DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins
​in der Corona-Krise
​
I. Das Geräusch der Stille

Abgeschlossen

Von 18. März bis 23. April

Mittwoch, der 8. April - Gedenken

4/8/2020

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Wer vom Hauptbahnhof über die Fußgängerbrücke Richtung Reichstag geht, steht nach einem kurzen Gang im symbolischen Zentrum dieses Landes. Früher stromerten hier Tagesausflügler, Touristen und Demonstranten aller Art, und lichteten sich unablässig ab. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so, jedenfalls nicht im Augenblick. Stimmen mehren sich sogar, die offen sagen, eine Rückkehr dahin gäbe es auch nicht mehr. Heute morgen ging ich den Weg jedenfalls alleine. Mein Ziel galt dem Terrain am Brandenburger Tor, wo die Erinnerungsorte der Bundesrepublik ausgebreitet liegen. Wie sprechen sie zu uns in der Krise? Sprechen sie überhaupt? Eine vorsichtige Erkundung.
Als erstes, dem Reichstag unmittelbar benachbart, stößt die Suchende auf das Bärlauch-Wäldchen, in dem der stille Spiegel der Sinti und Roma liegt. Ein zurückhaltenderer Ort ist kaum denkbar. Wer ihn betritt wird von langen Tönen begrüßt. Die Luft spiegelt sich im Wasserrund. Die Bäume wiegen sich im Wind. In den Steinplatten ringsum die Namen der Stätten, wo weit weg das Töten geschah: Libau, Stutthof, Königsberg, Treblinka, fünfundfünfzig in der Zahl. 
An diesem Ort liegt das Gedenken nah beieinander, auch wenn das eine das andere nicht kennt. Am Saum des Wäldchens stehen die Kreuze der Mauertoten. Zwölf Männer und eine Frau, die wollten die Spree am Reichstag überqueren, wurden gejagt und erschossen, der letzte am 5.2.1989. Blumen und Schleifen zeugen davon, dass das so lange her nicht ist. 
Am Tor vorbei, es sind nur 300 Meter, folgen sodann die Stelen, die den Mord an den Juden in Erinnerung rufen. Ich gehe langsam durch die Sträßchen, dem holperigen Pflaster auf und ab. Ein Friedhof ohne Toten, ein Bäumchen, das gerade sprießt, weit weg ein Baugeräusch, da ist man frei zu denken, was gerade kommt. 
Und was denke ich? Heine: Die alten bösen Lieder / Die Träume schlimm und arg / Die lässt uns jetzt begraben / holt einen großen Sarg. Gleich an der Überseite der Straße steht, vom Stelen Feld aus gut sichtbar, Goethe im strahlenden weiß. Seine Generation erholte sich gerade vom Bösen eines anderen Krieges. Von den Vernichtungskriegen des zwanzigsten Jahrhunderts war er noch meilenweit entfernt. Von dem globalen Schreckensszenarien, die allmählich zu uns drängen, was konnte er davon schon ahnen? Jede Generation hat sein eigenes Schicksal.
An der Tiergartenstraße, nur ein Katzensprung von Goethe entfernt, treffe ich vor der italienischen Botschaft auf das Gedenken, das noch keinen Monat alt ist. Aus ihm spricht der Wille, die Mordlust der Väter nicht, unter keinen Umständen, nicht mal in Gedanken, zu wiederholen. Da, auf dem Bordstein, liegen Blumen, ein gemaltes Herz und ein offener Brief. ‚Liebe Italiener! Uns ist egal, ob italienische oder deutsche Opas und Omas in unseren Krankenhäusern liegen, Hauptsache, ihnen wird geholfen. Ihr seid unsere Freunde!‘ Gezeichnet: Alice u. Benedikt. Berliner wie Sie und ich.


