Gestern sind die Berliner auf die Straße gegangen und haben wieder von ihrer Stadt Besitz ergriffen. Es war ein Vorgang, der sich im Laufe des Tages langsam steigerte und gegen Ladenschluss einen Höhepunkt erfuhr. In Wilmersdorf spielten sich dabei folgende Szenen ab:
1. Am Morgen um 11.00 weht auf dem Kurfürstendamm eine frische Frühlingsluft. Der Himmel ist tiefblau. Die Gehsteige sind noch in tiefen Schatten gehüllt. Durch die geöffneten Türen kann man überall in die Läden hineingucken und den Leuten bei der Vorbereitung zuschauen. Schuhe, Parfüms, Taschen, Herrenanzüge und Kurzwaren werden dort zurechtgerückt, alles Dinge, die in den vergangenen fünfunddreißig Tagen nicht angeboten werden konnten. Auch in den Reisebüros ist das Licht wieder angeknipst und hinter den bunten Aushängen, die von Inseln, Bergen und Meer erzählen, ist Bewegung wahrzunehmen. Die Stimmung ist freundlich. Aber vor den vielen Coffee Shops und Esslokalen stehen die Tische nach wie vor Kopf; die Stuhlbeine bleiben zusammengekettet. Das vertraute Bild, das sich mit dieser Ladenöffnung einstellen will, bleibt also unvollständig.
2. Beim Supermarkt erblicke ich die ersten sehr alten Herrschaften, die sich heute nach draußen wagen, um den großen Einkauf zu tätigen. Es sind dies eine Mutter und ihren Sohn. Beide sind papierweiß im Gesicht, eine ungesunde Farbe, die von dem Mundschutz aus der Apotheke noch verstärkt wird. Die Mutter schätze ich weit über neunzig, eine richtige Dame, sorgfältig gekämmt und geschminkt und mit einem lilafarbenen Sommermantel bekleidet, während ihr Sohn, ein gut erhaltener Fünfundsiebziger, beinahe keifend vor Aufregung an der Kasse steht, wo er die Zahlung mit der EC-Karte nicht hinbekommt und sich mit dem Kassierer überwirft. ‚Ist gut, Hans‘, höre ich sie sagen. Mir scheint, dass die beiden einen schon lange geplanten Ausflug unternehmen, sich immer bewusst, dass die Gefahr um jede Ecke lauert und sofort zuschlagen kann. Später am Tag höre ich von noch anderen alten Herrschaften, die auf der Straße gesichtet worden sind, auch sie extrem unsicher. Alle hatten die ungesunde weißen Farbe von Menschen, die lange das Tageslicht haben entbehren müssen. Mir geht durch den Kopf, dass dies also unsere Nachbarn sind, die sich irgendwo da oben fünfunddreißig Tage lang freiwillig isoliert haben und nun dringend Essensnachschub benötigen. Zwar haben die Supermärkte ringsum die ganze Zeit über geöffnet gehabt, aber erst die allgemeine Ladenöffnung hat sie offensichtlich davon überzeugt, dass es unten jetzt halbwegs sicherer geworden sei.
3. Als wir nachmittags um zwei Richtung Volkspark gehen ist in der Güntzel- und der Berliner Straße schon sehr viel mehr Betrieb. Der allgemeine Anblick, der die Straße in den letzten Wochen bot hat sich aber noch nicht wesentlich geändert. Zu sehen sind nach wie vor Mütter mit Babys im Kinderwagen und jauchzende Kinder auf ihren Steppern. Einmal sehe ich zwei kleine Mädchen mit Mützchen und Schnullern auf der Ladefläche eines Frachtfahrrades staunend in die Welt schauen, während der Vater in die Pedale tritt. Meist sind es doch die munteren Senioren, die diese Gegend bevölkern und hier ihren Einkauf tätigen, nur sind es sehr viel mehr als sonst. Dort wo die Uhlandstraße die Blissestraße kreuzt muss man schon richtig manövrieren, um noch genügend Abstand halten zu können.
