DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins
​in der Corona-Krise
​
I. Das Geräusch der Stille

Abgeschlossen

Von 18. März bis 23. April

Donnerstag der 23. April: Nachwort zu Das Geräusch der Stille

4/24/2020

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Gestern sind die Berliner auf die Straße gegangen und haben wieder von ihrer Stadt Besitz ergriffen. Es war ein Vorgang, der sich im Laufe des Tages langsam steigerte und gegen Ladenschluss einen Höhepunkt erfuhr. In Wilmersdorf spielten sich dabei folgende Szenen ab:

1. Am Morgen um 11.00 weht auf dem Kurfürstendamm eine frische Frühlingsluft. Der Himmel ist tiefblau. Die Gehsteige sind noch in tiefen Schatten gehüllt. Durch die geöffneten Türen kann man überall in die Läden hineingucken und den Leuten bei der Vorbereitung zuschauen. Schuhe, Parfüms, Taschen, Herrenanzüge und Kurzwaren werden dort zurechtgerückt, alles Dinge, die in den vergangenen fünfunddreißig Tagen nicht angeboten werden konnten. Auch in den Reisebüros ist das Licht wieder angeknipst und hinter den bunten Aushängen, die von Inseln, Bergen und Meer erzählen, ist Bewegung wahrzunehmen. Die Stimmung ist freundlich. Aber vor den vielen Coffee Shops und Esslokalen stehen die Tische nach wie vor Kopf; die Stuhlbeine bleiben zusammengekettet. Das vertraute Bild, das sich mit dieser Ladenöffnung einstellen will, bleibt also unvollständig.

2. Beim Supermarkt erblicke ich die ersten sehr alten Herrschaften, die sich heute nach draußen wagen, um den großen Einkauf zu tätigen. Es sind dies eine Mutter und ihren Sohn. Beide sind papierweiß im Gesicht, eine ungesunde Farbe, die von dem Mundschutz aus der Apotheke noch verstärkt wird. Die Mutter schätze ich weit über neunzig, eine richtige Dame, sorgfältig gekämmt und geschminkt und mit einem lilafarbenen Sommermantel bekleidet, während ihr Sohn, ein gut erhaltener Fünfundsiebziger, beinahe keifend vor Aufregung an der Kasse steht, wo er die Zahlung mit der EC-Karte nicht hinbekommt und sich mit dem Kassierer überwirft. ‚Ist gut, Hans‘, höre ich sie sagen. Mir scheint, dass die beiden einen schon lange geplanten Ausflug unternehmen, sich immer bewusst, dass die Gefahr um jede Ecke lauert und sofort zuschlagen kann. Später am Tag höre ich von noch anderen alten Herrschaften, die auf der Straße gesichtet worden sind, auch sie extrem unsicher. Alle hatten die ungesunde weißen Farbe von Menschen, die lange das Tageslicht haben entbehren müssen. Mir geht durch den Kopf, dass dies also unsere Nachbarn sind, die sich irgendwo da oben fünfunddreißig Tage lang freiwillig isoliert haben und nun dringend Essensnachschub benötigen. Zwar haben die Supermärkte ringsum die ganze Zeit über geöffnet gehabt, aber erst die allgemeine Ladenöffnung hat sie offensichtlich davon überzeugt, dass es unten jetzt halbwegs sicherer geworden sei.

3. Als wir nachmittags um zwei Richtung Volkspark gehen ist in der Güntzel- und der Berliner Straße schon sehr viel mehr Betrieb. Der allgemeine Anblick, der die Straße in den letzten Wochen bot hat sich aber noch nicht wesentlich geändert. Zu sehen sind nach wie vor Mütter mit Babys im Kinderwagen und jauchzende Kinder auf ihren Steppern. Einmal sehe ich zwei kleine Mädchen mit Mützchen und Schnullern auf der Ladefläche eines Frachtfahrrades staunend in die Welt schauen, während der Vater in die Pedale tritt. Meist sind es doch die munteren Senioren, die diese Gegend bevölkern und hier ihren Einkauf tätigen, nur sind es sehr viel mehr als sonst. Dort wo die Uhlandstraße die Blissestraße kreuzt muss man schon richtig manövrieren, um noch genügend Abstand halten zu können.

4. In den Gärten am Volkspark brummt der Bär. Bei der Nachbarin raufen sich Kinder in verschiedenen Altersstufen. Die hauseigenen zwei, die noch ein bisschen jünger als die anderen sind, setzen sich lauthals schreiend durch. Bei den Nachbarn auf der anderen Seite ist im großen Stil Trampoline springen und Blockflöten angesagt. Ich bewundere diese Kinder, wie sie zu dritt auf dem straff gespannten Boden hüpfen, sich nacheinander fallen lassen, wieder im Takt auf die Füße kommen und sich doch niemals in die Quere geraten. Weiter hinten jault ununterbrochen ein Hund, ein großer süßer, den ich wohl gesehen aber noch nie gehört hatte. Die Eigentümerin sitzt daneben im Grass und spricht ihm besänftigend zu. Noch weiter hinten schreien Männer und raucht ein Grill. Eine gewisse Elektrizität hat sich über allem ausgebreitet, etwas Fluides, das zwischen Erwartung und Spannung changiert. 