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Dienstag, der 7. April - Verschwunden

4/7/2020

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Heute ging ich ziellos durch die Straßen, doch waren es alte Fährten, wie ich irgendwann sah. Das Augenmerk lag nicht bei dem fremdartigen Neuen, sondern bei den Leerstellen im Stadtbild, sie prägten sich auf einmal ein. 
Fort sind die Roma Bettler, die Frau mit dem wettergegerbten Gesicht, die jungen Männer vor den Bio-Supermärkten, immer mit einem höflichen Gruß. Wo sind sie geblieben? In ihrem Zimmer zu zehnt irgendwo in Neukölln? Oder gar im heimatlichen Dorf umzingelt vom Militär, das die Roma auf feindliche Vire durchkämmt. 
Aus der Motzstraße verschwunden sind auch die Lederjungen, keck in schwarz mit einer Tätowierung am Hals. Die Bars und Clubs sind bekanntlich geschlossen. Was machen die noch mit dem Abstand Gebot?  ‚Keine Panik. Nimm einen Dildo‘, springt es mir von Plakaten entgegen. Wirklich? Wenn das mal keine Täuschung ist.
In der Genthiner Straße fehlen die Mädchen aus Neukölln, knapp dem engen arabischen Milieu entronnen und nun dazu verdonnert, den Freiern in ihren Autos zu Willen zu sein. Ich kannte mal die Frau eines Pfarrers, auch sie eine Neuköllner Schiitin, die hier im fernen Schöneberg ein neues Leben begann. Wie rührend sie sich um die Mädchen kümmerte, brachte ihnen Hygiene bei, verschaffte ihnen ein Dach überm Kopf und eine Ahnung von ihren Rechten. Fort sind sie alle, doch hoffentlich nicht wieder daheim. Auch die Autos der Freier sind verschwunden. Die sitzen vielleicht bei der Mutter und motzen nach Herzenslust an ihr herum. 
Vorbei am Bendler Block und der Kaserne, wo immer noch alles beim Alten ist. Weiter hinten am grünenden Saum des Tiergartens wartet das Phantom der Effinger Villa, doch damit war schon vor Kriegsanfang Schluss. Stattdessen rechts in die Sigismund Straße. Zwischen Neuer Nationalgalerie und Sankt-Matthäus-Kirche liegt verlassen die Staatsbibliothek zu Berlin. Es warten dort noch meine Bücher, wie lange das wohl dauern wird? Mir kommt unversehens ein Bild, wie man in zehn oder zwanzig Jahren, oder in einer Generation vielleicht, durch die schmutzverkrusteten Glastür brechen und wieder die Spinnfäden-verhangenen Halle betreten wird.
Am Potsdamer Platz der übliche Plunder, ein Stück der Mauer hinter Glas, der Frühstückssaal in Gold und Beige, wo Garbo und Chaplin sich begegnet sind. Vergangene Vergangenheit, wer will das noch wissen? Auch die letzten Touristen sind jetzt heim. Richtung Brandenburger Tor liegen Rent-a-bikes und Roller auf dem Gehsteig. Mir fehlen die Italiener, wie sie wehenden Haares auf den Rollern stehen, sie gemeingefährlich zwischen Autos und Lastern lenken, doch das Gespräch zum Nachbarn, das reißt ihnen nie ab. Wären sie doch hier statt in den abgeriegelten Städten, wo der Tod jetzt Hausherr spielt. 
Das Tor selbst bietet einen unverstellten Blick nach Osten und nach Westen, keine Podien, keine Party-Meile, keine Demonstration. Es grünt so grün, die Sonne scheint über allem. Wie verfahren unsere Lage geworden ist.


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Montag, der 6. April - Aufatmen

