Berlin in denselben Läden einkaufen, in denselben Restaurants essen gehen, denselben russischen Zeitungen lesen und Gotteshäuser aller Art unterhalten. Dazu Musiker, Diskos, eine Russenmafia und ein dichtes Netz an Spielhallen. Wohin also gehen, um in Erfahrung zu bringen wie es ihnen geht? Ich fange in der Uhlandstraße an und lerne: so schnell geben Russen nicht auf. Die Grüne Laterne zum Beispiel, Berlins‘ bekanntestes russisches Restaurant, hat nach der gestrigen Restaurantschließung umgehend eine Renovierung in Angriff genommen. Tische, Bänke, Theke, Teile der Wandverkleidung stehen schon draußen, drinnen erste Klopfgeräusche und Staub. Das Avant-Garde, ein paar Häuser weiter, hat kurzerhand auf Mittagstisch umgeschaltet, Süßwasserfische vom Holzkohlengrill für 6.95€. Eine Dame putzt noch die Fenster. Um 12.00 kann es losgehen. Auch das Lemberg hat geöffnet. Die Eigentümerin, eine wahre Hohenpriesterin des Kaviars, lässt wie gewohnt die Kunden kosten, empfiehlt die Tageslieferung, wiegt ab. Im Supermarkt Russia am S-Bahnhof Charlottenburg dröhnt peppiger russischer Pop. Ich kaufe die Zeitung ‚Russki Berlin‘, Sesam in Honig und kandierten Ingwer. Beim Ingwer lacht der Kassierer kurz in seinem Mundschutz. ‚Ich esse auch Ingwer. Ist gut gegen die Erkältung. Ist gut für die Laune!‘ Der Ingwer also, der könnte sich noch als Retter in der Not herausstellen.
In der Zeitung ein Foto von Patriarch Kirill. Die FAZ meldete bereits, dass, wenn es nach diesem Mann geht, die Ostermessen stattfinden, der Gemeinschaftslöffel aber, mit dem die Kommunion verabreicht wird, nach jedem Gebrauch desinfiziert werden soll. Ich setze Kurs Richtung Fehrbelliner Platz, um die Nachricht zu verifizieren. Die Russische Kirche liegt jedoch verwaist. Dahinter schimmern die Minarette der Ahmadiyya Moschee. Warum nicht den Imam fragen, ob sie in letzter Zeit noch Kontakt hatten? Auf mein Klingeln kommt er in den Garten heraus. Wir unterhalten uns übers Tor. ‚Wie geht es dem Imam?‘ Breites Lächeln. ‚Endlich meine Ruhe‘. Bereits 1924 war die Moschee eine Anlaufstelle für Tataren und ist es bis heute geblieben. ‚Was machen die nebenan?‘ Jemand sei gekommen mit Packen Mehl und Reis, sagt er. Fragte, ob er die Moschee als Lagerplatz benutzen könne. Er hat ihn abgewiesen. ‚Wir haben die Bomben (im zweiten Weltkrieg) überlebt. Werden wir das hier auch wohl überleben.‘ 
Auf dem Heimweg stelle ich fest, dass die Buchhandlungen offen sind. Ach Deutschland, einig Lese-Land. Ich liebe Dich. Was wären wir jetzt ohne ein Buch? Auf meinem Schreibtisch liegt noch Wladimir Kaminer. Ich schlage willkürlich auf und finde ‚Nie etwas ausdenken, sondern immer dem Leben vertrauen.‘ Ein prima Rat.


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Sonntag, der 22. März - Der Wilmersdorfer Kiez

