Morgens herrscht am Boxhagener Platz Katerstimmung, der erste Kaffee in der Sonne, das erste Bier dazu. Der Pavillon Karuna hat die Essenausgabe für Bedürftige schon geöffnet. Zweiundzwanzig Tage nach dem Lock-down sind auch hier die Regeln der neuen Etikette angekommen. Zwei Wassercontainer, ein Eimer und Flüssigseife laden zum Händewaschen ein. Beim Anstellen Abstand bewahren. Das Essen wird mit Plastikhandschuhen in Plastiktüten ausgereicht.
Kaffee. Suppe. Sandwich. Die Gardämpfer dampfen. In der gefüllten Tüte Dinge wie Wasser und ein Taschentuch. Ein Punk mit geschorenem Kopf und Silberringen um den Mund blinzelt in die Sonne, nimmt vorsichtig die Suppe und schlürft zu seinem Platz. Eine Frau ohne Zähne, in eine dicke Jacke gehüllt, huscht nach vorne, holt sich den Kaffee, wird von einer Gruppe jüngerer Männer lauthals angemacht. Sie wehrt ab, huscht wieder davon. Laut sind sie, die Männer, Platzhirsche, ein großer Muskeltyp ihr Anführer. Vor solchen nimmt man sich besser in Acht. Ein sauber angezogener Mann mit fettigem Haar, die Brille mit Tesa verklebt, holt sich zwei Tüten, nimmt noch einen Kaffee dazu, schleicht seitlings davon. Ihm folgt eine kleine stille Frau mit weißen Haaren und Falten im Gesicht.
Auf den Parkbänken sitzen viele Menschen, jede Bank ein kleines Biotop. Jungen in ihren Kapuzen eingehüllt, eine Clique die sich auf bulgarisch verständigt, zwei Frauen mit Taschen voller Müll. In der Grasmitte noch ein paar Schläfer. Ein großer schwarzer Mann liegt zwischen den Gänseblümchen und starrt in die Luft. Dazwischen Hunde jeden Alters, schwarze, gelbe, gefleckte. Ein Dachshund beschnüffelt eine Brotkante. So eine fette Beute ist das nicht. Am Parkausgang sitzen drei Männer in Arbeitshosen beim Bier. Könnten Arbeiter sein, oder auch nicht. Die Grenzen sind fließend und verwischen sich. Ob in Arbeit oder arbeitslos, ob Wohnung oder nicht, die meisten hier sind auf die Essenshilfe angewiesen.
Ringsum die Kiezläden, Getränke und Tabakwaren, ein Hotel, ein Späti-Verkauf. ‚Vorm Späti am Boxi sitzen die Kiezbewohner bis in die Puppen beim Bier‘, so hat mir das neulich jemand erzählt. Sicherlich schreien die Männer am Pavillon im Takt dazu. Und davon gibt es noch viele. Auf dem Weg zum Schlesisches Tor humpeln mir zwei Männer auf Krücken entgegen, schüttelt ein Rollstuhlfahrer Münzen in eine Tüte, liegt ein junger Mann mit Schnauzbart auf dem Gehsteig, sitzt ein alter Herr mit Wollmütze hinter seinem Pappbecher. Das sind sie also, die Leute vom Boxi, die Schwachen, die vom Virus als ersten bedroht sind.
Erst am U-Bahn-Ausgang erblicke ich drei verschleierte Frauen, die in die andere Richtung gehen, Plastikhandschuhe an den Händen, einen Einkaufswagen hinter sich her. Als eine sich umdreht denke ich, ist das nun ein Mundschutz oder ein Geschichtsschleier, was sie da trägt? Die Grenzen hier, die verwischen sich.