4/6/2020

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Die Berliner Luft erholt sich. Heute Morgen um 9.00 vergab der Berliner Luftqualitätsindex die Note 2 („gut“) an Schöneberg und Charlottenburg. Stark befahrene Straßen, darunter die Leipziger und die Karl-Marx, bekamen immerhin die Note 3 („befriedigend“). Für die Note 1 („sehr gut“) muss man Berlin noch verlassen. Aber auch so liegen die Werte im grünen Bereich. 
Die Luft erholt sich und mit ihr die Berliner, auch wenn deren Erholung sich langsam vollzieht. Was die Politik nicht geschafft hat, das erledigt sich nun von alleine. Die SUVs bleiben in den Garagen, die Flieger fliegen nicht. An der Württembergischen hängen dafür die Betten aus den Fenstern. Vielleicht wegen den vielen Stunden, die man jetzt darin verbringt? Passanten gehen zu zweit dahin, zwei Fahrradfahrer, zwei Jogger, zwei Stöcke-Schwinger, zwei kleine Jungs mit einer Spielkonsole, eine Frau mit ihrem Hund. Es laufen die Jogger mitten auf dem Fahrdamm. Wann sonst hat man das gesehen in Berlin? Wirtschaftliche Sorgen mögen sie alle haben, aber saubere Luft gibt es jetzt gratis und in Mengen dazu. 
Aufatmen, wo tut man das in Berlin am besten? Am Nachmittag geht es Richtung Tempelhofer Feld. Ich laufe die Route nicht so gerne, wartet doch hinter der S-Bahnbrücke ein Gelände, das die Nazizeit herbe in Erinnerung ruft. Hier, in der Feurig-, Pape- und Kolonnenstraße wurden 1933 die ersten ‚wilden‘ KZs errichtet. Man braucht nur Kurt Hiller darauf nachzuschlagen, um zu wissen was dann geschah. Auch das ist Berlin, yours truly, und bleibt uns wohl noch erhalten. Am Ende der Straße blinkt der Flughafen, am Gebäude Nazi-Adler Pomp. 
Dahinter auf dem Rollfeld steht eine steife Brise. Es segeln die Möwen, die Drachen segeln mit. Auf der Rollbahn in der Mitte rasen die Skater und Surfer. Fahrräder vom Columbiadamm kommend überqueren in Richtung Alt-Tempelhof. Läufer gehen in Trauben, ein Peloton Rennfahrer holt stetig auf. Ein Kind mit einem Roller hat dazwischen nichts verloren. Seit die Kreuzberger sich das Feld einverleibten, ist das hier eher ein Hochrisiko-Geschäft. 
Am Columbiadamm vor dem Shehitlik Friedhof steht eine Ansammlung Menschen. Der Pförtner lässt nur Männer rein und die auch nur zu zehnt. An der Moscheemauer ein Sarg, davor die Männer in einer Reihe. Sprechen das Totengebet und machen Platz für die nächste Schicht. Draußen bei den Mülleimern warten die Frauen. Hier ist die Luftqualität egal, dafür erfüllen Tränen die Luft. 
Zum Schluss noch beim Kioskbesitzer von gegenüber. Der ruft mich zu und berlinert dabei: ‚In Paris sind es Wein und Kondome, bei uns nur Bier und Klopapier. Was sagt uns das über die Berliner?‘ Welche Berliner meint er denn damit? Ehrlich. Ich gebe ihm die Antwort nicht.
 
 


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Sonntag der 5. April - Gastbeitrag: Bericht aus dem Krankenhaus

4/5/2020

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Hier eine Beobachtung an einem Ort, an dem ich zur Bestrahlung täglich bin, dem Benjamin Franklin-Klinikum in Steglitz:
Alles ist ruhiger geworden. Der Eingang Hindenburgdamm, der sonst sehr belebt ist, ist zu, nur der an der Klingsorstraße ist offen. Auch dort ist es sehr ruhig, es gibt Eingangskontrollen. Als Patient hat man einen Ausweis, der zum Eintritt berechtigt. Vor dem Eingang stehen gegen Ende einer Woche jede Menge Krankentransportfahrzeuge, die Entlassene nach Hause bringen. Bis Mittwoch ist alles eher leer. Gründonnerstag kannst Du da sicher wieder eine Schlange von Krankentransportwagen sehen. Man sieht mehr Patienten, die am Ende einer Woche entlassen werden, als Neuaufnahmen.
Am Anfang der Restriktionen sahen wir zu unserem Entsetzen mitten auf dem Grünstreifen des Hindenburgdamms noch eine Gruppe Abiturienten, die munter Coronaparty feierten.
Es ist verblüffend: Gerade jetzt kommen wir wegen der Restriktionen schneller mit dem Auto zur Klinik, auf dem Parkplatz ist immer Platz, und die Fahrt durch ein sonnenbeschienenes Brandenburg war die letzten Wochen sehr schön. Für die fast acht Wochen täglicher Bestrahlung hätte ich keine bessere Periode erwischen können. Man wird nachdenklich.
Wie Johan Cuijff sagte: Elk nadeel heeft zijn voordeel. Zu Deutsch: Jeder Nachteil hat seinen Vorteil.

