DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins
​in der Corona-Krise
​
I. Das Geräusch der Stille

Abgeschlossen

Von 18. März bis 23. April

Donnerstag, der 19. März - Auf der Wilmersdorferstraße

3/19/2020

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Unterwegs zum heutigen Ziel, eine Strecke von immerhin zwei Kilometern, begegnen mir fünf angeleinte Hunde samt Begleitung, dazu etwa ebenso viele Mundschutzträger. Nicht viel los an diesem schönen Frühlingsmorgen. Ein alter Mann am Stock, ein zerknittertes altes Dämchen mit vielen Taschen. ‚Ich glaube an Gott‘ sagt sie gerade zu ihrem Begleiter, einem dicken jungen Herrn, als ich die beiden passiere. Auch der Italiener in der Düsseldorfer hat jetzt zugemacht, einige Kaffeeläden ebenso. In den Fenstern Zettel mit ‚Werte Kundschaft, als Folge der jetzigen Situation ...‘  In der Bank am Adenauerplatz sticht eine große Vielfalt an Mundbedeckungen ins Auge. Die Bankangestellten tragen kleine schwarze Mundschutze. Einige Frauen haben farbige Stofffetzen mit Gummis hinter den Ohren befestigt. Ein junger Mann zieht seinen Rollkragenpullover über die Nase. Beim Herumschauen merke ich, dass ich zu einer Minderheit gehöre. 
Als ich die S-Bahn-Unterführung passiere ändert sich das Straßenbild abrupt. Die Wilmersdorfer Straße hat ihren ganz eigenen Stil. Jungen mit Skateboards, junge Mütter mit Kinderwagen, Familien, eine Gruppe Männer mit Bierflaschen in der Hand. Türkische, russische, polnische Stimmen mischen sich, einmal auch eine albanische. Ecke Goethestraße halte ich an, um eine Bestandaufnahme zu machen. Rechterhand vierzig Passanten, linkerhand ebenso viele, etwa jeder Dritte mit einer Packung WC-Rollen in der Hand, vereinzelt Mundschutz. Auf dem Gerüst vor den Wilmersdorfer Passagen sind noch immer Arbeiter zu Gange. Der Baulärm macht dem ukrainischen Akkordeonspieler Konkurrenz, der ausnahmsweise keinen Bach, sondern fröhliche deutsche Volksmusik aufspielt. In seinem Kasten keine Münzen. Im Laden mit dem großen blauen Fisch als Aushängeschild wurde das Geschäft eingeschränkt. Geräuchertes und Fischbrötchen sind jetzt zusammengelegt worden. Beim Frischfisch wurde mithilfe roter Flurstreifen ein Sicherheitsabstand eingeführt. Eine Kundin tritt aus Gewohnheit engagiert nach vorne, um den Fisch ihrer Wahl mit dem Finger anzuzeigen und wird strengstens zurückgewiesen. ‚Sonst muss ich mein Geschäft zuschließen‘, meint der Fischverkäufer. Erschrockene Gesichter. Wir sind alle Gewohnheitstiere.
Auf dem Rückweg ist der Akkordeonspieler von einem Spieler mit Bassklarinette abgelöst worden. Wehmütige mazedonische Klänge füllen die Straße. ‚Aus Bulgarien‘ sagt der junge Musiker als ich frage woher. Der Bäcker gegenüber hat Tische mit blauen Tischdecken herausgestellt. Kundschaft setzt sich, die Sonne kommt raus. Eine Frau lacht ins Handy. Auf der Kantstraße wohltuend wenig Verkehr. Beim Spanier wird per sofort ein Fischverkäufer gesucht. Beim Italiener am Walter-Benjamin-Platz lehnt ein handgemaltes Schildchen im Fenster: ‚Alles wird gut.‘ Kurz vor der eigenen Haustür stürzt ein Freund auf mich zu, ein großer Mann mit einem überdimensionierten Mundschutz, der mich dennoch umarmen will. ‚Mir ist mulmig‘, sagt er, ‚wenn ich infiziert werde sterbe ich‘ und ‚ich muss den Hund doch auslassen können‘. Wir verabreden, uns regelmäßig zu schreiben.
 
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Mittwoch, der 18. März - Vom Hohenzollernplatz bis Hauptbahnhof

3/19/2020

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Kurz vor zehn ist die Fasanenstraße noch leer. Die Antikläden sind geschlossen, die Bekleidungsgeschäfte zugeklebt. Nur bei Degussa steht eine Schlange von Leuten in gebührendem Abstand zu einander, Zeitungen und Handy vor der Nase. Wollen sie Gold kaufen oder verkaufen? Das ist hier die Frage. Schweigen. Ich ziehe in der Straßenmitte an Ihnen vorbei. Am Kurfürstendamm ist alles wie es sein soll, zehn gelbe Busse, Stühle vor dem Kranzlereck, Passanten. Am Bahnhof Zoo die erste Überraschung. Wo sonst gedrängt und geschubst wird zähle ich nur acht Pendler. Wo sind die Taschenroller, die Drogentypen, die Alkis geblieben? Die Kartenverkäufer sitzen in ihrem Provisorium, durch die Fenster erblicke ich null Publikumsverkehr aber oben fahren die Züge wie immer. An der anderen Seite vom Hardenberg-Platz wird gerade das Tor zum Zoo geöffnet. Tiere können sich ja nicht anstecken. Am Wegrand im Tiergarten blühen die Forsythien, die Schleuse ist voller Möwen. Rechterhand wagen sich die Hyänen dicht ans Gitter, vielleicht um Frühlingsluft zu schnuppern, vielleicht auch etwas anderes. Am Kanalrand sitzt jedenfalls ein Obdachloser, umgeben von einem großen Packen Altpapier. Sein strenger Geruch verfolgt mich noch eine Weile. Im Park Café dann doch ein paar Kaffeetrinker in der Morgensonne. Ich umrunde die spanische Botschaft und gehe die erhabene Tiergartenstraße entlang. Vor der gigantomanischen saudi-arabischen Botschaft staut sich eine zweite Schlange, Frauen mit Kopftüchern, alte Männer. Gibt es noch Flugzeuge, die sie nachhause bringen wollen? Links in den Tiergarten hinein Bläue soweit das Auge reicht, wilde Hyazinthen, Bärlauch und Anemonen, auf der breiten Allee aber niemand, der sie bewundert.  Beim Überqueren der Straße des 17. Juni sehe ich das Brandenburger Tor und mache mitten auf der Fahrbahn ein paar Bilder. Kommt ja eh kein Auto. Noch 400 Meter bis zum Kanzleramt. Stille. Ob die Kanzlerin mal richtig schläft? Rechts taucht hinter den Bäumen der verlassene Skulpturengarten auf, dahinter der Reichstag, zweifelsohne leer. Hier will heute niemand heute spazieren gehen. Zwischen Kanzleramt und Abgeordnetenhaus sind die Straßenarbeiten verlassen worden. Die rot-weiße Absperrung flattert im Wind. Hinter der Schweizer Botschaft badet der Hauptbahnhof im grellen Frühlingslicht. Ein einsamer Saxophonspieler und eine ratternde S-Bahn machen zusammen Stadtmusik. Die Straßenbänke, das Pflaster, die Rolltreppen, alles glänzt vor unbenutzter Sauberkeit. Ist man zwischen den Fronten, hört man die Kanonen. Aber das hier, was ist das? Sonnenschein und Frühlingsblüten. Irrer könnte das Gesicht einer Krise nicht aussehen. 



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    Die Autorin wohnt im Berlin-Wilmersdorf

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