Das Berliner Ostkreuz ist weniger ein Kreuz denn ein Kleeblatt, das von einem Wirrwarr an Trassen, Schienen und Brücken geprägt worden ist. Die Ringbahn, die Stadtbahn, der Bogen rundum die Victoriastadt, die Eisenbahn nach Frankfurt, die Eisenbahn nach Güstrin, dazu ein ausgedehntes Werkstatt-Gelände haben eine Stadtlandschaft entstehen lassen, die ganze Stadtteile voneinander trennt. Erst war hier die Eisenbahn, dann besetzte die Stadt die Lücken. Entstanden sind lauter kleine Kieze, dank Trassen und Brücken einander völlig fremd. Ein Kiez ist ein abgekapseltes Viertel mit einem eigenen Selbstverständnis, das die unterschiedlichsten Menschen umschließt. Am Ostkreuz lässt sich erfahren, wie Berlin davon geprägt worden ist.
Um das Kreuz herum zu gehen ist viel Arbeit. Der Anfang wird einer jedoch leicht gemacht. Beim Verlassen der Ringbahn am Treptower Park riecht es nach Wasser. Der viele Regen hat die Ränder mit Klee und Hirtentäschel weiß gefärbt. Vor mir glänzen die Spreebrücken im Morgenlicht. Weit unten liegen die Rundfahrtschiffe am Ufer. Rechts erstreckt sich die Landzunge Stralau, links hinter drei Eisenbrücken der Stralauer Kiez. Geradeaus soll es zum Ostkreuz gehen, aber zu sehen ist es von hier aus noch nicht.
Zuerst geht es nach unten auf die Insel. Bevor die Stadt den Zugriff startete war diese Insel ein Fischersdorf mit Kirche und Beschaulichkeit. Im zweiten Weltkrieg wurde sie vollgebaut mit Lagern, für Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, für Polen, Ukrainer, Niederländer und Franzosen, nach Status, Geschlecht und Nationalität in Gruppen eingeteilt. Die Insel bot für die Errichtung der Gefängnisse genügend Platz. Sie war jedoch nicht der einzige Ort, wo sich solches vollzog, denn „zu jener Zeit war Berlin mit Holzbaracken nur so überzogen. In jeder noch so kleinen Lücke der Riesenstadt hatten sich Fluchten brauner, Teerpappe-gedeckter Fichtenholzquader eingenistet. Groß-Berlin (..) bildet ein einziges Lager, das sich zwischen den festen Bauten, den Denkmälern, den Bürohäusern, den Bahnhöfen, den Fabriken hinkrümelt.“
Sagt Wer? François Cavanna, der es aus eigener Anschauung wusste, sagte dies. Eingepfercht in ein Riesenlager am Baumschulenweg, fuhr er 1944 jeden Tag mit der S-Bahn „zur Arbeit“, Trümmern räumen irgendwo in der Riesenstadt: „Hoch oben im S-Bahn-Wagen überfliegst du ein Lager nach dem andern. Von dort oben sehen sie alle gleich aus.“ Cavanna intoniert die Stationen, die er passierte: Ostkreuz, Warschauer Straße, Jannowitzbrücke, alle gründlich plattgebombt. Und weiter ging es in den Westen, wo die Trümmer sich türmten, zu Bellevue, Tiergarten, Zoologischem Garten und zum Kurfürstendamm. Gratis Zwangsarbeit ist für autoritäre Machthaber eine verführerische Sache. In der DDR erschien an deren Statt eine Strafanstalt für Jugendliche, die ebenfalls zur Zwangsarbeit in der A.E.G., der Glashütte und bei Borsig gezwungen wurden. An einem Eisenbahnkreuz wie diesem gab es immer viel zu tun.
Dann kam die Wende und ließ ein olympisches Dorf sich auf die Insel nieder. Die Spiele wurden zwar Berlin nicht zugeschlagen, aber das Dorf wurde gebaut und erlaubt seither ein Wohnen wie nur selten in Berlin, mit Wasserblick und Uferbäumen und Spielplätzen ringsherum. Auf dem Uferweg machen junge Mütter unter Anleitung Gymnastik, ohne Mundschutz aber mit gebührend Abstand. Die Kinderwagen stehen hinter ihnen aufgereiht. ‚Da sind wir‘, scheinen sie den Vorbeigehenden sagen zu wollen: ‚Irr‘ Dich mal nicht. Das hier ist unser Platz.‘
Zurück zum Fußpfad entlang der Ringbahn und durch den Stralauer Tunnel hindurch. An der anderen Seite wartet der Stralauer Kiez. Eine andere Welt offenbart sich hier dem Auge. Sie besteht aus einem großen Werksgelände, der früheren „Hauptwerkstatt der Niederschl.- Märk. Eisenb.“, samt Mauern und Schuppen und sehr viel Sand. Für die Gleisarbeiter wurde ein schmaler Streifen Häuser entlang dem Osthafen gebaut, ein billiges Arbeiterviertel mit Plattenbauten durchsetzt. Seit der Wende hat die Stadt im Kiez gewütet und hinterließ blendend weiße Bauten, dazu zwei kämpfende Riesenmänner im Fluss. Ihre Wohltaten schmeckten aber nicht allen. „Gentrifizierung“ steht an eine Wand geschrieben. An der Ecke zur Markgrafenstraße verbirgt sich ein Biergarten hinter verwitterten Palisaden, darauf die Homer-Zeile von Orpheus und Eurydike: „Im abgründigen Hades festgesetzt / kann sie kraft seines rührenden Wehklangs befreit werden / wenn er sich nur den Regeln der Unterwelt fügt...“. Hinter diesen Palisaden bietet man ein solches Fügen Widerstand.
