DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
  • Vita
  • Books
  • Digital library
  • Mosque Archives
    • The AAL Mosque Archive
    • Mosque Archives in Germany (2022)
  • Jews / Muslims
    • On the Margins (2020)
    • "Etwas hoffen muß das Herz" (2018)
    • The Ahmadiyya Quest for Religious Progress (2016)
    • Im Spiegelkabinett (2013)
  • Contact
  • Blog
    • Von 18. März bis 23. April
    • Von 25. April bis 16. Mai
    • Von 18. Mai bis 25. Juni
  • Articles

100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins in der Corona-Krise

​III. Übergangsorte

Abgeschlossen

Von 18. Mai bis 25. Juni

Samstag, der 23. Mai, Die Friedrichstadt

5/25/2020

0 Comments

 
Die fehlende Öffentlichkeit bekümmert mich zunehmend. Zwar gibt es nach wie vor den öffentlichen Raum, gibt es die Berliner Straßen und Plätze, wo man sich im Augenblick in Slalom ausweicht oder aber auf Konfrontationskurs geht. Es gibt die Wochenmärkte, wo man sich grüßt und über Abstände hinweg Gespräche führt. Seit der 22. April gibt es auch wieder die Läden, in denen man verhüllt um Mund und Nase einen verschluckten Austausch pflegen kann. Und seit einer Woche ist da noch die kleine Öffentlichkeit hinzugekommen: die Lokale, die mit Stühlen und Tischen im Freien werben. Bei Letzteren geht es ums gemeinsame Essen, um das gemeinsame Anstoßen, und vor allem um das gemeinsame Reden bei Tisch, kurzum, um die private Geselligkeit im öffentlichen Raum. Was aber schmerzlich fehlt sind die Orte, wo man das Eigene und das Dritte mit Unbekannten teilt; wo vorgetragen, diskutiert, musiziert, inszeniert, gespielt, aufgeführt, unterrichtet, vermittelt und demonstriert wird; wo Ungeahntes und Meinungen, die nicht unbedingt die eigenen sind, gehört werden können; wo man sich unter Umständen schütteln lässt; von wo man anders nachhause kommt als dass man vorher hingegangen ist. Das alles gehörte früher zur Öffentlichkeit. Es ist sie, die jetzt überall fehlt.
Am Anfang dieser Öffentlichkeit stand die öffentliche Geselligkeit, nicht nur, aber auch in Berlin. Um 1800 kamen die Berliner zum ersten Mal bei Tee und Rum zusammen, um sich im größeren Kreis auszutauschen. Zu den Anfangsbedingungen gehörten ein privates Empfangszimmer, eine Gastgeberin, junge Leute aus verschiedenen Gesellschaftsschichten die sich neugierig waren, sowie die gemeinsame Überzeugung, dass man sich im Gedankenaustausch weiterbilden könne, dass man sogar gemeinsame Ideen und Vorstellungen entwickeln könne, die dem Land voran helfen würden. Das war der Salon. Von Demokratie war da noch nicht die Rede, man tauschte sich lediglich aus. Daraus erwuchsen im Laufe der Zeit die Vereine, die Lesegesellschaften, die Frauen- und Jugendbewegungen, die Parteien und die Gewerkschaften, in denen der Gedankenaustausch gepflegt wurde. In jüngerer Zeit kamen da noch die halb-öffentlichen Orte hinzu, an denen gelehrt und gelernt und in Konflikten vermittelt wurde; wo man zusammensaß, die Körpersprache des anderen las und versuchte, eine gemeinsame Ebene zu finden.  Was hatten die Tee und Rumtrinker bloß angestellt, dass sie eine solche Bandbreite entfachten? Und gibt es einen Hebel, um den Prozess wieder im Gang zu setzen? Es ist an die Zeit, sich auf die Suche zu begeben.
Wo lässt sich in Berlin nach Spuren öffentlicher Geselligkeit suchen? Eine Möglichkeit ist es, Menschen auf der Straße – Müßiggängern, Shoppern, Terrassenbesuchern - zuzuschauen, um in Erfahrung zu bringen, was sie mit ihrer Freiheit tun. Eine andere ist die Suche nach Orten, wo die Berliner Geselligkeit einst einen Anfang nahm, wo Brüche und Umbrüche stattfanden, wie sie uns jetzt auch ins Haus stehen. Beide waren früher in der Friedrichstadt zuhause. Ich begebe mich dorthin, um einmal nachzuschauen
