DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
  • Vita
  • Books
  • Digital library
  • Mosque Archives
    • The AAL Mosque Archive
    • Mosque Archives in Germany (2022)
  • Jews / Muslims
    • On the Margins (2020)
    • "Etwas hoffen muß das Herz" (2018)
    • The Ahmadiyya Quest for Religious Progress (2016)
    • Im Spiegelkabinett (2013)
  • Contact
  • Blog
    • Von 18. März bis 23. April
    • Von 25. April bis 16. Mai
    • Von 18. Mai bis 25. Juni
  • Articles

100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins
​in der Corona-Krise
​
I. Das Geräusch der Stille

Abgeschlossen

Von 18. März bis 23. April

Dienstag, der 31. März - Kontaktflächen

3/31/2020

0 Comments

 
Heute morgen eine große Wanderung, von Wilmersdorf nach Friedenau, dort Richtung Schöneberg, der Akazien-, Goltz- und Maaßenstraße entlang, über Nollendorfplatz und die Einemstraße bis zum Kanal, links dem Tiergartenufer und der Straße des 17. Juni nach Charlottenburg, und über Bahnhof Zoo wieder nach Hause zurück. Die gute Nachricht: es konnten nicht weniger als vier Bezirksgrenzen ohne Kontrollen überquert werden. Das geht also noch, die Frage ist nur für wie lang. Am Wochenende wurden Münchener Frischluftliebhaber an den Ausfallstraßen zur Umkehr bewogen. Die Hamburger Ausflügler erwartete im Umland kein freundlicher Empfang. Die Bewohner der Prignitz hatten schon in der letzten Woche gegen ‚ihre‘ Berliner gewettert. Grenzen spielen in unserem Alltag eine immer größere Rolle, wobei man nicht mal weiß, wo sich demnächst noch eine auftun wird.
Auf der ganzen Strecke, immerhin achtundeinhalb Kilometer, kamen mir allerlei Mundschutze entgegen, weiß, blau, geblümt, viel mehr als letzten Samstag noch. Auch wir bastelten am Wochenende Einwegmasken aus Kaffeefiltern. Ließen sie sich aus Wäschestoff kaufen, so würde ich das umgehend tun. Dr. Drosten sagt, das sei jetzt eine Geste der Höflichkeit. Dem stimme auch ich inzwischen zu.
Überall in der Stadt sind die Kontaktflächen zurückgefahren. Beim Sanitär-Geschäft wurde ein Plastikhandschuh über die Klinke gestülpt. Die Blumenfrau vollführt mit der Kundin einen pas-de-deux, der komplizierter nicht sein könnte. ‚Keep your distance‘ ruft der U-Bahnsprecher den Reisenden zu. Die S-Bahn lässt wissen, ‚Türen öffnen sich von alleine.‘ Das nacheinander Anfassen ist uns verdächtig geworden. Auch Münzen verloren ihre Attraktion. Geldscheine werden zwar noch immer gewechselt, aber nur mit spitzen Fingern angefasst. 
Dennoch muss man am Geldautomaten die Oberfläche berühren, alles wie immer, sonst gibt‘s gar kein Geld. Dennoch fummeln Männer an ihren Handys, reiben sich Leute ins Gesicht. Man bückt sich, abwesend zwar, um den Hund zu kraulen, oder steckt sich Taschen und Tüten zu. Der kleine Grenzverkehr, der funktioniert demnach noch immer. Man bleibt dort Mensch, wo man sich vergißt. Mittendrin entblößt eine Frau die Beine und Schultern, sitzt in der Sonne und reibt Nivea ein. Auch das gibt es weiterhin, das kleine Genießen. Wir grüßen uns freundlich zu. 
Die beste Nachricht: Das Grüßen ist jetzt zum Berliner Standard erhoben. ‚Guten Tag‘ ruft mir ein Mann auf der Straße zu. ‚Bleiben Sie gesund‘ sagen die Kunden jetzt beim Abschied. Man nickt sich zu und lässt den anderen vor. Berlin, diese knorrige alte Tante, die sonst Paroli mit Schnauze bedient, sie kann es also doch noch anders. Sollten wir dies aus der Krise mitnehmen können, so hätte die Stadt ein andres Gesicht.