Alles Gute,
Arndt
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Freitag, der 3. April - Raum und Zeit

4/3/2020

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Am Mittwoch, als ich draußen lief, da kamen mir auf einmal keine Geschichten mehr entgegen. Eine Sendepause war angesagt. Es gab dafür die herzlichsten Reaktionen, wofür an dieser Stelle Dank. Eine Leserin schrieb: ‚Kein Wunder. Es gibt sozusagen kein draußen mehr.‘ Das war das Stichwort. Ist das so? Da draußen geht die Sonne auf und pfeifen die Spatzen von den Dächern. Da draußen vertritt man sich die Füße, steht beim Laden an und guckt anderen beim Abstand halten zu. Es gibt ja immer noch viel zu bestaunen. Den Autofahrer zum Beispiel, der in Maske und Schal vermummt hinterm Steuer sitzt. Oder das Pärchen, das zu zweit einkaufen geht und sich lange nicht entscheiden kann. So lange es Leute gibt, gibt’s Action! Wahr ist, die Bilder gleichen sich Tag für Tag mehr an. Was fehlt sind die Rhythmen des Alltags. Es fehlt uns das Gefühl für Zeit. Stattdessen ein klebriges Spinngewebe, das jeden Tag zum faden Sonntag werden lässt. Wo ist Ariadne’s Faden geblieben?
Wussten Sie, dass heute die Osterferien beginnen, am Sonntag schon Palmsonntag ist, am Mittwoch das Pesachfest, Freitag der Karfreitag und danach Ostern kommt? Am 19. April werden die Orthodoxen feiern und am 23., einem Donnerstag, beginnt auch schon der Ramadan. Die großen religiösen Feste, wie wird man sie begehen? Der religiöse Kalender war doch immer ein ehernes Gerüst. Kurzer Gang also zur Kirche und Synagoge, die Moschee nicht vergessen und auch die Russisch-Orthodoxe Kirche nicht. Liegen sie noch im Dornröschenschlaf oder wird da schon an einem Faden gestrickt?
Russische Kirche. Klingeln. Pope kommt heraus. Was wird Ostern? ‚Bis dahin alle Nachtwachen abgesagt!‘ Moschee. Klingeln. Imam kommt heraus. Was wird Ramadan? ‚Das dauert noch. Das Fastenende sowieso. Vielleicht dürfen wir bis dahin wieder!‘ Kirche der Heiligen der Letzten Tagen: Nichts. Gemeinde Zum Heiligen Kreuz: Nichts. Sankt Ludwig: Nichts. Vor der Synagoge zwei Polizisten. ‚Junge Frau! Da ist niemand!‘ Die religiösen Kalender von heute, einen Leitfaden bieten sie nicht.
Heute morgen sagte Bruno Latour im Radio: Mikroben haben eine unheimliche Fähigkeit sich zu wandeln. Sie sind aber nicht unsere Feinde. Wir sollten vielmehr von ihnen lernen. Auch wir sind wandlungsfähig, ganz anders als die Mikroben das tun‘. Latour’s ‚wir‘, das sind die Institutionen von Politik und Wissenschaft, Kultur, Religion und die Wirtschaft, die Gesellschaft eben. Das Problem, das sich ihnen stellt, das Virus und die Folgen, ist mitnichten individuell. Latour dachte sicherlich auch nicht an Gregor Samsa, der sich beim Aufwachen in einen Käfer verwandelt sah. Samsa’s Problem: er sah den Ausschlag unterm Kinn, konnte sich aber nicht kratzen. Die Käferbeinchen erlaubten es ihm nicht. Die Gesellschaft jedoch, mit ihren vielen Armen und Beinen, ja, die kann die Krallen jetzt wetzen. 
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Dienstag, der 31. März - Kontaktflächen