3/22/2020

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Wir haben es geschafft. Gestern Abend um Sieben trat unser Teil der Düsseldorfer Straße auf den Balkon hinaus und applaudierte dem Pflegepersonal. An der Überseite wurden Wunderkerzen dazu geschwenkt. Zum Abschluss klang ein ‚Tschüss bis Morgen‘ über die Straße. Dann war es wieder still. 
Wer sind die Wilmersdorfer? Selbstgenügsam und verschwiegen. Die Leute mit der höchsten Biomarkt-Dichte. Airbnb Vermieter. Gabriele Tergit schrieb schon 1931 über die riesigen Zehn-Zimmerwohnungen, die bis zur Decke mit Büchern und Möbeln vollgestopft waren. Doch ändert sich momentan etwas gewaltig. Eine Freundin schrieb heute morgen aus der Mommsenstraße, dass das Geräusch der Rollkoffer seit gut einer Woche verschwunden sei. Ich gehe heute quer durch die wohlbekannten Straßen, um dem Kiez etwas Neues abzugewinnen. 
Wilmersdorf, das ist zuallererst Unten und Oben, Geschichte und Gegenwart. Oben der Stuck und die Loggias wo nur selten sich jemand blicken lässt. Unten die Stolpersteine, die von den früheren Wilmersdorfern zeugen. In der Fasanenstraße zähle ich alleine 60, von Edith und Franz Josephy nahe Hohenzollerndamm bis zur Familie Béhar an der Ecke zur Kantstraße. In der Nassauischen, der Holsteinischen, der Uhland- , der Kant- und der Mommsenstraße dürften es wesentlich mehr sein. Ich bücke mich heute zu den Schwestern Katharina und Hermine Berend, Jahrgang 1868 respektive 1871, schicke ein Foto an Judith in California, die mir schon oft bei meinen Recherchen geholfen hat und empfange prompt zwei Todesanzeichen. Stand: Ledig. Religion: Mosaisch. Sterbeort: Theresienstadt. Zimmer: L. 415 – 26. Datum 14.4.42. Todesursache: Morbus Senilis. Wie lange die beiden wohl in ihrer Wohnung eingesperrt waren, bevor sie dieses Schicksal ereilte?
Am Ludwigkirchplatz kommen Spaziergänger nach draußen, Eltern mit Hunden und Kindern, einsame Läufer, eine alte Dame im Rollstuhl und ihr Begleiter. Eine Rauchergruppe bildet sich. Zwei Jungs legen verstohlen ihr Skateboard aus. Bei Bäckermann hat sich eine Schlange gebildet. Ein junger Russe regt sich lauthals über das Abstandhalten auf, benutzt Worte wie hysterisch und sinnlos. Die übrigen Wartenden weichen still bis an die Bordsteinkante zurück. Auch beim Portugiesen wird Gebäck eingeholt, auch dort stehen Russen an, diesmal mit Mundschutz. Die Kirche liegt verlassen in der Mitte.
Der Wilmersdorfer Kiez ist auch überaltert. Wohnhäuser wurden in Seniorenheimen umgewandelt. In einigen Straßen werden im großen Stil Nachlässe gekauft und verwaltet, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Dinge sich langsam zu ändern beginnen. Ich passiere eine Wohngemeinschaft für Alzheimer Patienten. Das Haus, in jedem Stock zwölf Zimmer um den Hof, ist mir von vielen Besuchen bekannt. Wie es momentan dort oben wohl aussieht? Wer eine Frage formuliert, hörte ich soeben eine Humanmedizinerin im Fernsehen sagen, der wächst von selber in die Antwort hinein. Rilke. Wir werden es ihm heute gleichtun müssen. 


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Samstag, der 21. März - Auf der Sonnenallee