5. Die Nachbarin erzählt mir von ihrem Bruder, der morgens im Supermarkt an der Kasse dem Kunden hinter sich gebeten hatte, doch bitte genügend Abstand zu halten und dafür einen Schlag ins Gesicht bekommen hat. ‚Die Polizei wurde gerufen. Die kam auch gleich. Als die dann da waren, hat mein Bruder dem Mann gesagt, wenn er sich entschuldige würde er die Anzeige zurückziehen. Das hat der dann auch gemacht.‘ Was ist das für eine Szene? Was sagt sie über die momentane Stimmung aus? In etwa so: Der Mensch, der dem andern ins Gesicht schlug, war voller Aggressionen, er wollte sich von niemand mehr Vorschriften machen lassen. ‚Genug ist genug‘ muss er gedacht haben, da solle ihn niemand mehr kommen, und auch, wo die Läden jetzt öffnen ist der Spuk doch vorbei.

6. Fünf Uhr nachmittags: auf der Uhlandstraße ist das Geschiebe groß. Ausweichen oder gar Platz für andere machen ist nicht mehr dabei. Das berühmte social distancing, das sich so selbstverständlich eingebürgert hatte, ist wie weggepustet. Nun ist das Gegenteil eingetreten, die Leute stehen sich gegenseitig auf die Füße. Mit Taschen beladenen Gruppen nehmen die Gehsteige über die ganze Breite im Besitz. Mehr noch, in ihrer Freude darüber, wieder flanieren und shoppen zu können, mischt sich eine beinahe greifbare Aggression. Shopper mit Mundschutz, die hier deutlich in der Minderheit sind, werden eher mitleidend oder verächtlich angeguckt. Die Ellenbogen sind ausgefahren. Das Volk greift Besitz von der Straße.
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7. 5.30: In einer Seitenstraße tritt eine kleine Familie stadtfein aus der Haustür, klappt den Kinderwagen auseinander und hängt die Taschen um. Der Vater, ein Mid-Dreißiger mit Bauchansatz, schreit derweil ein kleinen Jungen an, von oben nach unten wie der Altersunterschied es vorgibt und mit einer Lautstärke, die von den Wänden wiederhallt. Das Kind hält sich an einer Wasserpistole fest, mit der es soeben den väterlichen Bauch angespritzt hat und schaut unsicher hoch. Ich mache zwei Schritte zurück. ‚Der ist doch noch viel zu klein, um so angeschrien zu werden‘, offeriere ich. Der Vater schaut mich nicht begreifend an. ‚Das ist mein Sohn. Ist doch wohl meine Sache, wie ich ihn erziehe.‘ Ich: ‚Ach nein doch. Kinder sind kein Eigentum, die haben auch Rechte.‘ Das Kind steht mit offenem Mund dazwischen, spritzt dann seine Pistole in meine Richtung. Die Mutter, eine kleine dürre Frau mit langen Haaren, stellt sich schützend vor ihrem Mann. Ich bin Zeugin einer Alltagsnormalität, die nicht für meinen Augen bestimmt ist, die sich bislang irgendwo da oben in den eigenen vier Wänden abgespielt hat und nun mit der allgemeinen Aufregung nach draußen gespült wird. Die Eltern haben sich den Übergang von der Familienintimität in die Straßenöffentlichkeit noch nicht so recht realisieren können. Es entwickelt sich ein Gespräch, in dem wir uns nicht erreichen. Am Ende wünsche ich ihnen alles Gute und gehe davon. 

Am nächsten Tag hat sich die Aufregung weitgehend gelegt. Die Berliner, die gestern noch die Straße zurückeroberten, bleiben heute daheim. Die shoppenden Senioren sind wieder unter sich. Vor dem Fleischerladen wird höflich Konversation durch den Mundschutz betrieben. Da alle einen tragen sind die Abstände jetzt geringer geworden. Im beschaulichen Wilmersdorf ist fürs Erste die Ruhe wieder eingekehrt.
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Dienstag, der 21. April – Die Konsultation

