DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins
​in der Corona-Krise
​
I. Das Geräusch der Stille

Abgeschlossen

Von 18. März bis 23. April

Dienstag, der 21. April – Die Konsultation

4/21/2020

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Der Zauber ist dabei, auf leisen Pfoten wegzugehen. Seit die Republik sich streitet über Rückkehr zum 'Normalen' und wer denn alles dazu gehört, seit die Motoren aufgefahren werden und auch die Aggression, seitdem verschließt sich mir die Fähigkeit das andere zu schauen, - mit immer größerer Fahrt, wie ich feststellen muss. Ich fasse daher den Beschluss, zuerst die Oettingers zu besuchen. Man könnte mal erörtern, wie es nun weiter gehen wird.
Bislang haben mir die Oettinger Frauen immer noch Neues geben können. Jahre habe ich mit ihnen in dieser Stadt verbracht. Bin die Strecke zwischen Prinzen- und Lindenstraße hundertmal gelaufen, habe die Brachen angestarrt wo sie lebten und mit dem Leben davonkamen, habe das Viertel lichterloh gesehen und bin Susanna mit den Blicken gefolgt, wie sie gegen den Strom von Berlin nach Kriebetal lief. Überlebenskünstlerinnen sie alle, Susanna und ihre Mutter Emilia, die Schwester Lisa in Lahore, und Rani, das Kind der Rechnung, das die Schläge abbekam.[1]
Um zu ihnen zu kommen muss man lange gehen, den Damm herunter bis zum Ring, dann einmal um Berlin gefahren und dann noch Richtung Falkensee. Antonplatz, die Herbert-Baum-Straße, es grüßen die Kastanien mit ihren langen Fingern, da erblicke ich endlich mein Ziel. Auf dem jüdischen Friedhof Weißensee liegen sie, die Berlin zur Großstadt machten, die Pfiff hereinholten und eine reichhaltige Kultur: Lewin, Liebmann und Kantorowicz, Meyer, Lewinski und Orenstein, Gerson von Kaufhaus Gerson, Zeitungsverleger Mosse, die Marcussen und die Wittgensteins. Dazwischen liegen die Oettingers, die Steine gerade noch auffindbar: Bertha, geborene Lewinsohn, das Mädchen aus Marienwerder, sie starb in Schöneberg in 1905. Und da ist auch Johanna, ihr Stein ganz schief geraten, seit 1912 im Grünen hier gebettet. ‚Guten Tag Johanna, da bin ich wieder.‘ Der Flieder blüht, der Wind ein leichtes Rauschen, ich setze mich hin und denke ein wenig zurück.
Von den Oettinger Frauen lernte ich die Schubertlieder auswendig, wo man in Brandenburg wandert und die Neugierde als Navigation. Und wie sie sich zum Islam bekannten und darüber ihre Familie verloren. Von Friedrich, dem Getauften, wissen wir nicht wo er begraben liegt. Aber Emilia und die beiden Töchter sind auf der islamischen Abteilung von Brookwood in Surrey gebettet, in der Nähe des Imams, der sie im Krieg über Wasser hielt. Das waren Frauen, die in den schwierigsten Lagen noch sich um Lösungen bemühten. ‚Und jetzt?‘ sage ich halblaut, und weiß die Antwort auch sofort. Gehe nachhause, hole das Archiv hervor, finde den Briefwechsel zwischen Lisa und ihrem Geliebten, dem klugen Aziz, nehme die Gedichte, die sie sich wechselseitig schenkten und lese die Zeilen des unvergleichlichen Friedrich Rückert: ‚Etwas wünschen und verlangen / Etwas hoffen muß das Herz / Etwas zu verlieren bangen / Und um etwas fühlen Schmerz.‘ 
Und damit verabschiede ich mich heute von meinen Lesern. Es war schön für euch alle zu schreiben. Bis dass wir uns wiedersehen.

 
[1] Gerdien Jonker, ‚Etwas hoffen muss das Herz.‘ Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen. Göttingen: Wallstein, 2018.

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    Die Autorin wohnt im Berlin-Wilmersdorf

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