3/31/2020

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Heute morgen eine große Wanderung, von Wilmersdorf nach Friedenau, dort Richtung Schöneberg, der Akazien-, Goltz- und Maaßenstraße entlang, über Nollendorfplatz und die Einemstraße bis zum Kanal, links dem Tiergartenufer und der Straße des 17. Juni nach Charlottenburg, und über Bahnhof Zoo wieder nach Hause zurück. Die gute Nachricht: es konnten nicht weniger als vier Bezirksgrenzen ohne Kontrollen überquert werden. Das geht also noch, die Frage ist nur für wie lang. Am Wochenende wurden Münchener Frischluftliebhaber an den Ausfallstraßen zur Umkehr bewogen. Die Hamburger Ausflügler erwartete im Umland kein freundlicher Empfang. Die Bewohner der Prignitz hatten schon in der letzten Woche gegen ‚ihre‘ Berliner gewettert. Grenzen spielen in unserem Alltag eine immer größere Rolle, wobei man nicht mal weiß, wo sich demnächst noch eine auftun wird.
Auf der ganzen Strecke, immerhin achtundeinhalb Kilometer, kamen mir allerlei Mundschutze entgegen, weiß, blau, geblümt, viel mehr als letzten Samstag noch. Auch wir bastelten am Wochenende Einwegmasken aus Kaffeefiltern. Ließen sie sich aus Wäschestoff kaufen, so würde ich das umgehend tun. Dr. Drosten sagt, das sei jetzt eine Geste der Höflichkeit. Dem stimme auch ich inzwischen zu.
Überall in der Stadt sind die Kontaktflächen zurückgefahren. Beim Sanitär-Geschäft wurde ein Plastikhandschuh über die Klinke gestülpt. Die Blumenfrau vollführt mit der Kundin einen pas-de-deux, der komplizierter nicht sein könnte. ‚Keep your distance‘ ruft der U-Bahnsprecher den Reisenden zu. Die S-Bahn lässt wissen, ‚Türen öffnen sich von alleine.‘ Das nacheinander Anfassen ist uns verdächtig geworden. Auch Münzen verloren ihre Attraktion. Geldscheine werden zwar noch immer gewechselt, aber nur mit spitzen Fingern angefasst. 
Dennoch muss man am Geldautomaten die Oberfläche berühren, alles wie immer, sonst gibt‘s gar kein Geld. Dennoch fummeln Männer an ihren Handys, reiben sich Leute ins Gesicht. Man bückt sich, abwesend zwar, um den Hund zu kraulen, oder steckt sich Taschen und Tüten zu. Der kleine Grenzverkehr, der funktioniert demnach noch immer. Man bleibt dort Mensch, wo man sich vergißt. Mittendrin entblößt eine Frau die Beine und Schultern, sitzt in der Sonne und reibt Nivea ein. Auch das gibt es weiterhin, das kleine Genießen. Wir grüßen uns freundlich zu. 
Die beste Nachricht: Das Grüßen ist jetzt zum Berliner Standard erhoben. ‚Guten Tag‘ ruft mir ein Mann auf der Straße zu. ‚Bleiben Sie gesund‘ sagen die Kunden jetzt beim Abschied. Man nickt sich zu und lässt den anderen vor. Berlin, diese knorrige alte Tante, die sonst Paroli mit Schnauze bedient, sie kann es also doch noch anders. Sollten wir dies aus der Krise mitnehmen können, so hätte die Stadt ein andres Gesicht.


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Montag, der 30. März - Horchproben

3/30/2020

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Es ist erst zwölf Tage her da ich anfing durch Berlin zu wandern und jeden Tag einen Blog zu führen. Am 18. März trat die Verordnung des Senats zur Corona-Krise in Kraft. Neben den meisten Läden machten Diskos und Opern, Kinos und Museen, Kneipen, Bars und Clubs die Türen zu. Damals tat man sich noch schwer damit, gab es doch 383 Infektionen in Berlin und landesweit erst 8000. Jedoch sagte die Bundeskanzlerin am Abend: ‚Ich brauche jetzt eine Vollbremsung.‘ Und so passierte es denn auch. Seitdem hält Berlin mehr oder weniger die Füße still und schaut den Zahlen beim Ansteigen zu. In zwölf Tagen vermehrten sie sich um sieben, - anderorts um acht oder gar um zwölf. Ob Deutsche, Türken oder Griechen, Russen, Italiener oder Polen, die Stadt, das Land und der Erdkreis warten nunmehr auf die Welle, von der niemand weiß, wann genau und mit welcher Wucht sie trifft. 
Die Mesopotamier kannten eine Form der Vorhersage, Egirru genannt, mit der sie versuchten die Geräusche im öffentlichen Raum mit Deutung zu versehen. 2020 vor unserer Zeitrechnung galt eine solche atmosphärische Bestandsaufnahme dem Schrei einer Eule, dem Fiepen der Ratten im Abfluss oder einem Donnerhall nach dem Blitz. Auch wenn sich in Berlin noch immer solche Töne vernehmen lassen, so öffne ich heute die Ohren für das, was zufällig kommt.
Morgens um 9.00 auf der Uhlandstraße schüttelt ein Müllwagen, zischen Autoreifen auf glattem Pflaster, rufen die Spatzen vom Dach. Am Ludwigkirchplatz empfange ich zwei menschliche Stimmen, das Ru-ku einer Taube und Hundegebell. Auf der Lietzenburger Straße erklingt das Surren eines Motors am Rad des Briefträgers sowie das Kling-Klang des Gerüstbauers. Entlang der Wieland Straße Tauben. Die Tür eines Lastwagens schlägt zu. Richtung Kantstraße rattert die S-Bahn, dahinter das Rauschen des Verkehrs. Doch wenn ich die Augen wieder öffne sind es nur vier Autos, ein Lastwagen und ein Bus. Hinter der Häuserfront klingen Klopfgeräusche, eine Bodenschleifmaschine sowie ein lautes Gerassel, das ich mit einem Zementmischer verbinde. Der M49 brummt an der Haltestelle vor sich hin. Die Wilmersdorfer Straße tönt mit Einkaufswägelchen auf Kopfsteinpflaster. Ein Mann schleift mit den Füßen. Ein Schlüssel wird ins Schloss gesteckt. Ein Anzünder verweigert wiederholt den Dienst. Spatzen. Tauben. Unterdrücktes Husten. Aus weiter Ferne klingt die Sirene der Feuerwehr. Ich lausche noch meinen eigenen Füßen bis zur Bismarckstraße, dann habe ich ein ungefähres Bild. 
Was lässt sich nun aus dieser Horchprobe schließen? Berlin ist in Ruhemodus. Seine Töne lassen sich einzelnen heraushören. Gesprochen wird nur wenig. Die Vögel stören sich nicht daran. Die städtische Infrastruktur funktioniert soweit. Die Baubranche scheint eine Lücke für sich entdeckt zu haben. Würde eine Stadt den Atem einhalten können, dann hört es vermutlich sich so an.