3/21/2020

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Wo in Berlin ist es belebter als Samstagmorgen auf der Sonnenallee? Richtig. Samstagabend auf der Sonnenallee, wenn die Straßenschiffe und die Barbesitzer ihre Lautstärke um die Wette aufdrehen. Gleich zu Anfang springen die Zettel ins Auge die überall an die Hauswände kleben. Die Aufschrift ‚Wir trauern. #Saytheirnames‘. Dazu die Gesichter von Sedat Gürbüz, Hamaz Kurtovic, Vilo Viorel Paun, Ferhat Unran, Kaloyan Volkov, Gökhar Gültekin, Mercedes Kievpacz, Said Nesar Hashmi und Sedat Gürbüz. Wie jung sie noch waren. Am 25. Februar wurden sie ermordet. Erst ein Monat ist das her, hier sind sie noch nicht vergessen. An diesem Morgen geht es, der schneidenden Kälte zum Trotz, auf der Sonnenallee noch immer belebter zu als auf dem Ku’damm.
Auf der Sonnenallee reihen sich die Juweliere, die Leih- und Pfandhäuser, die Spielotheken, Sportwetten, Spätis, Cocktail- und Shisha-Bars dicht an dicht, dazwischen Süßigkeits- und Gemüseläden, Metzger mit halben Schafen in der Fensterauslage, Showarma- und Hühnergrills. Heute gibt es ein Menschengedränge bei den Gemüseauslagen. Der Inhaber hat sich seinen Mundschutz in die Haare geschoben und zieht gerade die Plastikhandschuhen aus, um besser zupacken zu können. Männer gehen mit Tüten voller Zwiebeln und Orangen davon. Autos warten am Straßenrand, um die Einkäufe im Empfang zu nehmen. Eine füllige Matrone hat ihre beiden Söhne im Schlepptau, vier Tüten in jeder Hand. Der Teeverkäufer füllt heiße Kohle in den Boden seiner Teekanne und streckt die Becher aus. Es wird gekauft, gerufen und gelacht. Ein saftiges Arabisch erfüllt die Morgenluft. Moscheen sucht man vergeblich. Dafür gibt es Kleingewerbe, Handwerksbetriebe, Sportzentren, Aushängeschilder in grüner, blauer und roter Leuchtschrift. Ich zähle nur einen Geldautomaten.
Ecke Wildenbruchstraße ist der Kiez zu ende. Ich mache auf der Gegenseite kehrt. Die Sonne kommt raus und beleuchtet die Satelliten Schüssel, die wie ein Feld Sonnenblumen ihre Schalen gegen Süden richten. Das beantwortet die Frage, wie sich die arabische Bevölkerung Berlins' über die neue Lage informiert. Unten wirbt die B.Z. mit Riesenbuchstaben: ‚Corona Ausgangssperre. So bereitet Berlin darauf vor‘. Ob jemand am Mittwochabend hier die Bundeskanzlerin gesehen hat?
Ecke Kottbusser Damm sehe ich die ersten nicht-arabischen Gesichter. Bei Penny lässt ein Dutzend Obdachloser eine Zigarette kreisen, jeder mit einer Bierflasche in der Hand. Ein altes Ehepaar trinkt Kaffee beim Zeitungskiosk, ihr klappriger Hund auf der Bank daneben. Chinesen, Asiaten, Afroamerikaner, Spanier, Israelis und Deutsche kommen mir jetzt entgegen. Bioläden, Restaurants und Kaffeegeschäfte laden zum Verweilen ein. Vor der Synagoge am Fränkel Ufer, wo der Säulengang trotzig in blaues und weißes Tuch eingeschlagen ist, wacht eine Polizeistreife. Das Leben geht weiter, - trotz oder wegen der Krise, das ist schwer zu sagen. 


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Freitag, der 20. März - Rundum das Cottbusser Tor

3/20/2020

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Beim Verlassen der U-Bahn nieselt es leicht. Es ist Mittagszeit, der türkische Obststand macht gerade zu. In dem winzigen Frisörladen werden noch Männerköpfe geschoren. Der Inhaber des Zeitungskiosks schließt seine Straßentür ab. Die Zeichen stehen auf Cuma, den Anfang des Freitaggebets. Mehr als siebzig Moscheen gibt es in Berlin, davon ein Dutzend entlang der Skalitzer Straße. Wo sie die Mariannenstraße kreuzt sind die wichtigsten auf einen Blick zu sehen. Rechts die Kuppel und Minarette der Mevlana Moschee. Links die gläserne Front des Omar Ibn Al Khattab. Die Mevlana äugt arg verlassen. Der Zugang zu den Waschlokalen ist von einem Zaun gesperrt. Niemand zu sehen. Regen.
Im Zugangsbereich von Omar Ibn Al Khattab prangt ein großes Plakat in drei Sprachen das die sofortige Schließung auf Anordnung des Senats verkündet. Ich umrunde das Bauwerk, das ebenfalls zwei Restaurants, einen Buchladen und einen Frisör beherbergt. Dort strömt gerade ein Trupp junger Männer durch die dunkel getönte Glastür. Jacken werden hochgezogen, Zigaretten frisch angezündet, man klopft sich gegenseitig auf die Schultern, umarmt sich. Da! Wieder ein Schwung! Jetzt auch ältere Männer darunter. Am Eingang zwei Bettlerinnen, das sichere Zeichen vom Ende des Gebets. Ein Bus hält vor der Tür und nimmt die Beter mit. Aus der Glastür tritt derweil wieder eine Gruppe auf den Gehsteig. So machten die Katholiken in Amsterdam es auch als der Katholizismus dort noch verboten war. 
Bei DITIB, drei Häuser weiter, herrscht ein anderes Regime. Ein Zettel am Tor weist den Gläubigen an, die Ansteckungsgefahr ernst zu nehmen und Sorgfalt und Rücksicht zu üben. Darunter das schöne Koranzitat ‚Wer einen Mensch am Leben erhält, so ist es, als ob er die ganze Menschheit rettet.‘ Im verlassenen Hof toben vier kleine Mädchen auf Rollschuhen: die Töchter des Imams. Der Vater steht in einer Türöffnung und schaut ihnen lächelnd dabei zu. 
In der Naunynstraße herrscht lauter Traurigkeit. Foto Selcuk, Hongkong-Shop und Aki Tatsu Sushi haben zugesperrt. Bei Pho, Hasir Restaurant und Hasir Burger warten die Kellner in ihren weißen Schürzen noch auf Kundschaft. Nur Dilek Blumen macht rege Geschäfte. Ein Stück weiter­ ertönt plötzlich Musik. Bei Baklava Gaziantep, wo sich im Fenster die Honigkringel türmen, drängt stürmisch Beethoven's Apassionata nach außen. Dank der fast autofreien Straße lässt sich das Stück auch vor der Tür zu ende hören. Eine junge Frau bringt mir derweil einen Cappuccino. Ihr Gesicht ist konzentriert, ihr Körper bewegt sich im Takt. Musik ist subversiv, schreibt Edward Said, hat es doch die Kraft jede Schwere zu heben. Und wenn es nur ein bisschen ist.  