Der Tag der Erkundung ist ein Samstag und die Uhrzeit 12.00 mittags. Die Route ist vorher festgelegt. Start ist das kurze Stück der Mauerstraße, das von der Leipzigerstraße in das Viertel sticht. Von dort geht es durch die Kronen-, Mohren-, Tauben-, Jäger-, Französische- und Behrenstraße, bis alles restlos durchquert worden ist. Insgesamt kreuzt die Route sechs Mal die Friedrich-, die Charlotten- und die Markengrafenstraße und wird an zehn Straßenecken eine Kurve von 90 Grad gemacht. Als Endpunkt ist die verlängerte Behrenstraße an der Ecke zum Tiergarten bestimmt. Es ist also kein Flanieren, sondern eine strikte Erkundung, die hier begangen wird. 
Was in der Friedrichstadt zuallererst ins Auge springt ist sein eigenartiges Spielbrettmuster, das seine Prägung von einem König empfing. Um 1700 entwarf Friedrich I das Viertel zwischen der Akzisemauer (eine Berliner Besonderheit) und dem Wall, der damals noch den Schlossbezirk umlief. Damit der Handel in Berlin Aufwind bekommen würde, hatte er Migranten aus Frankreich und der Schweiz zu sich geladen. Als sie dann kamen und auch irgendwo wohnen sollten, zeichnete er schlichte Linien in den brandenburgischen Sand. Gemessen wurden 800 x 800 Meter, oben von der Stadtmauer und unten von der Landstraße nach Leipzig begrenzt, darin senkrecht die Mauer-, Friedrich-, Charlotten- und Markgrafenstraße und horizontal die Behren-, Jäger-, Tauben-, Mohren- und Kronenstraße. Daraus ergaben sich längliche Baublöcke, militärisch in Reih und Glied. Das Viertel selber wurde von den Migranten errichtet. Sie wäre mit Recht das Franzosenviertel getauft. Aber Mitspracherecht in solchen Dingen hatten die Migranten mitnichten. Also wurde eine Friedrichstadt daraus. In ihrer Mitte errichteten sie eine französische und eine schweizerische Kirche, das Konzerthaus dazwischen und die Akademie der Wissenschaften gerade gegenüber. Im zweiten Weltkrieg ist zwar alles kaputt gegangen, aber heute sieht es auf dem Gendarmenmarkt wieder genauso aus. 
Von den 1.054 Häusern, die die Franzosen errichteten, stehen heute genau noch drei. Das ist das Karree mit den gelben Pfarrhäusern Ecke Tauben- und Mauer- (heute Glinka-) Straße. Wer das Viertel abschreitet findet stattdessen Neu-Gotik und DDR Plattenbauten in trauter Zweisamkeit, dazwischen kleine Empirehäuser mit griechischem Ornament, neu errichtete Appartementgebäude für Diplomaten und höhere Beamte, dazu noch ein paar letzte Lücken mit umkleideten Baukonstruktionen. Bundesministerien, Bildungsakademien, Stiftungen, Hotels, Immobilienunternehmen, Sportzentren und Autovermietungen haben sich in das Viertel eingenistet und verleihen dem Ganzen einen Eindruck von Unbewohntheit. Dennoch. Bei früheren Besuchen waren die Straßen immer voll.
Entlang der Straßen finden sich zwar viele Kaffeehäuser und Lokale, an diesem Tag aber sind sie fast alle leer. In der Friedrichstraße wirken die Läden verlassen. An diesem Samstag fährt kein Auto, geht kaum ein Mensch dahin. Auf dem Hausvogteiplatz ist statt Autoreifen ein Plätschern zu hören und die Tauben, die am Brunnen sitzen, gurren laut vor sich hin. Ein dicker Taubengeruch erfüllt die Luft. Die Kronenstraße durch, in die Mohrenstraße herein, über die Taubenstraße wieder zurück: das Bild bleibt sich gleich, abwechseln tun sich nur die Häuserfronten. ‚Verkündung der Reisefreiheit‘ steht irgendwo im Fenster geschrieben. Gemeint ist aber die von 1989, nicht die Herbeigesehnte für den kommenden Sommer. Bummeln – die kleine Reisefreiheit - scheinen hier nur wenige wahrzunehmen. Es fehlen die Anwohnenden. Es fehlt auch das große Berliner Publikum. Auch wenn Touristen erst nächste Woche wieder Berlin besuchen dürfen, - wo sind die Berliner denn alle hin? Mir kommt ein düsteres Bild davon, wie sie zuhause gerade die elektronischen Bestellungen abschicken um sich anschließend wieder in die Kachelkommunikation zu versenken (so hat Ines Geipel die um sich greifenden Bildschirmkonferenzen genannt). Diese taubengurrende Leere - wird das die Stadt der Zukunft sein?  