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Freitag, der 27. März - Berliner Luft

3/27/2020

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Es liegt was in der Luft an diesem Morgen. Die Straße grünt so grün, sie könnte glatt da draußen sein, wo jetzt die Lerchen steigen. Jambenwetter. Mich zieht’s heraus zur Ringbahn um Berlin. Zwar führt sie nicht nach Brandenburg, doch misst sie 37 Kilometer, hält an 27 Bahnhöfen und bietet viel Verkehr. An einem normalen Tag steigen eine halbe Million Menschen auf dieser Strecke ein. Mal sehen, was es mit der Berliner Luft dort auf sich hat.
Los geht’s am Hohenzollerndamm, mit einem kurzen Stopp am Messedamm, um den Busbahnhof zu sehen. Es grüßen die Werbungen von Flix- und Blablabus, doch an den Haltestellen null Verkehr und nichts, aber dann auch nichts zu sehen. Schnell zur Ringbahn zurück. Bahnhof Jungfernheide steigen die Reinigungskräfte ein und fegen einmal durch. Bahnhof Beusselstraße. Ein Mann telefoniert mit seiner Mutter und zeigt ihr die Aussicht mit der Handykamera. ‚Hast‘ gesehen? Küsschen, bis nachher.‘ Reinigt anschließend das Glas mit einem Taschentuch. Westhafen. Ein Kind mit Helm und Fahrrad kommt herein, die Mutter sorgsam hinterher. Berlins Kinder. Wie man hört geht es vielen in diesen Tagen hinter verschlossenen Türen nicht so gut, nicht wie diesem Kind, das nach draußen fahren darf. Gesundbrunnen. Eine junge Frau spricht energisch ins Handy, ‚Also, ich habe jetzt unterschrieben... Na, das wissen wir ja durch die Steuerklasse, die wees ick ja.‘ Ich wünsche ihr schweigend alles Gute. 
Die Bahn füllt sich, Frauen mit Kopftuch, Männer in Schlabberhosen, ein paar auffällig dünne Jungen, die sich leise auf Arabisch unterhalten. Hier geht Berlin seinen Gang und so manche gehen noch Geschäften nach. Die Kaffeeläden auf den Bahnsteigen haben regen Betrieb. Mann ins Handy: ‚Wo bist du? Nee, nee, bin gleich da‘. Sagt’s und steigt aus. Frankfurter Allee. War hier nicht die Stasi Zentrale? Vergangenheit, wo bist du geblieben. 
Am Bahnhof Frankfurter Allee herrscht Gedränge. Die Leute kommen paarweise rein, wie die Tiere in Noah’s Arche. Ostkreuz, das Tor nach Osten, Frankfurt(O), Kostrzyn, Wroclaw. Auf Gleis 8, am polnischen Wurststand, hat jemand ein Schildchen mit ‚God bless you‘ aufgehängt. Als ich wieder einsteige treffe ich auf zwei Damen, die in ein angeregtes Gespräch verwickelt sind. Es handelt von einer Teilnehmerin im Spazierklub, die gesagt haben soll, spazieren, das ginge nun nicht mehr. ‚Wir haben telefoniert, wollen nach wie vor ... mit großem Abstand, ja... sollen uns noch mal kurzschließen.‘ Bahnhof Neukölln verlassen die beiden den Zug. Zwischen Hermannstraße und Tempelhof schwingen zwei junge Männer zu den Rhythmen lautloser Musik, die Hände in den Hosentaschen. Zwei Fahrradfahrerinnen steigen zu, mit Seitentaschen und bloßen Armen, steigen am Südkreuz nach Zossen um.
Nach einer Stunde und fünfunddreißig Minuten bin ich wieder dort wo es heute morgen begann und ich weiß jetzt, die Berliner Luft, auch wenn sie nur schwach duftet, sie riecht nach Feriengenuss. So sind die Berliner.
 