4. In den Gärten am Volkspark brummt der Bär. Bei der Nachbarin raufen sich Kinder in verschiedenen Altersstufen. Die hauseigenen zwei, die noch ein bisschen jünger als die anderen sind, setzen sich lauthals schreiend durch. Bei den Nachbarn auf der anderen Seite ist im großen Stil Trampoline springen und Blockflöten angesagt. Ich bewundere diese Kinder, wie sie zu dritt auf dem straff gespannten Boden hüpfen, sich nacheinander fallen lassen, wieder im Takt auf die Füße kommen und sich doch niemals in die Quere geraten. Weiter hinten jault ununterbrochen ein Hund, ein großer süßer, den ich wohl gesehen aber noch nie gehört hatte. Die Eigentümerin sitzt daneben im Grass und spricht ihm besänftigend zu. Noch weiter hinten schreien Männer und raucht ein Grill. Eine gewisse Elektrizität hat sich über allem ausgebreitet, etwas Fluides, das zwischen Erwartung und Spannung changiert.
5. Die Nachbarin erzählt mir von ihrem Bruder, der morgens im Supermarkt an der Kasse dem Kunden hinter sich gebeten hatte, doch bitte genügend Abstand zu halten und dafür einen Schlag ins Gesicht bekommen hat. ‚Die Polizei wurde gerufen. Die kam auch gleich. Als die dann da waren, hat mein Bruder dem Mann gesagt, wenn er sich entschuldige würde er die Anzeige zurückziehen. Das hat der dann auch gemacht.‘ Was ist das für eine Szene? Was sagt sie über die momentane Stimmung aus? In etwa so: Der Mensch, der dem andern ins Gesicht schlug, war voller Aggressionen, er wollte sich von niemand mehr Vorschriften machen lassen. ‚Genug ist genug‘ muss er gedacht haben, da solle ihn niemand mehr kommen, und auch, wo die Läden jetzt öffnen ist der Spuk doch vorbei.
6. Fünf Uhr nachmittags: auf der Uhlandstraße ist das Geschiebe groß. Ausweichen oder gar Platz für andere machen ist nicht mehr dabei. Das berühmte social distancing, das sich so selbstverständlich eingebürgert hatte, ist wie weggepustet. Nun ist das Gegenteil eingetreten, die Leute stehen sich gegenseitig auf die Füße. Mit Taschen beladenen Gruppen nehmen die Gehsteige über die ganze Breite im Besitz. Mehr noch, in ihrer Freude darüber, wieder flanieren und shoppen zu können, mischt sich eine beinahe greifbare Aggression. Shopper mit Mundschutz, die hier deutlich in der Minderheit sind, werden eher mitleidend oder verächtlich angeguckt. Die Ellenbogen sind ausgefahren. Das Volk greift Besitz von der Straße.
7. 5.30: In einer Seitenstraße tritt eine kleine Familie stadtfein aus der Haustür, klappt den Kinderwagen auseinander und hängt die Taschen um. Der Vater, ein Mid-Dreißiger mit Bauchansatz, schreit derweil ein kleinen Jungen an, von oben nach unten wie der Altersunterschied es vorgibt und mit einer Lautstärke, die von den Wänden wiederhallt. Das Kind hält sich an einer Wasserpistole fest, mit der es soeben den väterlichen Bauch angespritzt hat und schaut unsicher hoch. Ich mache zwei Schritte zurück. ‚Der ist doch noch viel zu klein, um so angeschrien zu werden‘, offeriere ich. Der Vater schaut mich nicht begreifend an. ‚Das ist mein Sohn. Ist doch wohl meine Sache, wie ich ihn erziehe.‘ Ich: ‚Ach nein doch. Kinder sind kein Eigentum, die haben auch Rechte.‘ Das Kind steht mit offenem Mund dazwischen, spritzt dann seine Pistole in meine Richtung. Die Mutter, eine kleine dürre Frau mit langen Haaren, stellt sich schützend vor ihrem Mann. Ich bin Zeugin einer Alltagsnormalität, die nicht für meinen Augen bestimmt ist, die sich bislang irgendwo da oben in den eigenen vier Wänden abgespielt hat und nun mit der allgemeinen Aufregung nach draußen gespült wird. Die Eltern haben sich den Übergang von der Familienintimität in die Straßenöffentlichkeit noch nicht so recht realisieren können. Es entwickelt sich ein Gespräch, in dem wir uns nicht erreichen. Am Ende wünsche ich ihnen alles Gute und gehe davon.
Am nächsten Tag hat sich die Aufregung weitgehend gelegt. Die Berliner, die gestern noch die Straße zurückeroberten, bleiben heute daheim. Die shoppenden Senioren sind wieder unter sich. Vor dem Fleischerladen wird höflich Konversation durch den Mundschutz betrieben. Da alle einen tragen sind die Abstände jetzt geringer geworden. Im beschaulichen Wilmersdorf ist fürs Erste die Ruhe wieder eingekehrt.