0 Comments

Montag, der 30. März - Horchproben

3/30/2020

1 Comment

 
 
Es ist erst zwölf Tage her da ich anfing durch Berlin zu wandern und jeden Tag einen Blog zu führen. Am 18. März trat die Verordnung des Senats zur Corona-Krise in Kraft. Neben den meisten Läden machten Diskos und Opern, Kinos und Museen, Kneipen, Bars und Clubs die Türen zu. Damals tat man sich noch schwer damit, gab es doch 383 Infektionen in Berlin und landesweit erst 8000. Jedoch sagte die Bundeskanzlerin am Abend: ‚Ich brauche jetzt eine Vollbremsung.‘ Und so passierte es denn auch. Seitdem hält Berlin mehr oder weniger die Füße still und schaut den Zahlen beim Ansteigen zu. In zwölf Tagen vermehrten sie sich um sieben, - anderorts um acht oder gar um zwölf. Ob Deutsche, Türken oder Griechen, Russen, Italiener oder Polen, die Stadt, das Land und der Erdkreis warten nunmehr auf die Welle, von der niemand weiß, wann genau und mit welcher Wucht sie trifft. 
Die Mesopotamier kannten eine Form der Vorhersage, Egirru genannt, mit der sie versuchten die Geräusche im öffentlichen Raum mit Deutung zu versehen. 2020 vor unserer Zeitrechnung galt eine solche atmosphärische Bestandsaufnahme dem Schrei einer Eule, dem Fiepen der Ratten im Abfluss oder einem Donnerhall nach dem Blitz. Auch wenn sich in Berlin noch immer solche Töne vernehmen lassen, so öffne ich heute die Ohren für das, was zufällig kommt.
Morgens um 9.00 auf der Uhlandstraße schüttelt ein Müllwagen, zischen Autoreifen auf glattem Pflaster, rufen die Spatzen vom Dach. Am Ludwigkirchplatz empfange ich zwei menschliche Stimmen, das Ru-ku einer Taube und Hundegebell. Auf der Lietzenburger Straße erklingt das Surren eines Motors am Rad des Briefträgers sowie das Kling-Klang des Gerüstbauers. Entlang der Wieland Straße Tauben. Die Tür eines Lastwagens schlägt zu. Richtung Kantstraße rattert die S-Bahn, dahinter das Rauschen des Verkehrs. Doch wenn ich die Augen wieder öffne sind es nur vier Autos, ein Lastwagen und ein Bus. Hinter der Häuserfront klingen Klopfgeräusche, eine Bodenschleifmaschine sowie ein lautes Gerassel, das ich mit einem Zementmischer verbinde. Der M49 brummt an der Haltestelle vor sich hin. Die Wilmersdorfer Straße tönt mit Einkaufswägelchen auf Kopfsteinpflaster. Ein Mann schleift mit den Füßen. Ein Schlüssel wird ins Schloss gesteckt. Ein Anzünder verweigert wiederholt den Dienst. Spatzen. Tauben. Unterdrücktes Husten. Aus weiter Ferne klingt die Sirene der Feuerwehr. Ich lausche noch meinen eigenen Füßen bis zur Bismarckstraße, dann habe ich ein ungefähres Bild. 
Was lässt sich nun aus dieser Horchprobe schließen? Berlin ist in Ruhemodus. Seine Töne lassen sich einzelnen heraushören. Gesprochen wird nur wenig. Die Vögel stören sich nicht daran. Die städtische Infrastruktur funktioniert soweit. Die Baubranche scheint eine Lücke für sich entdeckt zu haben. Würde eine Stadt den Atem einhalten können, dann hört es vermutlich sich so an.