Der Straßenverkehr faucht und hupt und spuckt schwarze Schwaden und macht das Gehen zu einer mühsamen Sache, wäre da nicht „Das Friedrichhainer Infrastrukturprojekt in Selbstverwaltung“. Auf einem der Werksgelände gelegen, mit Holzbaracken und alten Bäumen, mit quer gezogenen Kabeln und einer Reihe Briefkästen an der Wand zieht es die Neugierigen an. Das Betreten des Geländes ist jedoch verboten. Ein junger Italiener erscheint von irgendwo, ruft halb drohend, halb erschreckt „Cosa vuoi!“, lässt sich von einem Brocken Italienisch überraschen, und erzählt alsdann bereitwillig, was alles da hinter steckt. „No Signora! Non siamo Illegali!“ Aber außerhalb der Strukturen der Stadt, das wohl. Er schlingt die Arme um den Körper um zu zeigen, wie gut Zusammenhalt hier anfühlt: Ein Kiez mitten in dem Kiez und eine eigene Gemeinschaft. Man kenne die Polizei, mit der gäbe es manchmal gute Gespräche. Die ließen einem Raum zum Leben und damit einen Platz für freie Kunst. Aber andere wollten das so nicht verstanden wissen. Das Feindbild des Künstlerkollektivs nistet in der Nähe. Er weist auf die andere Straßenseite: „alles Faschisten!“ Ein solcher Feind hilft sicherlich dem hier gepflegten Wir-Gefühl. Letzte Frage: „War bei Euch Corona?“ Er blinzelt: „Bier?“ „Nein, das Virus.“ Ich fange einen glasigen Blick ein. Kein Anschluss unter dieser Nummer und Tschüss!
Nun folgt eine öde Strecke, gesäumt von Mauern und Werksgeländen, zur Verwendung für allerlei. An der Überseite steht schon wieder eine Wagenburg, nunmehr in zerfallenen Gebäuden. „Wir sind alle Vagabunden, Wanderer, Migranten und Träumer“, verkündet die Burg der Welt. Doch die verbarrikadierten Fenster und Fetzen am Gitter sprechen eine andere Sprache. Wenn das Träume sein sollen, ist man lieber wach.
Nach der Umrundung des Wasserturms öffnet sich ein futuristisches Gelände. Betontrassen auf hohen Stelzen überqueren sich, von links nach rechts, von vorne bis weit nach hinten erheben sich die Pylonen. Dort wo sie sich begegnen, sind sie von einem Glaskasten gekrönt. Das Ostkreuz. Hier wohnt niemand. Hier ist nur Ankommen und Abreisen und Durchreisen angesagt. Hier sind im Laufe der Zeit die Schlesier, die Polen und die Schwaben angekommen und haben sich in den Stadtnischen ein neues Zuhause gemacht. Hier wurden die Zwangsarbeiter und die Kriegsgefangene abgeladen und zur Arbeit in die Fabriken verbracht. Von all diesen früheren Bewohnern der Viertel rundum das Ostkreuz gibt es heute niemand mehr. Wer ihren Platz genommen hat, das sind „die Neuen“, das ist Berlins‘ neuester Zuwachs im „coolen“ Kiez.
Um den dritten Kiez zu erreichen muss man zuerst das 200 Meter breite Gleisgelände überqueren. Eine überdeckte Eisenbrücke gibt uns Gelegenheit dazu. Dann steht man in der Neuen Bahnhof Straße und zwischen Kaffeeterrassen in der Sonne. Es riecht nach Kaffee und Brötchen und die Stimmung ist entspannt. Als die Berliner Göre Inge Müller 1925 im Hinterhaus der Nummer 32 geboren wurde, war diese Straße noch in Rot, Braun und Schwarz geteilt. Dann ging es schnell zur Sache, gab es nachts Schlägereien, gewannen schließlich die Braunen und folgte die Katastrophe, die hier überall ihre Spuren hinterlassen hat. Luba Derczanska, die Wilnaer Jüdin, 1927 hierhergezogen, um eine Ausbildung als Chemielaborantin abzuschließen, berichtet zu Pfingsten von Straßen voller Weltkriegs-Frontkämpfern und laut blechernem Marschmusik.