1. Am Morgen um 11.00 weht auf dem Kurfürstendamm eine frische Frühlingsluft. Der Himmel ist tiefblau. Die Gehsteige sind noch in tiefen Schatten gehüllt. Durch die geöffneten Türen kann man überall in die Läden hineingucken und den Leuten bei der Vorbereitung zuschauen. Schuhe, Parfüms, Taschen, Herrenanzüge und Kurzwaren werden dort zurechtgerückt, alles Dinge, die in den vergangenen fünfunddreißig Tagen nicht angeboten werden konnten. Auch in den Reisebüros ist das Licht wieder angeknipst und hinter den bunten Aushängen, die von Inseln, Bergen und Meer erzählen, ist Bewegung wahrzunehmen. Die Stimmung ist freundlich. Aber vor den vielen Coffee Shops und Esslokalen stehen die Tische nach wie vor Kopf; die Stuhlbeine bleiben zusammengekettet. Das vertraute Bild, das sich mit dieser Ladenöffnung einstellen will, bleibt also unvollständig.
2. Beim Supermarkt erblicke ich die ersten sehr alten Herrschaften, die sich heute nach draußen wagen, um den großen Einkauf zu tätigen. Es sind dies eine Mutter und ihren Sohn. Beide sind papierweiß im Gesicht, eine ungesunde Farbe, die von dem Mundschutz aus der Apotheke noch verstärkt wird. Die Mutter schätze ich weit über neunzig, eine richtige Dame, sorgfältig gekämmt und geschminkt und mit einem lilafarbenen Sommermantel bekleidet, während ihr Sohn, ein gut erhaltener Fünfundsiebziger, beinahe keifend vor Aufregung an der Kasse steht, wo er die Zahlung mit der EC-Karte nicht hinbekommt und sich mit dem Kassierer überwirft. ‚Ist gut, Hans‘, höre ich sie sagen. Mir scheint, dass die beiden einen schon lange geplanten Ausflug unternehmen, sich immer bewusst, dass die Gefahr um jede Ecke lauert und sofort zuschlagen kann. Später am Tag höre ich von noch anderen alten Herrschaften, die auf der Straße gesichtet worden sind, auch sie extrem unsicher. Alle hatten die ungesunde weißen Farbe von Menschen, die lange das Tageslicht haben entbehren müssen. Mir geht durch den Kopf, dass dies also unsere Nachbarn sind, die sich irgendwo da oben fünfunddreißig Tage lang freiwillig isoliert haben und nun dringend Essensnachschub benötigen. Zwar haben die Supermärkte ringsum die ganze Zeit über geöffnet gehabt, aber erst die allgemeine Ladenöffnung hat sie offensichtlich davon überzeugt, dass es unten jetzt halbwegs sicherer geworden sei.
3. Als wir nachmittags um zwei Richtung Volkspark gehen ist in der Güntzel- und der Berliner Straße schon sehr viel mehr Betrieb. Der allgemeine Anblick, der die Straße in den letzten Wochen bot hat sich aber noch nicht wesentlich geändert. Zu sehen sind nach wie vor Mütter mit Babys im Kinderwagen und jauchzende Kinder auf ihren Steppern. Einmal sehe ich zwei kleine Mädchen mit Mützchen und Schnullern auf der Ladefläche eines Frachtfahrrades staunend in die Welt schauen, während der Vater in die Pedale tritt. Meist sind es doch die munteren Senioren, die diese Gegend bevölkern und hier ihren Einkauf tätigen, nur sind es sehr viel mehr als sonst. Dort wo die Uhlandstraße die Blissestraße kreuzt muss man schon richtig manövrieren, um noch genügend Abstand halten zu können.
4. In den Gärten am Volkspark brummt der Bär. Bei der Nachbarin raufen sich Kinder in verschiedenen Altersstufen. Die hauseigenen zwei, die noch ein bisschen jünger als die anderen sind, setzen sich lauthals schreiend durch. Bei den Nachbarn auf der anderen Seite ist im großen Stil Trampoline springen und Blockflöten angesagt. Ich bewundere diese Kinder, wie sie zu dritt auf dem straff gespannten Boden hüpfen, sich nacheinander fallen lassen, wieder im Takt auf die Füße kommen und sich doch niemals in die Quere geraten. Weiter hinten jault ununterbrochen ein Hund, ein großer süßer, den ich wohl gesehen aber noch nie gehört hatte. Die Eigentümerin sitzt daneben im Grass und spricht ihm besänftigend zu. Noch weiter hinten schreien Männer und raucht ein Grill. Eine gewisse Elektrizität hat sich über allem ausgebreitet, etwas Fluides, das zwischen Erwartung und Spannung changiert.
