DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins
​in der Corona-Krise
​
I. Das Geräusch der Stille

Abgeschlossen

Von 18. März bis 23. April

Donnerstag, der 16. April – Zachor

4/16/2020

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Heute sagen die jüdischen Gemeinden Jizchor, das Totengebet am Ende vom Pesach-Fest. Zu gleicher Zeit beginnt für ganz Berlin das große Zachor: Erinnere Dich! Heute vor fünfundsiebzig Jahren nämlich begann die Schlacht um Berlin, in der sich Frauen, Kinder und alte Männer den russischen Soldaten entgegenwarfen. Das war das letzte deutsche Aufgebot. Sechzehn Tage dauerte ihr Widerstand, dann war die Stadt zerstört und voller Toten und mit den Russen rückte etwas Anderes ein. 
Es gibt Viertel in Berlin, wo sich diese Vergangenheit besser nachspüren lässt als anderswo. Zu einem davon geht heute die Reise, konkret, zur Schönhäuser Allee hoch bis zum Ring. Unterwegs blättert die Stadt ihre Schichten auf, wie sonst die Seen ringsum das im Sommer tun. Man watet durch seichtes Gewässer, warm, warm, bis ein kalter Unterstrom jäh unterbricht. Als Erstes taucht rechts der Friedhof auf, jüdische Steine in tiefer Ruh‘. Baumpfleger schneiden Äste von den Linden. Es fährt ein Kind auf einem Fahrrad. Drüben geht ein Hund. Eine Kirche mahnt, dass Gott uns nicht gegeben hat den Geist der Furcht. Die Kulturbrauerei. Es riecht nach Kaffee in den Straßen. Die Glyzinien färben blau in den Fenstern. Eine Mittelschicht hat sich hier niedergelassen, die es sich rundum gut gehen lässt. Wo die U-Bahn aus dem Schacht nach oben fährt und die Straßen sich mehrmals überkreuzen, dort links fängt das gesuchte Viertel an.
Cantian Straße. Wie teuer die Stadt hier doch bauen ließ. Glänzende Häuserfronten, ein freier Blick übers Feld. Pappeln und Platanen stehen Spalier bis zur Sporthalle. Dort hinten verlief die Mauer. Nachdem die Schlacht einmal geschlagen war, lag hier alles in Trümmern, - für Grün- und Schießanlagen Platz genug. Gaudy Straße. Agaven in den Grünstreifen verraten den modernen Geschmack. Vor der Halle rechts liegt der Kiez. Das Karree zwischen Rhinow, Kopenhagener und Sonnenberger Straße besteht aus renovierten Häusern und liegt behütet im S-Bahn Ring. Mit seinen Kaffeeläden und Restaurants strahlt es ein Wohlbefinden aus. Auch das Corona Virus trübt, wie mir scheinen will, die Sonntagsstimmung nicht. Genau hier lag einst Inge Meyer, die später Inge Müller hieß, eingegraben in den Trümmern. Ihre Aufgabe war es gewesen, Verwundete von der Straße zu holen und Essbares zu organisieren. Dann ging sie eines morgens Wasser holen: ‚und auf einmal fiel der Himmel um.‘ Überlebte drei Tage unterm Schutt, bis harte Hände sie herauszogen. Das war der 2. Mai vor fünfundsiebzig Jahren, der Tag der Kapitulation. 
Ich studiere jedes Haus, gehe die Fußgängerbrücke, die die sieben Gleise überquert, schaue mir die Stelle von der Überseite an. Eine Armee von zweiundeinhalb Millionen russischen Soldaten rückte von hier Richtung Zentrum vor. Die da drüben hatten nicht den Hauch einer Chance, auch die Flakhelferin Inge Müller nicht. Zachor.

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    Die Autorin wohnt im Berlin-Wilmersdorf

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