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Donnerstag, der 19. März - Auf der Wilmersdorferstraße

3/19/2020

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Unterwegs zum heutigen Ziel, eine Strecke von immerhin zwei Kilometern, begegnen mir fünf angeleinte Hunde samt Begleitung, dazu etwa ebenso viele Mundschutzträger. Nicht viel los an diesem schönen Frühlingsmorgen. Ein alter Mann am Stock, ein zerknittertes altes Dämchen mit vielen Taschen. ‚Ich glaube an Gott‘ sagt sie gerade zu ihrem Begleiter, einem dicken jungen Herrn, als ich die beiden passiere. Auch der Italiener in der Düsseldorfer hat jetzt zugemacht, einige Kaffeeläden ebenso. In den Fenstern Zettel mit ‚Werte Kundschaft, als Folge der jetzigen Situation ...‘  In der Bank am Adenauerplatz sticht eine große Vielfalt an Mundbedeckungen ins Auge. Die Bankangestellten tragen kleine schwarze Mundschutze. Einige Frauen haben farbige Stofffetzen mit Gummis hinter den Ohren befestigt. Ein junger Mann zieht seinen Rollkragenpullover über die Nase. Beim Herumschauen merke ich, dass ich zu einer Minderheit gehöre. 
Als ich die S-Bahn-Unterführung passiere ändert sich das Straßenbild abrupt. Die Wilmersdorfer Straße hat ihren ganz eigenen Stil. Jungen mit Skateboards, junge Mütter mit Kinderwagen, Familien, eine Gruppe Männer mit Bierflaschen in der Hand. Türkische, russische, polnische Stimmen mischen sich, einmal auch eine albanische. Ecke Goethestraße halte ich an, um eine Bestandaufnahme zu machen. Rechterhand vierzig Passanten, linkerhand ebenso viele, etwa jeder Dritte mit einer Packung WC-Rollen in der Hand, vereinzelt Mundschutz. Auf dem Gerüst vor den Wilmersdorfer Passagen sind noch immer Arbeiter zu Gange. Der Baulärm macht dem ukrainischen Akkordeonspieler Konkurrenz, der ausnahmsweise keinen Bach, sondern fröhliche deutsche Volksmusik aufspielt. In seinem Kasten keine Münzen. Im Laden mit dem großen blauen Fisch als Aushängeschild wurde das Geschäft eingeschränkt. Geräuchertes und Fischbrötchen sind jetzt zusammengelegt worden. Beim Frischfisch wurde mithilfe roter Flurstreifen ein Sicherheitsabstand eingeführt. Eine Kundin tritt aus Gewohnheit engagiert nach vorne, um den Fisch ihrer Wahl mit dem Finger anzuzeigen und wird strengstens zurückgewiesen. ‚Sonst muss ich mein Geschäft zuschließen‘, meint der Fischverkäufer. Erschrockene Gesichter. Wir sind alle Gewohnheitstiere.
Auf dem Rückweg ist der Akkordeonspieler von einem Spieler mit Bassklarinette abgelöst worden. Wehmütige mazedonische Klänge füllen die Straße. ‚Aus Bulgarien‘ sagt der junge Musiker als ich frage woher. Der Bäcker gegenüber hat Tische mit blauen Tischdecken herausgestellt. Kundschaft setzt sich, die Sonne kommt raus. Eine Frau lacht ins Handy. Auf der Kantstraße wohltuend wenig Verkehr. Beim Spanier wird per sofort ein Fischverkäufer gesucht. Beim Italiener am Walter-Benjamin-Platz lehnt ein handgemaltes Schildchen im Fenster: ‚Alles wird gut.‘ Kurz vor der eigenen Haustür stürzt ein Freund auf mich zu, ein großer Mann mit einem überdimensionierten Mundschutz, der mich dennoch umarmen will. ‚Mir ist mulmig‘, sagt er, ‚wenn ich infiziert werde sterbe ich‘ und ‚ich muss den Hund doch auslassen können‘. Wir verabreden, uns regelmäßig zu schreiben.
 