5. Die Nachbarin erzählt mir von ihrem Bruder, der morgens im Supermarkt an der Kasse dem Kunden hinter sich gebeten hatte, doch bitte genügend Abstand zu halten und dafür einen Schlag ins Gesicht bekommen hat. ‚Die Polizei wurde gerufen. Die kam auch gleich. Als die dann da waren, hat mein Bruder dem Mann gesagt, wenn er sich entschuldige würde er die Anzeige zurückziehen. Das hat der dann auch gemacht.‘ Was ist das für eine Szene? Was sagt sie über die momentane Stimmung aus? In etwa so: Der Mensch, der dem andern ins Gesicht schlug, war voller Aggressionen, er wollte sich von niemand mehr Vorschriften machen lassen. ‚Genug ist genug‘ muss er gedacht haben, da solle ihn niemand mehr kommen, und auch, wo die Läden jetzt öffnen ist der Spuk doch vorbei.
6. Fünf Uhr nachmittags: auf der Uhlandstraße ist das Geschiebe groß. Ausweichen oder gar Platz für andere machen ist nicht mehr dabei. Das berühmte social distancing, das sich so selbstverständlich eingebürgert hatte, ist wie weggepustet. Nun ist das Gegenteil eingetreten, die Leute stehen sich gegenseitig auf die Füße. Mit Taschen beladenen Gruppen nehmen die Gehsteige über die ganze Breite im Besitz. Mehr noch, in ihrer Freude darüber, wieder flanieren und shoppen zu können, mischt sich eine beinahe greifbare Aggression. Shopper mit Mundschutz, die hier deutlich in der Minderheit sind, werden eher mitleidend oder verächtlich angeguckt. Die Ellenbogen sind ausgefahren. Das Volk greift Besitz von der Straße.
7. 5.30: In einer Seitenstraße tritt eine kleine Familie stadtfein aus der Haustür, klappt den Kinderwagen auseinander und hängt die Taschen um. Der Vater, ein Mid-Dreißiger mit Bauchansatz, schreit derweil ein kleinen Jungen an, von oben nach unten wie der Altersunterschied es vorgibt und mit einer Lautstärke, die von den Wänden wiederhallt. Das Kind hält sich an einer Wasserpistole fest, mit der es soeben den väterlichen Bauch angespritzt hat und schaut unsicher hoch. Ich mache zwei Schritte zurück. ‚Der ist doch noch viel zu klein, um so angeschrien zu werden‘, offeriere ich. Der Vater schaut mich nicht begreifend an. ‚Das ist mein Sohn. Ist doch wohl meine Sache, wie ich ihn erziehe.‘ Ich: ‚Ach nein doch. Kinder sind kein Eigentum, die haben auch Rechte.‘ Das Kind steht mit offenem Mund dazwischen, spritzt dann seine Pistole in meine Richtung. Die Mutter, eine kleine dürre Frau mit langen Haaren, stellt sich schützend vor ihrem Mann. Ich bin Zeugin einer Alltagsnormalität, die nicht für meinen Augen bestimmt ist, die sich bislang irgendwo da oben in den eigenen vier Wänden abgespielt hat und nun mit der allgemeinen Aufregung nach draußen gespült wird. Die Eltern haben sich den Übergang von der Familienintimität in die Straßenöffentlichkeit noch nicht so recht realisieren können. Es entwickelt sich ein Gespräch, in dem wir uns nicht erreichen. Am Ende wünsche ich ihnen alles Gute und gehe davon.
Am nächsten Tag hat sich die Aufregung weitgehend gelegt. Die Berliner, die gestern noch die Straße zurückeroberten, bleiben heute daheim. Die shoppenden Senioren sind wieder unter sich. Vor dem Fleischerladen wird höflich Konversation durch den Mundschutz betrieben. Da alle einen tragen sind die Abstände jetzt geringer geworden. Im beschaulichen Wilmersdorf ist fürs Erste die Ruhe wieder eingekehrt.