Rechts oben in der Ecke, am Ende der französischen Straße, steht verlassen in der Sonne die Barenboim-Said Akademie. Der Eingang zum Konzertsaal ist verschlossen, aber aus den oberen Fenstern weht Musik. Es wird noch geübt in der Akademie, Hörner und ein Cello klingen hinüber. Wann wird denn wieder die Eröffnung sein? Bis dass die Öffentlichkeit aufhörte zu existieren machte die Akademie uns vor, was keine andere vermag: sie koordinierte das Zusammenspiel von Israelis und Palästinensern auf der Suche nach einem musikalischen Kontrapunkt. „Jeder ist ein ‚anderer‘, schrieb Barenboim kürzlich, aber erst zusammengenommen bilden sie eine vollständige Einheit. Musik erzählt nie eine einzige Erzählung. Es gibt immer Dialog oder Kontrapunkt.“ Für eine solche Suche ist die atmende Gegenwart der ‚anderen‘ schlechthin unabdingbar. Was sie braucht ist das gemeinsame Üben, die gemeinsamen Auftritte und ein lebendiges Publikum, auf das die Spannung überspringt. Eine Kachelkommunikation reicht da niemals aus.
​ 
‚Nichts bleibt. Und ist man nicht veränderlich, so muß man sich so machen,‘ schrieb Rahel Levin 1793 an einen Freund. Damals wohnte sie, 22 Jahre alt, bei den Eltern in der Jägerstraße 54 oberhalb vom Bankhaus Levin, wo sie ‚tout Berlin‘ - die bereits genannten Tee und Rumtrinker aus allen gesellschaftlichen Schichten - in ihrer Dachstube empfing. Die Änderungen, die ihr vor Auge schwebten, umfassten, neben einer gesellschaftlichen Öffnung hin zur bürgerlichen Gesellschaft, auch die eigene Person. Ihre ersten Briefe schrieb sie noch in hebräischen Buchstaben. Um 1790 zogen die Levins vom Spandauer Viertel, wo die meisten Juden wohnten, in die Friedrichstadt. Das war ein enormer gesellschaftlicher Aufstieg. Zu etwa derselben Zeit schrieb der Aufklärer und Verleger Friedrich Nicolai über die Juden in Berlin, „Seit einiger Zeit arbeitet man daran, ihnen eine bessere bürgerliche Verfassung zu geben. Die reichen Häusern haben nützliche Fabriken und Manufakturen angelegt und führen ansehnliche Wechselbanken.“ Damit waren auch das Bankhaus Levin und das der Mendelsohns in der Jägerstraße gemeint. Rahel Levin befand sich just an der Schwelle von Diskriminierung zur gesellschaftlichen Akzeptanz. Sie schaffte sich indes einen eigenen Zugang zur Gesellschaft, indem sie andere zum Nachdenken animierte. Da oben in der Jägerstraße wurde das gesellschaftliche Debattieren erfunden, das für unser Verständnis von Öffentlichkeit prägend gewesen ist.  
Rahel Levin, die spätere Rahel Varnhagen, hat wie keine andere die Friedrichstadt geprägt. Sie liebte das Viertel und das Viertel liebte sie zurück. Außer in der Jägerstraße wohnte sie in der Behrenstraße (an zwei verschiedenen Adressen), der Französischen Straße, der Charlottenstraße und der Mauerstraße.  Als sie 1833 starb hatte sie eine ganze Generation Berliner dazu ermutigt, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, mit einander zu reden und sich zuzuhören. Ihre Ziele waren die der Aufklärung: Auszug aus der (politischen) Unmündigkeit und gesellschaftliche Gleichstellung, - von Männern und Frauen sowie von Christen und Juden. Und sie wusste, dass sich dies nur durch die Zusammenführung von Menschen, durch ihre leibhaftige Nähe, bewerkstelligen ließ.

Literatur:

Daniel Barenboim, ‚Nur Verstehen führt zur Freiheit‘. Frankfurter Allgemeine Zeitung (12.05.2020).
Ines Geipel, ‚Augen schauen dich an‘. Frankfurter Allgemeine Zeitung (6.05.2020).
Friedrich Nicolai, Wegweiser für Fremde und Einheimische durch die königl. Residenzstädte Berlin und Potsdam (Berlin: Nicolai, 1793 / Hildesheim: Olms, 1987), S. 52.
K.A. Varnhagen von Ense (Hg.), Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Erster Teil (Berlin: Bei Duncker und Humblot, 1834), S. 63.


0 Comments



Leave a Reply.

    Author

    Die Autorin wohnt in Berlin-Wilmersdorf

    Archives

    June 2020
    May 2020

    Categories

    All

    RSS Feed

Powered by Create your own unique website with customizable templates.