1 Comment

Freitag, der 27. März - Berliner Luft

3/27/2020

1 Comment

 
Es liegt was in der Luft an diesem Morgen. Die Straße grünt so grün, sie könnte glatt da draußen sein, wo jetzt die Lerchen steigen. Jambenwetter. Mich zieht’s heraus zur Ringbahn um Berlin. Zwar führt sie nicht nach Brandenburg, doch misst sie 37 Kilometer, hält an 27 Bahnhöfen und bietet viel Verkehr. An einem normalen Tag steigen eine halbe Million Menschen auf dieser Strecke ein. Mal sehen, was es mit der Berliner Luft dort auf sich hat.
Los geht’s am Hohenzollerndamm, mit einem kurzen Stopp am Messedamm, um den Busbahnhof zu sehen. Es grüßen die Werbungen von Flix- und Blablabus, doch an den Haltestellen null Verkehr und nichts, aber dann auch nichts zu sehen. Schnell zur Ringbahn zurück. Bahnhof Jungfernheide steigen die Reinigungskräfte ein und fegen einmal durch. Bahnhof Beusselstraße. Ein Mann telefoniert mit seiner Mutter und zeigt ihr die Aussicht mit der Handykamera. ‚Hast‘ gesehen? Küsschen, bis nachher.‘ Reinigt anschließend das Glas mit einem Taschentuch. Westhafen. Ein Kind mit Helm und Fahrrad kommt herein, die Mutter sorgsam hinterher. Berlins Kinder. Wie man hört geht es vielen in diesen Tagen hinter verschlossenen Türen nicht so gut, nicht wie diesem Kind, das nach draußen fahren darf. Gesundbrunnen. Eine junge Frau spricht energisch ins Handy, ‚Also, ich habe jetzt unterschrieben... Na, das wissen wir ja durch die Steuerklasse, die wees ick ja.‘ Ich wünsche ihr schweigend alles Gute. 
Die Bahn füllt sich, Frauen mit Kopftuch, Männer in Schlabberhosen, ein paar auffällig dünne Jungen, die sich leise auf Arabisch unterhalten. Hier geht Berlin seinen Gang und so manche gehen noch Geschäften nach. Die Kaffeeläden auf den Bahnsteigen haben regen Betrieb. Mann ins Handy: ‚Wo bist du? Nee, nee, bin gleich da‘. Sagt’s und steigt aus. Frankfurter Allee. War hier nicht die Stasi Zentrale? Vergangenheit, wo bist du geblieben. 
Am Bahnhof Frankfurter Allee herrscht Gedränge. Die Leute kommen paarweise rein, wie die Tiere in Noah’s Arche. Ostkreuz, das Tor nach Osten, Frankfurt(O), Kostrzyn, Wroclaw. Auf Gleis 8, am polnischen Wurststand, hat jemand ein Schildchen mit ‚God bless you‘ aufgehängt. Als ich wieder einsteige treffe ich auf zwei Damen, die in ein angeregtes Gespräch verwickelt sind. Es handelt von einer Teilnehmerin im Spazierklub, die gesagt haben soll, spazieren, das ginge nun nicht mehr. ‚Wir haben telefoniert, wollen nach wie vor ... mit großem Abstand, ja... sollen uns noch mal kurzschließen.‘ Bahnhof Neukölln verlassen die beiden den Zug. Zwischen Hermannstraße und Tempelhof schwingen zwei junge Männer zu den Rhythmen lautloser Musik, die Hände in den Hosentaschen. Zwei Fahrradfahrerinnen steigen zu, mit Seitentaschen und bloßen Armen, steigen am Südkreuz nach Zossen um.
Nach einer Stunde und fünfunddreißig Minuten bin ich wieder dort wo es heute morgen begann und ich weiß jetzt, die Berliner Luft, auch wenn sie nur schwach duftet, sie riecht nach Feriengenuss. So sind die Berliner.
 
Allen ein gutes Wochenende. Montag geht es weiter.
Gerdien

 

1 Comment

Donnerstag, der 26. März - Am Flughafen Tegel

3/26/2020

0 Comments

 
3/26/2020
In den Zeitungen wurde in letzter Zeit wiederholt von einem Exodus berichtet, von 300.000 Altenpflegerinnen zum Beispiel, die Deutschland Richtung Osteuropa verlassen haben, auch von 100.000 deutschen Touristen, die auf Kosten der Regierung nach Deutschland zurückgeholt worden sind. Ob es nun das Regime der nationalen Gesundheitssysteme oder die Sorge um den Liebsten war die sie die Koffer packen ließ, überall auf der Welt kehrten Bau- und Saisonarbeiter, Pflegepersonal, Touristen, Erasmus-Schüler und -Studenten in ihre Heimat zurück. In Berlin landeten bereits die Ibiza-Urlauber, die Teneriffa-Langzeitgäste und die Taucher aus Ägypten. Übriggeblieben sind die Gestrandeten, solche die den Anschluss verpasst haben und solche, die sich eh auf eigenen Kosten durchschlagen müssen. Wer landet in diesen Zeiten noch auf Tegel? Wer macht sich jetzt dorthin auf, um wohin zu fliegen? Um solche Fragen zu beantworten reicht ein kurzer Blick.
‚Die BVG hält Berlin mobil‘ steht auf allen Abfahrttafeln entlang dem Kurfürstendamm und jede zwei Minuten hält dort auch ein Bus. Der 109 Richtung Flughafen Tegel fährt heute dennoch nur für mich. Bleibtreustraße – Olivaer Platz – Adenauerplatz: niemand steigt zu, niemand will mit mir fahren. Erst am Jakob Kaiser Platz warten vermummte Gestalten mit Gepäck. Pünktlich erreichen wir den Flughafen, steigen aus, rufen dem Fahrer einen Gruß zu, gehen in allen Richtungen davon. Der A-Bereich liegt im Dunkeln, rot-weißes Band versperrt den Eingang zum Terminal, bewaffnete Polizei patrouilliert. Im C-Bereich ist noch Betrieb. Es ist 11.00 morgens. Aus Amsterdam landet gerade ein Flug. Um eins geht ein anderer nach München ab, um fünf noch einer nach Doha und vielleicht wird später noch eine Maschine nach Kiew starten. Andere Flüge gibt es nicht. 
An den Glastüren zum Kofferbereich stehen zwanzig Abholer mit Schildchen und Blumen. ‚Willkommen!‘ steht daran geschrieben, amerikanische Papierflaggen sind darauf gesteckt. 11.10 erscheinen vier Rucksackträger, die eilig das Weite suchen. 11.20 wird ein Rollstuhlfahrer herausgeschoben und zu den Taxen gebracht. Warten. 11.40 geben die Türen endlich ca. hundert übermüdete Passagiere frei. Am aufgetürmten Gepäck erspähe ich Klebestreifen, die von einer langen Reise erzählen. Mex-Amsterdam-TXL, Houston-Amsterdam-TXL, SFO-Amsterdam-TXL: Amsterdam war für diese Reisenden nur der Sammelort. Ein Mädchen fliegt den Eltern in die Armen. Tränen. ‚Sie ist wieder da!‘ ruft die aufgelöste Mutter dem Bodenpersonal zu. Eine deutsch-afrikanische Familie schiebt sechzehn Koffern vor sich her. Ein Busunternehmen holt Russen ab, um sie Richtung Russland zu fahren. Niemand lacht, niemand strebt zu den Toiletten, nix wie weg hier.
Als ich wieder im Bus sitze – schwellende Knospen, blitzende Dächer, lauter eitel Sonnenschein – verspüre ich Beklommenheit in der Brust. Alle kehren zu ihren Liebsten und den sicheren Hafen ihrer Heimatländer zurück. Aber was, wenn es dort nicht sicher ist?