4/21/2020

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Der Zauber ist dabei, auf leisen Pfoten wegzugehen. Seit die Republik sich streitet über Rückkehr zum 'Normalen' und wer denn alles dazu gehört, seit die Motoren aufgefahren werden und auch die Aggression, seitdem verschließt sich mir die Fähigkeit das andere zu schauen, - mit immer größerer Fahrt, wie ich feststellen muss. Ich fasse daher den Beschluss, zuerst die Oettingers zu besuchen. Man könnte mal erörtern, wie es nun weiter gehen wird.
Bislang haben mir die Oettinger Frauen immer noch Neues geben können. Jahre habe ich mit ihnen in dieser Stadt verbracht. Bin die Strecke zwischen Prinzen- und Lindenstraße hundertmal gelaufen, habe die Brachen angestarrt wo sie lebten und mit dem Leben davonkamen, habe das Viertel lichterloh gesehen und bin Susanna mit den Blicken gefolgt, wie sie gegen den Strom von Berlin nach Kriebetal lief. Überlebenskünstlerinnen sie alle, Susanna und ihre Mutter Emilia, die Schwester Lisa in Lahore, und Rani, das Kind der Rechnung, das die Schläge abbekam.[1]
Um zu ihnen zu kommen muss man lange gehen, den Damm herunter bis zum Ring, dann einmal um Berlin gefahren und dann noch Richtung Falkensee. Antonplatz, die Herbert-Baum-Straße, es grüßen die Kastanien mit ihren langen Fingern, da erblicke ich endlich mein Ziel. Auf dem jüdischen Friedhof Weißensee liegen sie, die Berlin zur Großstadt machten, die Pfiff hereinholten und eine reichhaltige Kultur: Lewin, Liebmann und Kantorowicz, Meyer, Lewinski und Orenstein, Gerson von Kaufhaus Gerson, Zeitungsverleger Mosse, die Marcussen und die Wittgensteins. Dazwischen liegen die Oettingers, die Steine gerade noch auffindbar: Bertha, geborene Lewinsohn, das Mädchen aus Marienwerder, sie starb in Schöneberg in 1905. Und da ist auch Johanna, ihr Stein ganz schief geraten, seit 1912 im Grünen hier gebettet. ‚Guten Tag Johanna, da bin ich wieder.‘ Der Flieder blüht, der Wind ein leichtes Rauschen, ich setze mich hin und denke ein wenig zurück.
Von den Oettinger Frauen lernte ich die Schubertlieder auswendig, wo man in Brandenburg wandert und die Neugierde als Navigation. Und wie sie sich zum Islam bekannten und darüber ihre Familie verloren. Von Friedrich, dem Getauften, wissen wir nicht wo er begraben liegt. Aber Emilia und die beiden Töchter sind auf der islamischen Abteilung von Brookwood in Surrey gebettet, in der Nähe des Imams, der sie im Krieg über Wasser hielt. Das waren Frauen, die in den schwierigsten Lagen noch sich um Lösungen bemühten. ‚Und jetzt?‘ sage ich halblaut, und weiß die Antwort auch sofort. Gehe nachhause, hole das Archiv hervor, finde den Briefwechsel zwischen Lisa und ihrem Geliebten, dem klugen Aziz, nehme die Gedichte, die sie sich wechselseitig schenkten und lese die Zeilen des unvergleichlichen Friedrich Rückert: ‚Etwas wünschen und verlangen / Etwas hoffen muß das Herz / Etwas zu verlieren bangen / Und um etwas fühlen Schmerz.‘ 
Und damit verabschiede ich mich heute von meinen Lesern. Es war schön für euch alle zu schreiben. Bis dass wir uns wiedersehen.

 
[1] Gerdien Jonker, ‚Etwas hoffen muss das Herz.‘ Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen. Göttingen: Wallstein, 2018.

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​Montag, der 20. April – In der Unterwelt

4/20/2020

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Heute soll die Rückkehr zur Normalität eingeleitet werden. Erste Schritte zwar, aber viele Läden dürfen wieder öffnen. Also freue ich mich und ziehe los, um mit dabei zu sein. Wo da? Nicht so schwierig. Wo sonst ließe sich das Geschehen besser beobachten als in den Tempeln des Einkaufs und der Mobilität, die da sind die Bahnhöfe Berlins? Es gibt nicht wenige davon, aber mein Ziel gilt heute nur den ganz großen, dem Potsdamer und dem Alexanderplatz und auch dem Hauptbahnhof. 
Dem Potsdamer Platz nähere man sich von Westen her, dort wo die Straße nach rechts beugt und abtaucht in die kalte Schlucht. Wo einst der größte Mauerstreifen zwischen Ost und West sich auftat, da sollte die wiedervereinigte Stadt mit Einkaufspassagen neu vermessen werden. Aber in den Läden rührt sich heute nichts und auch der Bahnhof darunter gleicht eher einer Geisterstadt. Die Räume liegen alle im Dunkeln. Meine Schritte hallen von den Wänden. Damals als noch die Mauer stand fuhr man hier an ebenso dunklen und geisterhaften Bahnsteigen entlang, vorbei an schmutzig-weißen Kacheln und Männern mit Waffen im Arm. Die Waffen fehlen heute zwar, aber von einer Öffnung nicht die geringste Spur.
Dann lieber schnell zum Alexanderplatz. Dort von oben nach unten zu laufen macht mir immer eine Freude. Lichtdurchflutet ist das Gewölbe der S-Bahn, das Amphitheater der Treppen glänzt. Die Eisenträger sind von hellen Lichtkästen gekrönt, die grün-blauen Kacheln schimmern. Die U-Bahn hat hier das Privileg, in einem Aquarium zu halten. Es fehlen zwar die Fische, dafür gibt es Ziele, über die man träumen kann. Die U5 nach Hönow zum Beispiel, da könnte man zum Tierpark fahren oder zum Kienberg, wo die Gärten sind. Heute will das aber niemand. Die Bahnsteige bleiben leer und auch die Läden, die die Passagen säumen. Die Erlaubnis mag gegeben sein, trotzdem, wo bleiben die Berliner denn?
Schließlich noch eine Stippvisite durch den Hauptbahnhof. Mit der Leere habe ich mich inzwischen versöhnt. Fünf Männer klettern mit Tauen am Gewölbe entlang, ihre Silhouetten im scharfen Licht. Fensterputzer, ein aussichtreicher Beruf. Noch einmal die Treppen hinab bis in die tiefste Unterwelt, dort wo die unerreichbaren Fernziele angekündigt sind. Nürnberg, Stralsund, wann wird das denn wieder? Alles hier unten schweigt Stille, nur die S-Bahn ganz oben lässt sich noch vernehmen. Um sie zu erreichen steigt man die hundertfünfundsechzig Stufen wieder hoch. 
Ist alles jetzt gesehen? Noch nicht alles. Da oben liegt die Stadt höchst selbst, im schönsten Maiengrün. Was steige ich da in die Unterwelt hinab, wie einst die Göttin Inanna? Was fördere ich die Dunkelheit heraus, wenn doch die Sonne scheint?