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Mittwoch, der 18. März - Vom Hohenzollernplatz bis Hauptbahnhof

3/19/2020

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Kurz vor zehn ist die Fasanenstraße noch leer. Die Antikläden sind geschlossen, die Bekleidungsgeschäfte zugeklebt. Nur bei Degussa steht eine Schlange von Leuten in gebührendem Abstand zu einander, Zeitungen und Handy vor der Nase. Wollen sie Gold kaufen oder verkaufen? Das ist hier die Frage. Schweigen. Ich ziehe in der Straßenmitte an Ihnen vorbei. Am Kurfürstendamm ist alles wie es sein soll, zehn gelbe Busse, Stühle vor dem Kranzlereck, Passanten. Am Bahnhof Zoo die erste Überraschung. Wo sonst gedrängt und geschubst wird zähle ich nur acht Pendler. Wo sind die Taschenroller, die Drogentypen, die Alkis geblieben? Die Kartenverkäufer sitzen in ihrem Provisorium, durch die Fenster erblicke ich null Publikumsverkehr aber oben fahren die Züge wie immer. An der anderen Seite vom Hardenberg-Platz wird gerade das Tor zum Zoo geöffnet. Tiere können sich ja nicht anstecken. Am Wegrand im Tiergarten blühen die Forsythien, die Schleuse ist voller Möwen. Rechterhand wagen sich die Hyänen dicht ans Gitter, vielleicht um Frühlingsluft zu schnuppern, vielleicht auch etwas anderes. Am Kanalrand sitzt jedenfalls ein Obdachloser, umgeben von einem großen Packen Altpapier. Sein strenger Geruch verfolgt mich noch eine Weile. Im Park Café dann doch ein paar Kaffeetrinker in der Morgensonne. Ich umrunde die spanische Botschaft und gehe die erhabene Tiergartenstraße entlang. Vor der gigantomanischen saudi-arabischen Botschaft staut sich eine zweite Schlange, Frauen mit Kopftüchern, alte Männer. Gibt es noch Flugzeuge, die sie nachhause bringen wollen? Links in den Tiergarten hinein Bläue soweit das Auge reicht, wilde Hyazinthen, Bärlauch und Anemonen, auf der breiten Allee aber niemand, der sie bewundert.  Beim Überqueren der Straße des 17. Juni sehe ich das Brandenburger Tor und mache mitten auf der Fahrbahn ein paar Bilder. Kommt ja eh kein Auto. Noch 400 Meter bis zum Kanzleramt. Stille. Ob die Kanzlerin mal richtig schläft? Rechts taucht hinter den Bäumen der verlassene Skulpturengarten auf, dahinter der Reichstag, zweifelsohne leer. Hier will heute niemand heute spazieren gehen. Zwischen Kanzleramt und Abgeordnetenhaus sind die Straßenarbeiten verlassen worden. Die rot-weiße Absperrung flattert im Wind. Hinter der Schweizer Botschaft badet der Hauptbahnhof im grellen Frühlingslicht. Ein einsamer Saxophonspieler und eine ratternde S-Bahn machen zusammen Stadtmusik. Die Straßenbänke, das Pflaster, die Rolltreppen, alles glänzt vor unbenutzter Sauberkeit. Ist man zwischen den Fronten, hört man die Kanonen. Aber das hier, was ist das? Sonnenschein und Frühlingsblüten. Irrer könnte das Gesicht einer Krise nicht aussehen. 



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    Die Autorin wohnt im Berlin-Wilmersdorf

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