0 Comments

Mittwoch, der 25. März - An der chinesischen Botschaft

3/25/2020

0 Comments

 
Was machen die Chinesen? Die Chinesen bereiten sich vor auf die baldige Rückkehr zur Normalität. NUR FÜR KURZE ZEIT ruft ein farbiges Plakat an der Eingangstür des Tian Fu den Kunden zu. Darunter in kleiner Schrift, ‚Bis dahin 20 Prozent Rabatt auf Speisen außer Haus.‘ Tian Fu ist Berlins begehrtester China Restaurant, wo es auch mal Pfoten und Schnauzen gibt, die man zuhause so schnell nicht in die Pfanne werfen würde, und ein wichtiges Barometer. Das China Restaurant ein Stück weiter sieht es genauso und schiebt noch eine zeitliche Präzisierung hinterher: ‚In zwei Wochen wieder geöffnet´. Wirklich? Das lässt hoffen. 
Die Zeichen mehren sich, und ich sah in den letzten Tagen etliche davon, dass die Chinesen Berlins in den Startlöchern sitzen. Und nicht nur sie. Neulich fand ich eine Nachricht in meinem Mail, dass der Seidenstraßenexpress wieder Richtung Europa fährt. Der erste fuhr bereits am 29. Februar in Hefei ab und traf nach nur elf Tagen Fahrt pünktlich in Helsinki an. Der nächste wird in ein paar Tagen erwartet. Die Finnen freuen sich. ‘The novel coronavirus has created a plethora of challenges in various transport forms and schedules’ gab das Transportunternehmen China Service zur Protokoll. Wenn man bedenkt, dass 90 Prozent der Ware bislang auf Schiffen unterwegs war, bietet die Seidenstraße in der Tat ein riesiges Potential. 
Was bedeutet das nun für Berlin? Ich fahre zum Märkisches Museum, um das Epizentrum der chinesischen Aktivität zu inspizieren. Bizarre Situation: Bürgerin Jonker fotografiert den Hochsicherheitstrakt, zu dem die Botschaft der VR China sich gemauert hat. Eine glatte Marmorwand, eine Krone aus Eisenspitzen die sogar Möwen abschreckt, doppelte Metallverstrebungen und Kameras, die alle meine Bewegungen festhalten. Der Blick durch das Haupttor lehrt, dass zusätzlich zwei bronzene Löwen den Eingang bewachen. Da und dort stehen im Botschaftsgarten hölzerne Pandas herum. Kein Lüftchen rührt sich.
Was ich auch erwartet hatte, Schlangen mit Rückkehrern, Pförtner, Broschüren, alles nicht da. Als ich den Komplex umrundet habe, stoße ich an der Rückseite auf das Konsulat. Ein rotes Auge starrt mich an, darunter eine Klingel und verschiedene Ankündigungen, wovon eines besagt, dass die Abteilung vorläufig nur mittwochs und freitags geöffnet ist. Keine Zeitbegrenzung, leider. Ich bin enttäuscht ob soviel Starre. Sie lässt sich so gar nicht mit den vielen kleinen Wellen reimen, die das chinesische Berlin jetzt schon schlägt. Vielleicht ist es auch so. Wie man hört wurde den Chinesen ein App aufs Handy gespielt, der automatisch von Rot auf Grün springt, wenn vom Träger keine Gefahr mehr ausgeht. So handelt ein jeder vom Handy gesteuert und doch gezwungenermaßen für sich. Sollte das zutreffen, dann war ich heute an der falschen Adresse.
 