Allen ein gutes Wochenende. Montag geht es weiter.
Gerdien

 

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Donnerstag, der 26. März - Am Flughafen Tegel

3/26/2020

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3/26/2020
In den Zeitungen wurde in letzter Zeit wiederholt von einem Exodus berichtet, von 300.000 Altenpflegerinnen zum Beispiel, die Deutschland Richtung Osteuropa verlassen haben, auch von 100.000 deutschen Touristen, die auf Kosten der Regierung nach Deutschland zurückgeholt worden sind. Ob es nun das Regime der nationalen Gesundheitssysteme oder die Sorge um den Liebsten war die sie die Koffer packen ließ, überall auf der Welt kehrten Bau- und Saisonarbeiter, Pflegepersonal, Touristen, Erasmus-Schüler und -Studenten in ihre Heimat zurück. In Berlin landeten bereits die Ibiza-Urlauber, die Teneriffa-Langzeitgäste und die Taucher aus Ägypten. Übriggeblieben sind die Gestrandeten, solche die den Anschluss verpasst haben und solche, die sich eh auf eigenen Kosten durchschlagen müssen. Wer landet in diesen Zeiten noch auf Tegel? Wer macht sich jetzt dorthin auf, um wohin zu fliegen? Um solche Fragen zu beantworten reicht ein kurzer Blick.
‚Die BVG hält Berlin mobil‘ steht auf allen Abfahrttafeln entlang dem Kurfürstendamm und jede zwei Minuten hält dort auch ein Bus. Der 109 Richtung Flughafen Tegel fährt heute dennoch nur für mich. Bleibtreustraße – Olivaer Platz – Adenauerplatz: niemand steigt zu, niemand will mit mir fahren. Erst am Jakob Kaiser Platz warten vermummte Gestalten mit Gepäck. Pünktlich erreichen wir den Flughafen, steigen aus, rufen dem Fahrer einen Gruß zu, gehen in allen Richtungen davon. Der A-Bereich liegt im Dunkeln, rot-weißes Band versperrt den Eingang zum Terminal, bewaffnete Polizei patrouilliert. Im C-Bereich ist noch Betrieb. Es ist 11.00 morgens. Aus Amsterdam landet gerade ein Flug. Um eins geht ein anderer nach München ab, um fünf noch einer nach Doha und vielleicht wird später noch eine Maschine nach Kiew starten. Andere Flüge gibt es nicht. 
An den Glastüren zum Kofferbereich stehen zwanzig Abholer mit Schildchen und Blumen. ‚Willkommen!‘ steht daran geschrieben, amerikanische Papierflaggen sind darauf gesteckt. 11.10 erscheinen vier Rucksackträger, die eilig das Weite suchen. 11.20 wird ein Rollstuhlfahrer herausgeschoben und zu den Taxen gebracht. Warten. 11.40 geben die Türen endlich ca. hundert übermüdete Passagiere frei. Am aufgetürmten Gepäck erspähe ich Klebestreifen, die von einer langen Reise erzählen. Mex-Amsterdam-TXL, Houston-Amsterdam-TXL, SFO-Amsterdam-TXL: Amsterdam war für diese Reisenden nur der Sammelort. Ein Mädchen fliegt den Eltern in die Armen. Tränen. ‚Sie ist wieder da!‘ ruft die aufgelöste Mutter dem Bodenpersonal zu. Eine deutsch-afrikanische Familie schiebt sechzehn Koffern vor sich her. Ein Busunternehmen holt Russen ab, um sie Richtung Russland zu fahren. Niemand lacht, niemand strebt zu den Toiletten, nix wie weg hier.
Als ich wieder im Bus sitze – schwellende Knospen, blitzende Dächer, lauter eitel Sonnenschein – verspüre ich Beklommenheit in der Brust. Alle kehren zu ihren Liebsten und den sicheren Hafen ihrer Heimatländer zurück. Aber was, wenn es dort nicht sicher ist?