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Freitag, der 17. April – Die Riesin

4/17/2020

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Seit Deutschland in die Verlängerung gegangen ist hat sich Berlin wie von Zauberhand in zwei Lager geteilt. Einfach halber heißt es hier ‚zwei‘, weil sich halt nicht erfragen lässt, was sich hinter der Maske sonst noch tut. Denn um Masken geht es hier. Die Bundeskanzlerin hat sie uns ‚empfohlen‘, jedoch nicht zur Pflicht gemacht und gestern schon spitzten sich die Meinungen zu. Die Stadtspaziergängerin, die ja den Mundschutz pfleglich mit sich trägt, fuhr auf einmal tadelnde Blicke ein. Das ist das eine Lager. Doch das andere Lager, das lässt sich auch nicht lumpen. Heute früh als sie hastig in den Laden lief und darüber die Vorrichtung vergaß, schossen ebenso tadelnde Blicke über Maskenränder hinweg. Oder irrte sie sich da? Es gibt Augen überall, aber ob freundlich, tadelnd, prüfend oder ohne was zu sehen, das weiß man noch nicht so genau. Eine Erkundung soll hier weiterhelfen.  
1. Erkundung ohne Maske: Uhrzeit: 10.00. Dauer: 58 Min. Route: Fasanenstraße – Ludwigkirchstraße – Xantener Straße - Adenauer Platz und über den Kurfürstendamm wieder zurück. Zu sehen sind Hausmänner beim Einkauf, Ballspieler auf dem Platz, die Kinder beim Skaten, ein einsamer Handwerksmann, zwei Raucher an der Ecke, der Fensterputzer bei ‚Zigarren‘, die Schlange beim Bäcker: alle sind ohne und das bleibt auch weiter so. Übrigens, niemand von ihnen schenkt der Forscherin die geringste Beachtung. Nicht-Träger unter sich. An Träger zählen wir indes zwei Fahrradfahrerinnen, eine Rentnerin mit Tasche, noch eine beim Lotto-Geschäft, beim Geldautomaten wieder zwei. An der Bushaltestelle vier rein - vier raus, davon eine mit Maske. Soll man noch bei Lidl rein? ‚Lidl lohnt sich‘ sagt der Spruch. Nein, lohnt sich eher nicht. 
2. Erkundung mit Maske: Uhrzeit: 12.15. Dauer: 35 Min. Route: U-Bahn Güntzelstraße bis Rathaus Steglitz und wieder zurück. Auf dem Bahnsteig neun Wartende, drei davon mit Tuch, die Forscherin ist eine. Im Abteil ist das Verhältnis 3:19. Bundesplatz: fünf raus, eins rein. Da sind es nur noch zwei. Friedrich-Wilhelmplatz: der zweite Mundschutzträger verlässt den Zug. Nun ist sie ganz allein. Walther-Schreiberplatz: noch einmal sechs raus, zehn übrig, Maskenzuwachs null. Und die Augen? Nur da und dort ein Streifen, was aber auch dem Notizbuch gelten kann. 
Fazit: Das Verhältnis mit:ohne schwankt zwischen 1:20 und 1:10. Festgestellt wurde heute auch eine gewisse Lethargie ringsum. Der Grund? Höchstwahrscheinlich und frei nach Robert Walser: am Morgen da die Riesin Berlin ihre Locken schüttelt ‚und streckt ein Bein zum Bett heraus‘, da kann sie sich nicht auch noch um extra Textilien kümmern weil, ‚so eine Riesin, die kleidet sich eben ein bisschen langsam an.‘ Guten Morgen, Berlin!
 
 


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Donnerstag, der 16. April – Zachor