0 Comments

Dienstag, der 24. März - Wo Berlin am Stillsten ist

3/24/2020

0 Comments

 
Heute ist es still. Stille auf allen Wegen, wie der Dichter sagt. Die Sonne ist aufgegangen und hat die Häuser berührt. Die Zeitung lag wie von Zauberhand auf der Matte. Die Müllmänner sind gekommen und haben die Tonnen durch den Hof gerollt. Dann haben die Staren noch laute Pfeiftöne von sich gegeben. Dann war Ruh‘. Am Anfang der Schöpfung soll die Welt tohu wa bohu, wüst und leer gewesen sein. Von Lärm war nie die Rede. In der Antike bedeutete Stille Einsamkeit oder die greifbare Nähe der Transzendenz, ein Ort voller Potential. Wir, die wir in unseren Wohnungen sitzen und verständnislos nach draußen schauen, nähern uns ihm langsam an. Draußen glänzt die Straße vor Möglichkeiten. Ein DHL Fahrer hält, trägt Pakete in den Kiosk, fährt wieder davon, lässt Stille zurück. Wo es heute in Berlin am Stillsten ist? Ich begebe mich auf die Suche.
Auf dem Vorplatz des Berliner Krematoriums, aufgestellt in der Choreographie dieser Tage, verharren schweigend sieben Personen, jede mit einer weißen Rose in der Hand. Zwischen vier Grablichtern die Urne. Der Friedhofswärter spricht einen Satz in die Stille hinein, umfasst die Urne, schreitet sorgfältig den Säulengang entlang. Die Füße der Trauernden klopfen ein Requiem auf das Pflaster. In mir steigen Purcell’s funeral sentences hoch‚ ‘In the midst of life we are in death‘ und ‘Rejoice in the Lord alway / and again I say rejoice.’ 
An der anderen Seite des Krematoriums liegt das Gräberfeld verlassen in der Mittagsonne. Hier ruhen sie, die auch im Tode sich nicht von der Religion vereinnahmen lassen wollten. Berliner mit altbekannten Namen wie Schubert, Naumann und Blisse. Nachkommen aus den bi-nationalen Ehen der Zwischenkriegszeit wie Ursula Özdemir, Dr. Soraja Wenig, Abdel Kader Sheikh-Ali oder Feiridoun Kankarlou. Eine Familie Asher. Eine Familie Levin. Die Ghazanfarians. Berlin war immer ein multikultureller und vor allem ein säkularer Ort. Um das zu wissen braucht es nicht den Lärm der Wilmersdorfer Straße oder der Sonnenallee. Hier waren sie schon immer in Stille vereint. 
Hinter dem Friedhof die Stadtautobahn. Ich folge ihr bis zur Fußgängerbrücke und schaue überm Rand. Nein, noch keine autofreie Sonntag Qualität, aber seit langem nicht mehr so leer. Das lässt hoffen. Ich weiß nicht was 1972 die Berliner machten, aber wir in Amsterdam, wir fuhren mit unseren Fahrrädern und Rollerblades auf die Autobahn und veranstalteten jeden Sonntag ein Fest. 
Zuhause begrüßt mich Karl Gottfried von Leitner: ‚Es ist so still, so heimlich um mich /
Die Sonn‘ ist unter, der Tag entwich / Wie schnell nun heran der Abend graut! / Mir ist es recht, sonst ist mir’s zu laut.‘ Vertont von Franz Schubert, gesungen von Christian Gerhaher mit Gerold Huber am Klavier ist das ein unwiderstehlicher Genuss.


0 Comments

Montag, der 23. März - Auf der Suche nach 'Russki Berlin'