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Mittwoch, der 25. März - An der chinesischen Botschaft

3/25/2020

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Was machen die Chinesen? Die Chinesen bereiten sich vor auf die baldige Rückkehr zur Normalität. NUR FÜR KURZE ZEIT ruft ein farbiges Plakat an der Eingangstür des Tian Fu den Kunden zu. Darunter in kleiner Schrift, ‚Bis dahin 20 Prozent Rabatt auf Speisen außer Haus.‘ Tian Fu ist Berlins begehrtester China Restaurant, wo es auch mal Pfoten und Schnauzen gibt, die man zuhause so schnell nicht in die Pfanne werfen würde, und ein wichtiges Barometer. Das China Restaurant ein Stück weiter sieht es genauso und schiebt noch eine zeitliche Präzisierung hinterher: ‚In zwei Wochen wieder geöffnet´. Wirklich? Das lässt hoffen. 
Die Zeichen mehren sich, und ich sah in den letzten Tagen etliche davon, dass die Chinesen Berlins in den Startlöchern sitzen. Und nicht nur sie. Neulich fand ich eine Nachricht in meinem Mail, dass der Seidenstraßenexpress wieder Richtung Europa fährt. Der erste fuhr bereits am 29. Februar in Hefei ab und traf nach nur elf Tagen Fahrt pünktlich in Helsinki an. Der nächste wird in ein paar Tagen erwartet. Die Finnen freuen sich. ‘The novel coronavirus has created a plethora of challenges in various transport forms and schedules’ gab das Transportunternehmen China Service zur Protokoll. Wenn man bedenkt, dass 90 Prozent der Ware bislang auf Schiffen unterwegs war, bietet die Seidenstraße in der Tat ein riesiges Potential. 
Was bedeutet das nun für Berlin? Ich fahre zum Märkisches Museum, um das Epizentrum der chinesischen Aktivität zu inspizieren. Bizarre Situation: Bürgerin Jonker fotografiert den Hochsicherheitstrakt, zu dem die Botschaft der VR China sich gemauert hat. Eine glatte Marmorwand, eine Krone aus Eisenspitzen die sogar Möwen abschreckt, doppelte Metallverstrebungen und Kameras, die alle meine Bewegungen festhalten. Der Blick durch das Haupttor lehrt, dass zusätzlich zwei bronzene Löwen den Eingang bewachen. Da und dort stehen im Botschaftsgarten hölzerne Pandas herum. Kein Lüftchen rührt sich.
Was ich auch erwartet hatte, Schlangen mit Rückkehrern, Pförtner, Broschüren, alles nicht da. Als ich den Komplex umrundet habe, stoße ich an der Rückseite auf das Konsulat. Ein rotes Auge starrt mich an, darunter eine Klingel und verschiedene Ankündigungen, wovon eines besagt, dass die Abteilung vorläufig nur mittwochs und freitags geöffnet ist. Keine Zeitbegrenzung, leider. Ich bin enttäuscht ob soviel Starre. Sie lässt sich so gar nicht mit den vielen kleinen Wellen reimen, die das chinesische Berlin jetzt schon schlägt. Vielleicht ist es auch so. Wie man hört wurde den Chinesen ein App aufs Handy gespielt, der automatisch von Rot auf Grün springt, wenn vom Träger keine Gefahr mehr ausgeht. So handelt ein jeder vom Handy gesteuert und doch gezwungenermaßen für sich. Sollte das zutreffen, dann war ich heute an der falschen Adresse.
 


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    Die Autorin wohnt im Berlin-Wilmersdorf

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