4/16/2020

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Heute sagen die jüdischen Gemeinden Jizchor, das Totengebet am Ende vom Pesach-Fest. Zu gleicher Zeit beginnt für ganz Berlin das große Zachor: Erinnere Dich! Heute vor fünfundsiebzig Jahren nämlich begann die Schlacht um Berlin, in der sich Frauen, Kinder und alte Männer den russischen Soldaten entgegenwarfen. Das war das letzte deutsche Aufgebot. Sechzehn Tage dauerte ihr Widerstand, dann war die Stadt zerstört und voller Toten und mit den Russen rückte etwas Anderes ein. 
Es gibt Viertel in Berlin, wo sich diese Vergangenheit besser nachspüren lässt als anderswo. Zu einem davon geht heute die Reise, konkret, zur Schönhäuser Allee hoch bis zum Ring. Unterwegs blättert die Stadt ihre Schichten auf, wie sonst die Seen ringsum das im Sommer tun. Man watet durch seichtes Gewässer, warm, warm, bis ein kalter Unterstrom jäh unterbricht. Als Erstes taucht rechts der Friedhof auf, jüdische Steine in tiefer Ruh‘. Baumpfleger schneiden Äste von den Linden. Es fährt ein Kind auf einem Fahrrad. Drüben geht ein Hund. Eine Kirche mahnt, dass Gott uns nicht gegeben hat den Geist der Furcht. Die Kulturbrauerei. Es riecht nach Kaffee in den Straßen. Die Glyzinien färben blau in den Fenstern. Eine Mittelschicht hat sich hier niedergelassen, die es sich rundum gut gehen lässt. Wo die U-Bahn aus dem Schacht nach oben fährt und die Straßen sich mehrmals überkreuzen, dort links fängt das gesuchte Viertel an.
Cantian Straße. Wie teuer die Stadt hier doch bauen ließ. Glänzende Häuserfronten, ein freier Blick übers Feld. Pappeln und Platanen stehen Spalier bis zur Sporthalle. Dort hinten verlief die Mauer. Nachdem die Schlacht einmal geschlagen war, lag hier alles in Trümmern, - für Grün- und Schießanlagen Platz genug. Gaudy Straße. Agaven in den Grünstreifen verraten den modernen Geschmack. Vor der Halle rechts liegt der Kiez. Das Karree zwischen Rhinow, Kopenhagener und Sonnenberger Straße besteht aus renovierten Häusern und liegt behütet im S-Bahn Ring. Mit seinen Kaffeeläden und Restaurants strahlt es ein Wohlbefinden aus. Auch das Corona Virus trübt, wie mir scheinen will, die Sonntagsstimmung nicht. Genau hier lag einst Inge Meyer, die später Inge Müller hieß, eingegraben in den Trümmern. Ihre Aufgabe war es gewesen, Verwundete von der Straße zu holen und Essbares zu organisieren. Dann ging sie eines morgens Wasser holen: ‚und auf einmal fiel der Himmel um.‘ Überlebte drei Tage unterm Schutt, bis harte Hände sie herauszogen. Das war der 2. Mai vor fünfundsiebzig Jahren, der Tag der Kapitulation. 
Ich studiere jedes Haus, gehe die Fußgängerbrücke, die die sieben Gleise überquert, schaue mir die Stelle von der Überseite an. Eine Armee von zweiundeinhalb Millionen russischen Soldaten rückte von hier Richtung Zentrum vor. Die da drüben hatten nicht den Hauch einer Chance, auch die Flakhelferin Inge Müller nicht. Zachor.

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Dienstag, den 14. April - Berlin-Lichtenberg

4/14/2020

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‚Lichtenberg. Ort der Vielfalt‘ verkündet die Plakette am Eingang des Lichterberger Bezirksamtes. Ein schmuckes Rathaus ist es, umringt von schmucken Bürgerhäusern. Ein Bäcker, ein Kosmetikgeschäft, eine wilhelminische Bürgerschule wie eine Trutzburg, nirgendwo Graffiti, lediglich ein paar Senioren sind zu sehen. Die Grünanlage ist ein aufgelassener Friedhof. Die Steine liegen auf dem Rücken, überwuchert von Grün. Alfred Otte, Jutta Strache, Sophie und Wilhelm Hilliger, Ruhestätte Familie Thomalla, die meisten wurden noch in den 1950er Jahren bestattet. Dann wurde die geweihte Erde zum Durchgangsort und Bedürfnisanstalt. Hier hat der Zahn der Zeit schon sehr gewütet.
Hinter dem Friedhof thront das Gelände des Ministeriums für Staatssicherheitsdienst in all seiner Hässlichkeit. Ein Gebäudeplan am Tor weist auf die Funktionen hin, darunter Spionageabwehr, Bewaffnung, Zentraler Operativstab, Staatsapparat, Zentralregistratur und Aktenverwaltung. 91.000 Mitarbeiter gingen hier hauptberuflich der Spitzelarbeit nach. Ringsherum stehen die Hochhäuser der 1980er Jahre: neue Wohnungen für die, die es sich verdient hatten. Auch entlang der sich nordwärts erstreckende Ruschestraße stehen schmucke Appartementhäuser, allesamt renoviert. Die Stasi wohnte gut. Vor dreißig Jahren wurden hier über Nacht 91.000 Menschen arbeitslos. Sind das nun die Senioren, die im Netto-Supermarkt bei den Kassen drängeln, als ob morgen der dritte Weltkrieg ausbrechen wird? 
Dort wo der Stadtplan 1930 noch Felder und ein Rittergut verzeichnete, fängt die Vulkanstraße an. Stillgelegte Fabriken, verbarrikadierte Hangars, nur wenige Leute unterwegs. Wer Vielfalt sucht scheint hier am falschen Ort. Auch an der Herzbergstraße stehen verlassene Portiershäuser am Zaun. Ein paar Autowerkstätten haben noch geöffnet. Trostlos. Doch befindet sich hier das Dong Xuan Center, bis vor kurzem das klopfende Herz des Asienhandels in Berlin. Lebensmittel, Restaurants, Textilien, Schuhe, Plastikblumen, Handyreparatur, Antiquitäten, Services, Solartechnik, alles was der asiatische Kontinent zu bieten hat und in Berlin gerne abgenommen wird. Doch dieses Herz, es klopft nicht mehr. In Februar, noch bevor die Krise offiziell wurde, meldeten die Zeitungen bereits, dass Berliner Händler wegen ‚Angst vor Ansteckung‘ Dong Xuan mieden. Die Angst beruhte auf Bauchgefühl nach dem Trump-Muster Virus = China-Virus = Chinesen sind gefährlich. Die Angst war ansteckend. Dann war der Handel futsch. 
Die Corona-Krise gibt Anlass, die Soziologie der Grenzziehung zu beleben. Seit sie begann ekeln Landbewohner Städter aus ihren Landstrichen, bewerfen im französisch-deutschen Grenzgebiet Deutsche ihre Nachbarn mit Eiern, treibt die chinesische Regierung afrikanische Langzeit-Residenten zusammen. Dieses Virus befindet sich nicht im Rachen, es wird sozialen Gruppen zugeschrieben. Es ist 'der Fremde‘, der gefährlich ist. In Berlin-Lichtenberg hat diese fatale Verschiebung die fragile Vielfalt, die sich inmitten einer deutschen Ödnis an der Herzbergstraße zu festigen begann, fürs erste plattgemacht.