3/23/2020

1 Comment

 
Die Russen sind in keiner besonderen Gegend zuhause. Dafür gibt es Ukrainer, Weißrussen, Tataren, Armenier, Aserbaidschaner, Russlanddeutsche und Georgier, die in Berlin in denselben Läden einkaufen, in denselben Restaurants essen gehen, denselben russischen Zeitungen lesen und Gotteshäuser aller Art unterhalten. Dazu Musiker, Diskos, eine Russenmafia und ein dichtes Netz an Spielhallen. Wohin also gehen, um in Erfahrung zu bringen wie es ihnen geht? Ich fange in der Uhlandstraße an und lerne: so schnell geben Russen nicht auf. Die Grüne Laterne zum Beispiel, Berlins‘ bekanntestes russisches Restaurant, hat nach der gestrigen Restaurantschließung umgehend eine Renovierung in Angriff genommen. Tische, Bänke, Theke, Teile der Wandverkleidung stehen schon draußen, drinnen erste Klopfgeräusche und Staub. Das Avant-Garde, ein paar Häuser weiter, hat kurzerhand auf Mittagstisch umgeschaltet, Süßwasserfische vom Holzkohlengrill für 6.95€. Eine Dame putzt noch die Fenster. Um 12.00 kann es losgehen. Auch das Lemberg hat geöffnet. Die Eigentümerin, eine wahre Hohenpriesterin des Kaviars, lässt wie gewohnt die Kunden kosten, empfiehlt die Tageslieferung, wiegt ab. Im Supermarkt Russia am S-Bahnhof Charlottenburg dröhnt peppiger russischer Pop. Ich kaufe die Zeitung ‚Russki Berlin‘, Sesam in Honig und kandierten Ingwer. Beim Ingwer lacht der Kassierer kurz in seinem Mundschutz. ‚Ich esse auch Ingwer. Ist gut gegen die Erkältung. Ist gut für die Laune!‘ Der Ingwer also, der könnte sich noch als Retter in der Not herausstellen.
In der Zeitung ein Foto von Patriarch Kirill. Die FAZ meldete bereits, dass, wenn es nach diesem Mann geht, die Ostermessen stattfinden, der Gemeinschaftslöffel aber, mit dem die Kommunion verabreicht wird, nach jedem Gebrauch desinfiziert werden soll. Ich setze Kurs Richtung Fehrbelliner Platz, um die Nachricht zu verifizieren. Die Russische Kirche liegt jedoch verwaist. Dahinter schimmern die Minarette der Ahmadiyya Moschee. Warum nicht den Imam fragen, ob sie in letzter Zeit noch Kontakt hatten? Auf mein Klingeln kommt er in den Garten heraus. Wir unterhalten uns übers Tor. ‚Wie geht es dem Imam?‘ Breites Lächeln. ‚Endlich meine Ruhe‘. Bereits 1924 war die Moschee eine Anlaufstelle für Tataren und ist es bis heute geblieben. ‚Was machen die nebenan?‘ Jemand sei gekommen mit Packen Mehl und Reis, sagt er. Fragte, ob er die Moschee als Lagerplatz benutzen könne. Er hat ihn abgewiesen. ‚Wir haben die Bomben (im zweiten Weltkrieg) überlebt. Werden wir das hier auch wohl überleben.‘ 
Auf dem Heimweg stelle ich fest, dass die Buchhandlungen offen sind. Ach Deutschland, einig Lese-Land. Ich liebe Dich. Was wären wir jetzt ohne ein Buch? Auf meinem Schreibtisch liegt noch Wladimir Kaminer. Ich schlage willkürlich auf und finde ‚Nie etwas ausdenken, sondern immer dem Leben vertrauen.‘ Ein prima Rat.


1 Comment

Sonntag, der 22. März - Der Wilmersdorfer Kiez

3/22/2020

0 Comments

 
Wir haben es geschafft. Gestern Abend um Sieben trat unser Teil der Düsseldorfer Straße auf den Balkon hinaus und applaudierte dem Pflegepersonal. An der Überseite wurden Wunderkerzen dazu geschwenkt. Zum Abschluss klang ein ‚Tschüss bis Morgen‘ über die Straße. Dann war es wieder still. 
Wer sind die Wilmersdorfer? Selbstgenügsam und verschwiegen. Die Leute mit der höchsten Biomarkt-Dichte. Airbnb Vermieter. Gabriele Tergit schrieb schon 1931 über die riesigen Zehn-Zimmerwohnungen, die bis zur Decke mit Büchern und Möbeln vollgestopft waren. Doch ändert sich momentan etwas gewaltig. Eine Freundin schrieb heute morgen aus der Mommsenstraße, dass das Geräusch der Rollkoffer seit gut einer Woche verschwunden sei. Ich gehe heute quer durch die wohlbekannten Straßen, um dem Kiez etwas Neues abzugewinnen. 
Wilmersdorf, das ist zuallererst Unten und Oben, Geschichte und Gegenwart. Oben der Stuck und die Loggias wo nur selten sich jemand blicken lässt. Unten die Stolpersteine, die von den früheren Wilmersdorfern zeugen. In der Fasanenstraße zähle ich alleine 60, von Edith und Franz Josephy nahe Hohenzollerndamm bis zur Familie Béhar an der Ecke zur Kantstraße. In der Nassauischen, der Holsteinischen, der Uhland- , der Kant- und der Mommsenstraße dürften es wesentlich mehr sein. Ich bücke mich heute zu den Schwestern Katharina und Hermine Berend, Jahrgang 1868 respektive 1871, schicke ein Foto an Judith in California, die mir schon oft bei meinen Recherchen geholfen hat und empfange prompt zwei Todesanzeichen. Stand: Ledig. Religion: Mosaisch. Sterbeort: Theresienstadt. Zimmer: L. 415 – 26. Datum 14.4.42. Todesursache: Morbus Senilis. Wie lange die beiden wohl in ihrer Wohnung eingesperrt waren, bevor sie dieses Schicksal ereilte?
Am Ludwigkirchplatz kommen Spaziergänger nach draußen, Eltern mit Hunden und Kindern, einsame Läufer, eine alte Dame im Rollstuhl und ihr Begleiter. Eine Rauchergruppe bildet sich. Zwei Jungs legen verstohlen ihr Skateboard aus. Bei Bäckermann hat sich eine Schlange gebildet. Ein junger Russe regt sich lauthals über das Abstandhalten auf, benutzt Worte wie hysterisch und sinnlos. Die übrigen Wartenden weichen still bis an die Bordsteinkante zurück. Auch beim Portugiesen wird Gebäck eingeholt, auch dort stehen Russen an, diesmal mit Mundschutz. Die Kirche liegt verlassen in der Mitte.
Der Wilmersdorfer Kiez ist auch überaltert. Wohnhäuser wurden in Seniorenheimen umgewandelt. In einigen Straßen werden im großen Stil Nachlässe gekauft und verwaltet, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Dinge sich langsam zu ändern beginnen. Ich passiere eine Wohngemeinschaft für Alzheimer Patienten. Das Haus, in jedem Stock zwölf Zimmer um den Hof, ist mir von vielen Besuchen bekannt. Wie es momentan dort oben wohl aussieht? Wer eine Frage formuliert, hörte ich soeben eine Humanmedizinerin im Fernsehen sagen, der wächst von selber in die Antwort hinein. Rilke. Wir werden es ihm heute gleichtun müssen. 


0 Comments

Samstag, der 21. März - Auf der Sonnenallee

3/21/2020

0 Comments

 
Wo in Berlin ist es belebter als Samstagmorgen auf der Sonnenallee? Richtig. Samstagabend auf der Sonnenallee, wenn die Straßenschiffe und die Barbesitzer ihre Lautstärke um die Wette aufdrehen. Gleich zu Anfang springen die Zettel ins Auge die überall an die Hauswände kleben. Die Aufschrift ‚Wir trauern. #Saytheirnames‘. Dazu die Gesichter von Sedat Gürbüz, Hamaz Kurtovic, Vilo Viorel Paun, Ferhat Unran, Kaloyan Volkov, Gökhar Gültekin, Mercedes Kievpacz, Said Nesar Hashmi und Sedat Gürbüz. Wie jung sie noch waren. Am 25. Februar wurden sie ermordet. Erst ein Monat ist das her, hier sind sie noch nicht vergessen. An diesem Morgen geht es, der schneidenden Kälte zum Trotz, auf der Sonnenallee noch immer belebter zu als auf dem Ku’damm.
Auf der Sonnenallee reihen sich die Juweliere, die Leih- und Pfandhäuser, die Spielotheken, Sportwetten, Spätis, Cocktail- und Shisha-Bars dicht an dicht, dazwischen Süßigkeits- und Gemüseläden, Metzger mit halben Schafen in der Fensterauslage, Showarma- und Hühnergrills. Heute gibt es ein Menschengedränge bei den Gemüseauslagen. Der Inhaber hat sich seinen Mundschutz in die Haare geschoben und zieht gerade die Plastikhandschuhen aus, um besser zupacken zu können. Männer gehen mit Tüten voller Zwiebeln und Orangen davon. Autos warten am Straßenrand, um die Einkäufe im Empfang zu nehmen. Eine füllige Matrone hat ihre beiden Söhne im Schlepptau, vier Tüten in jeder Hand. Der Teeverkäufer füllt heiße Kohle in den Boden seiner Teekanne und streckt die Becher aus. Es wird gekauft, gerufen und gelacht. Ein saftiges Arabisch erfüllt die Morgenluft. Moscheen sucht man vergeblich. Dafür gibt es Kleingewerbe, Handwerksbetriebe, Sportzentren, Aushängeschilder in grüner, blauer und roter Leuchtschrift. Ich zähle nur einen Geldautomaten.
Ecke Wildenbruchstraße ist der Kiez zu ende. Ich mache auf der Gegenseite kehrt. Die Sonne kommt raus und beleuchtet die Satelliten Schüssel, die wie ein Feld Sonnenblumen ihre Schalen gegen Süden richten. Das beantwortet die Frage, wie sich die arabische Bevölkerung Berlins' über die neue Lage informiert. Unten wirbt die B.Z. mit Riesenbuchstaben: ‚Corona Ausgangssperre. So bereitet Berlin darauf vor‘. Ob jemand am Mittwochabend hier die Bundeskanzlerin gesehen hat?
Ecke Kottbusser Damm sehe ich die ersten nicht-arabischen Gesichter. Bei Penny lässt ein Dutzend Obdachloser eine Zigarette kreisen, jeder mit einer Bierflasche in der Hand. Ein altes Ehepaar trinkt Kaffee beim Zeitungskiosk, ihr klappriger Hund auf der Bank daneben. Chinesen, Asiaten, Afroamerikaner, Spanier, Israelis und Deutsche kommen mir jetzt entgegen. Bioläden, Restaurants und Kaffeegeschäfte laden zum Verweilen ein. Vor der Synagoge am Fränkel Ufer, wo der Säulengang trotzig in blaues und weißes Tuch eingeschlagen ist, wacht eine Polizeistreife. Das Leben geht weiter, - trotz oder wegen der Krise, das ist schwer zu sagen. 