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Montag, der 13. April – Stadtmusik

4/13/2020

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Gestern warnte die Kommissionspräsidentin die Europäer davor, jetzt bereits ihren Sommerferien zu buchen. Ab sofort dürfen die Moskauer nicht mehr als hundert Meter vor die Tür. In Berlin ist heute kaum jemand draußen. Ein zweiter Feiertag und Regen in der Nacht, da rührt die Stadt sich lange nicht vom Fleck. Halt, stimmt nicht! Gerade jetzt ist sie voller Geräusche. Es wehen Töne und Rhythmen durch die Straßen. Woher kommt diese Musik? 
Beharrlich zirpen die Meisen, von links nach rechts, von rechts nach links, und füllen damit ganze Straßenzüge. Den Grundton geben sie so vor, auch wenn der Takt noch im Argen liegt. Der jähe Flügelschlag der Tauben, wusch-wusch, fügt sich quer darin ein. Der Wind fährt in die Bäume. Schwuusch-schwuusch geben die Äste dazu. Das ist der Anfang eines rhythmischen Ensembles, das von nun an stetig wächst. Ti-ri-tì, ti-ri-tì rufen die Amseln, dazwischen auch mal tì-titi, tì-titi, tì. Ihnen gehört der klare Daktylus, der sich den Jamben der Jogger ganz prima verbinden lässt. Viele Joggerfüße klopfen den Jambus in die feuchte Erde und bilden ein Basso Continuo aus pòm-pom, pòm-pom, pòm-pom, pòm. Nun fallen von links die Tauben ein, tu-túu-tu-tu, tu-túu-tu-tu, immer im Takt, es geht auch ohne Dirigenten. Fffgg, fffgg machen die Räder eines Fahrrads, wie Zimbeln unter einem dicken Tuch. An der Kreuzung dazu noch das Swuschsch der Autos auf dem nassen Pflaster. Darüber klingen die Glocken der Stadt. Nun spielt das ganze Orchester, Streicher, Kupfer, Holz, und auch der große Bass. Das ist Berliner Stadtmusik im Zeichen des Corona Virus. Wenn die Krise für etwas gut sein soll, dann wohl, dass diese Musik sich endlich Gehör verschafft.
Daktylus, Jambus und Trochä, die Rhythmen fügen sich ihrem jeweiligen Muster. Sie teilen sich auch den Beinen mit. Aber versuche eine mal, sie alle zugleich zu beherzigen. Es verheddern sich die Sätze, es straucheln die Füße, man stolpert sogleich über einen Stein. Die Stadtspaziergängerin, sie kann sich nur für einzelne Rhythmen entscheiden, klammert sich an ‚Was treibt mich jeden Mo-orgen / So tief in’s Holz hinein? Was frommt mir mich zu be-ergen / Im unbelau-au-auschten Hain?‘ und gerät darüber wieder in den Takt. Wenn hier also der Ursprung des deutschen Liedguts liegt, so wissen wir jetzt Bescheid. Dann gilt ab jetzt nur noch, ‚Ihr Blümlein alle / Heraus, heraus! / Der Mai ist kommen / Der Winter ist aus.‘


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​Sonntag, der 12. April – Der langweiligste Ort Berlins'