0 Comments

Freitag, der 20. März - Rundum das Cottbusser Tor

3/20/2020

0 Comments

 
Beim Verlassen der U-Bahn nieselt es leicht. Es ist Mittagszeit, der türkische Obststand macht gerade zu. In dem winzigen Frisörladen werden noch Männerköpfe geschoren. Der Inhaber des Zeitungskiosks schließt seine Straßentür ab. Die Zeichen stehen auf Cuma, den Anfang des Freitaggebets. Mehr als siebzig Moscheen gibt es in Berlin, davon ein Dutzend entlang der Skalitzer Straße. Wo sie die Mariannenstraße kreuzt sind die wichtigsten auf einen Blick zu sehen. Rechts die Kuppel und Minarette der Mevlana Moschee. Links die gläserne Front des Omar Ibn Al Khattab. Die Mevlana äugt arg verlassen. Der Zugang zu den Waschlokalen ist von einem Zaun gesperrt. Niemand zu sehen. Regen.
Im Zugangsbereich von Omar Ibn Al Khattab prangt ein großes Plakat in drei Sprachen das die sofortige Schließung auf Anordnung des Senats verkündet. Ich umrunde das Bauwerk, das ebenfalls zwei Restaurants, einen Buchladen und einen Frisör beherbergt. Dort strömt gerade ein Trupp junger Männer durch die dunkel getönte Glastür. Jacken werden hochgezogen, Zigaretten frisch angezündet, man klopft sich gegenseitig auf die Schultern, umarmt sich. Da! Wieder ein Schwung! Jetzt auch ältere Männer darunter. Am Eingang zwei Bettlerinnen, das sichere Zeichen vom Ende des Gebets. Ein Bus hält vor der Tür und nimmt die Beter mit. Aus der Glastür tritt derweil wieder eine Gruppe auf den Gehsteig. So machten die Katholiken in Amsterdam es auch als der Katholizismus dort noch verboten war. 
Bei DITIB, drei Häuser weiter, herrscht ein anderes Regime. Ein Zettel am Tor weist den Gläubigen an, die Ansteckungsgefahr ernst zu nehmen und Sorgfalt und Rücksicht zu üben. Darunter das schöne Koranzitat ‚Wer einen Mensch am Leben erhält, so ist es, als ob er die ganze Menschheit rettet.‘ Im verlassenen Hof toben vier kleine Mädchen auf Rollschuhen: die Töchter des Imams. Der Vater steht in einer Türöffnung und schaut ihnen lächelnd dabei zu. 
In der Naunynstraße herrscht lauter Traurigkeit. Foto Selcuk, Hongkong-Shop und Aki Tatsu Sushi haben zugesperrt. Bei Pho, Hasir Restaurant und Hasir Burger warten die Kellner in ihren weißen Schürzen noch auf Kundschaft. Nur Dilek Blumen macht rege Geschäfte. Ein Stück weiter­ ertönt plötzlich Musik. Bei Baklava Gaziantep, wo sich im Fenster die Honigkringel türmen, drängt stürmisch Beethoven's Apassionata nach außen. Dank der fast autofreien Straße lässt sich das Stück auch vor der Tür zu ende hören. Eine junge Frau bringt mir derweil einen Cappuccino. Ihr Gesicht ist konzentriert, ihr Körper bewegt sich im Takt. Musik ist subversiv, schreibt Edward Said, hat es doch die Kraft jede Schwere zu heben. Und wenn es nur ein bisschen ist.  


0 Comments
<<Previous

    Author

    Die Autorin wohnt im Berlin-Wilmersdorf

    Categories

    All

    RSS Feed

    Archives

    April 2020
    March 2020

Powered by Create your own unique website with customizable templates.