4/12/2020

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Heute ist Ostern, die Glocken haben geläutet, auf der Straße hört man nun das Schlagen von Autotüren, Kinderstimmen, Hundegebell. Es geht auf zwölf zu, Berlin fährt gleich ins Grüne. Im Radio wurde gemeldet, dass Deutschland heute Ostereier sucht. Vermeldet wurde ebenfalls, dass in der Stadt New York die Sirenen pausenlos gellen und man um 10.23 bereits 181.000 Infizierte sowie 8.600 Tote zählte. Dagegen bewegt sich Berlin mit seinen 4.567 Infizierten und 50 Toten eher am unteren Rand. Das sind noch immer 50 zu viel, aber der Unterschied prägt sich ein.
Wo gehen die Berliner an diesem schönen Sonntag mit ihren Eiern hin? Die Stadtgrenze ist zwar verschlossen, aber es bleiben noch immer der Grunewald und die Wasserkante. Ich versuche es mit der Wasserkante. Raus nach Nikolaussee, kurzer Spaziergang Richtung Wannsee. Von links kommen sogleich dichte Rauchschwaden und Fettgeruch: da sind Schrebergärten. Von rechts erklingt ein Höllenlärm, da steht der Berliner Motorklub aufgestellt. Als ich um die Ecke biege sehe ich hunderte glänzende Maschinen dicht an dicht am Straßenrand geparkt. Dahinter vierschrötige Männer und Frauen mit einem Kaffeebecher vor der Brust. Wie ein Schwarm Gänse kurz vorm Auffliegen braust ab und zu schon mal eine Maschine davon, landet wieder in den Gänseschwarm, eckt beim Nachbarn an. 
Der Weg zum Wannsee ist kurz, dafür aber dicht befahren. Hier bewegt sich alles - Autos, Fahrräder, Fußgänger - in Trauben, zu zweit ist heute offensichtlich nicht das Ding. Strandbad Wannsee ist ein Berliner Sehnsuchtsort und schon oft aus Ruinen auferstanden. Heute aber bleiben die Tore zu. So manche nervt das. Autos lassen auf dem Parkplatz den Kies aufspritzen, machen quietschend die Biege, verschwinden wieder im Wald. Am Zaun entlang dribbeln Leute, schauen durch das Gitter, rütteln vergeblich am Tor.
​Ein Stück weiter taucht Schwanenwerder wie eine Fata Morgana aus dem Wald auf. Da ist schon die Brücke, das Wasser links und rechts, blau unter einem blauen Himmel, Schwäne, schaukelnde Boote soweit das Auge reicht. Tatsächlich liegen die Segelboote noch immer winterlich hinter einander vertäut. Die Plane blitzen weiß im Frühlingslicht. Motoren röhren. Spaziergänger klettern da und dort die Düne hoch. Ein Rennfahrer stellt sein Radio auf laut. Das hier ist heute wohl der langweiligste Ort Berlins'.
Ich verlasse Insel, Wald und Motorclub mit einem Gefühl der Verwirrung, als ob da etwas nicht gut stimmt. Vielleicht weil alles wie immer ist? Wieder in der Stadt steht die Feuerwehr in der Straße, ein großer roter Kasten mit rotierenden blauen Lichtern. Daneben ein Hoftor mit weit geöffneten Türflügeln. Oben hängen die Nachbarn aus den Fenstern und warten. Ich warte ein Weilchen mit. Tritt nun ein wofür alle Angst haben? Ist das hier die wirkliche Wirklichkeit?
Nach kurzer Zeit kommt ein Feuerwehrmann mit Gürtel, Helm und Axt nach draußen, schaut zu den Fenstern hoch, ruft ’ist halb so schlimm!‘, und steigt ins Auto ein. Ihm folgen zwei Damen, die eine gestützt vom zweiten Einsatzmann, die andere mit einer Tasche an der Seite. Als auch sie sicher eingestiegen sind fährt der Wagen lautlos davon. 

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Samstag, der 11. April – Blanke Nerven

4/12/2020

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Am Samstag vor Ostern – Frühlingssonne mit einem frischen Unterton, bestes Wetter zum geduldigen Anstehen – mache ich eine Einkaufsrunde durchs Viertel und merke, die Nerven liegen schon blank. 
Szene Eins – Die Auswahl. Beim Gemüsehändler windet sich die Schlange um den Marktstand herum. Vorne verstauen sechs helfende Hände die Ware schnell in Tüten, wechseln Geld, winken den nächsten heran. Mitten in der Warteschlange läuft ein Mann mit Kopfhörern von seinem Platz zurück nach hinten, kneift mit den Fingern in junge Salatköpfe, hebt eine Zucchini hoch und lässt sie wieder fallen, streckt bereits die Hände nach den Pilzen aus. Frau: ‚Wenn Sie jetzt auch noch anfangen die Pilze zu befummeln fange ich an zu schreien.‘ Mann: (weist auf den Kopfhörern) ‚Ich höre nichts.‘
Szene zwei – Die Einkaufstasche. Vor dem Käse-Marktstand zwei angekreidete Stehplätze. Die Kundschaft bildet eine Schlange quer über den Markt. Warten. Zuschauen wie die da vorne vorankommen. Ehepaar, hat bereits abgerechnet, umständlich, verstaut noch am Stand stehend die Päckchen von der einen in der anderen Tasche. Ein Seufzen geht durch die Reihen.
Szene Drei – Das Schwätzchen. Als sie bereits abgerechnet und den Einkauf in ihrem Wagen verstaut hat, richtet die kleine Dame – schönes Mäntelchen, Lackschuhe – sich ein, noch ein Schwätzchen zu halten. Lange Gewohnheit: man kennt und schätzt sich halt. ‚Die Eltern in der Türkei?‘ Besitzer: ‚Ja, alles gut.‘ ‚Gehen Sie Morgen auch in den Garten?‘ Er lächelt verlegen. Die Tochter, die samstags immer aushilft, richtet den Blick über die Kundin hinweg, macht eine entschuldigende Grimasse, ruft der nächsten Kundin ein ‚Sie wünschen bitte?‘ zu. Da erst schaut die Dame hinter sich und erschreckt.
Szene vier – Vor dem Bio-Markt. An der Kasse, gut sichtbar für die vorne in der Schlange stehen, rechnet eine Frau mittleren Alters die Rechnung noch mal durch. Sie macht Tüten wieder auf, fragt, ‚wieviel haben Sie für die Tomaten genommen?‘ Tut dasselbe mit der Ananas und den Avocados. Der Kassierer, gründlich eingewiesen immer höflich zu sein, richtet sich halb von seinem Platz auf, lugt um den Plexiglasschutz herum um besser lesen zu können, sucht wieder in seiner Liste. Der Mann, der vor mir steht und alles bestens beobachten kann, schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. 
Szene fünf – Zwei Nachbarn entdecken sich in der Schlange. A. ‚Hallo, wie geht es in der Praxis! Hatten Sie genug zu tun?‘ B. ‚Kann man wohl sagen. Wir hatten Ansturm. Die Leute kommen beim geringsten Husten, aber auch mit Corona-Verdacht.‘ A. ‚Haben Sie denn Schutzkleidung bekommen?‘ B. ‚Nicht das ich wüsste. In den ersten Wochen war es ein va-banque Spiel. Ich habe ja keine einundeinhalb Meter Arme, muss den Leuten auf die Pelle rücken. Gottseidank noch nichts passiert. Jetzt habe ich von einem Kammerjäger eine halbwegs ordentliche Schutzmaske übernommen. Fühlt sich etwas sicherer an.‘


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Donnerstag, der 9. April - Am Boxhagener Platz

4/9/2020

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Morgens herrscht am Boxhagener Platz Katerstimmung, der erste Kaffee in der Sonne, das erste Bier dazu. Der Pavillon Karuna hat die Essenausgabe für Bedürftige schon geöffnet.  Zweiundzwanzig Tage nach dem Lock-down sind auch hier die Regeln der neuen Etikette angekommen. Zwei Wassercontainer, ein Eimer und Flüssigseife laden zum Händewaschen ein. Beim Anstellen Abstand bewahren. Das Essen wird mit Plastikhandschuhen in Plastiktüten ausgereicht.
Kaffee. Suppe. Sandwich. Die Gardämpfer dampfen. In der gefüllten Tüte Dinge wie Wasser und ein Taschentuch. Ein Punk mit geschorenem Kopf und Silberringen um den Mund blinzelt in die Sonne, nimmt vorsichtig die Suppe und schlürft zu seinem Platz. Eine Frau ohne Zähne, in eine dicke Jacke gehüllt, huscht nach vorne, holt sich den Kaffee, wird von einer Gruppe jüngerer Männer lauthals angemacht. Sie wehrt ab, huscht wieder davon. Laut sind sie, die Männer, Platzhirsche, ein großer Muskeltyp ihr Anführer. Vor solchen nimmt man sich besser in Acht. Ein sauber angezogener Mann mit fettigem Haar, die Brille mit Tesa verklebt, holt sich zwei Tüten, nimmt noch einen Kaffee dazu, schleicht seitlings davon. Ihm folgt eine kleine stille Frau mit weißen Haaren und Falten im Gesicht.
Auf den Parkbänken sitzen viele Menschen, jede Bank ein kleines Biotop. Jungen in ihren Kapuzen eingehüllt, eine Clique die sich auf bulgarisch verständigt, zwei Frauen mit Taschen voller Müll. In der Grasmitte noch ein paar Schläfer. Ein großer schwarzer Mann liegt zwischen den Gänseblümchen und starrt in die Luft. Dazwischen Hunde jeden Alters, schwarze, gelbe, gefleckte. Ein Dachshund beschnüffelt eine Brotkante. So eine fette Beute ist das nicht. Am Parkausgang sitzen drei Männer in Arbeitshosen beim Bier. Könnten Arbeiter sein, oder auch nicht. Die Grenzen sind fließend und verwischen sich. Ob in Arbeit oder arbeitslos, ob Wohnung oder nicht, die meisten hier sind auf die Essenshilfe angewiesen.
Ringsum die Kiezläden, Getränke und Tabakwaren, ein Hotel, ein Späti-Verkauf. ‚Vorm Späti am Boxi sitzen die Kiezbewohner bis in die Puppen beim Bier‘, so hat mir das neulich jemand erzählt. Sicherlich schreien die Männer am Pavillon im Takt dazu. Und davon gibt es noch viele. Auf dem Weg zum Schlesisches Tor humpeln mir zwei Männer auf Krücken entgegen, schüttelt ein Rollstuhlfahrer Münzen in eine Tüte, liegt ein junger Mann mit Schnauzbart auf dem Gehsteig, sitzt ein alter Herr mit Wollmütze hinter seinem Pappbecher. Das sind sie also, die Leute vom Boxi, die Schwachen, die vom Virus als ersten bedroht sind.
Erst am U-Bahn-Ausgang erblicke ich drei verschleierte Frauen, die in die andere Richtung gehen, Plastikhandschuhe an den Händen, einen Einkaufswagen hinter sich her. Als eine sich umdreht denke ich, ist das nun ein Mundschutz oder ein Geschichtsschleier, was sie da trägt? Die Grenzen hier, die verwischen sich. 


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