Von dieser Vergangenheit weiß die Neue Bahnhof Straße heute nichts mehr. Barristos, Burritos und Tapas weisen vielmehr auf die neuesten Trendsetter hin. Coole Spanier und Italiener, Koreaner, Taiwanesen und Afrikaner flanieren mitten auf dem Pflaster, die Männer Arm in Arm, die Frauen lächelnd in Gruppen, auch Kinderwagen sind dabei. Das sind also Berlins neueste Zuwanderer, und wirklich, warum sollten sie die Geschichte dieser Straße kennen? Sie kommen aus allen Richtungen der Erde und haben sich an diesem Ort eine neue Zusammengehörigkeit geschaffen. Guten Mutes sind sie und halten die Regeln ein. Die Kellner tragen ausnahmslos den Mundschutz und ihre Kunden nehmen die ihren erst am Tisch wieder ab.
Am Ende der Neuen Bahnhofstraße, dort wo sie die Boxhagener kreuzt, öffnet sich rechts eine neue Eisenbrücke und damit eine Passage in wieder eine andere Welt. Die Viktoriastadt, von Gleisen ringsum eingekreist, stellt ein eigener historischer Flecken auf der Berliner Landkarte dar. Auf der Seite zum Durchgang prangt der Berliner Bär mit Krone und einem Flügelrad. Ihr wurde also das Zeichen des Reichsadlers verliehen, die Brücke 1877 gebaut. Uns bietet sie heute einen dunklen, rußigen Durchgang. Nur einige Schritte, dann stehen wir im alten Preußen, erblicken Bastionen aus rotem Backstein, leere Straßen voller historischem Bausubstanz. Ab hier fängt eine andere Geschichte an, wo Arbeiter was galten, damals, als Zille seine Milieuzeichnungen machte und der Streit zwischen Roten und Braunen als noch unentschieden galt.
Die Victoriastadt ist der vierte Kiez am Ostkreuz und nochmals anders als all die anderen. Keine jungen Frauen bei der Gymnastik. Keine Künstler hinter der Wagenburg. Keine coolen jungen Leute im Wohlgeruch der Barristas, nichts von alledem, hier wird einfach nur gewohnt. Das ist also das Geheimnis eines jeden Berliner Kiezes: Nur eine Brücke, und man kennt sich nicht mehr aus.
Aber nun ist genug für heute. Wir tun was alle tun und schlagen den Fußpfad zum Bahnhof ein, klettern die achtundvierzig Stufen hoch und beäugen die Gehsteige, die Zugang geben zum Ring. Dort sehen wir das dichte Gedränge an den Zügen, nehmen wahr, wie viele Menschen links und rechts die Treppen zur Stadtbahn und den Vorortzügen hinabsteigen, und wissen schlagartig um das zweite Geheimnis des Kiezes: Die Möglichkeit, Tag und Nacht die ganze Stadt zu bereisen. Das ist das Gegenwicht der Berliner Nischenexistenz.
Literatur:
François Cavanna, Das Lied von der Baba. Berlin: Aufbau-Verlag, 1988.
Ines Geipel, Dann fiel auf einmal der Himmel um. Inge Müller. Die Biographie. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2004.
Gerdien Jonker, „Luba Derczanska and her friends.“ In: Gerdien Jonker, On the Margins. Jews and Muslims in Interwar Berlin (Leiden: EJ Brill, 2020), S. 153 - 179.
ns-zwangsarbeit.de
Um das Kreuz herum zu gehen ist viel Arbeit. Der Anfang wird einer jedoch leicht gemacht. Beim Verlassen der Ringbahn am Treptower Park riecht es nach Wasser. Der viele Regen hat die Ränder mit Klee und Hirtentäschel weiß gefärbt. Vor mir glänzen die Spreebrücken im Morgenlicht. Weit unten liegen die Rundfahrtschiffe am Ufer. Rechts erstreckt sich die Landzunge Stralau, links hinter drei Eisenbrücken der Stralauer Kiez. Geradeaus soll es zum Ostkreuz gehen, aber zu sehen ist es von hier aus noch nicht.
Zuerst geht es nach unten auf die Insel. Bevor die Stadt den Zugriff startete war diese Insel ein Fischersdorf mit Kirche und Beschaulichkeit. Im zweiten Weltkrieg wurde sie vollgebaut mit Lagern, für Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, für Polen, Ukrainer, Niederländer und Franzosen, nach Status, Geschlecht und Nationalität in Gruppen eingeteilt. Die Insel bot für die Errichtung der Gefängnisse genügend Platz. Sie war jedoch nicht der einzige Ort, wo sich solches vollzog, denn „zu jener Zeit war Berlin mit Holzbaracken nur so überzogen. In jeder noch so kleinen Lücke der Riesenstadt hatten sich Fluchten brauner, Teerpappe-gedeckter Fichtenholzquader eingenistet. Groß-Berlin (..) bildet ein einziges Lager, das sich zwischen den festen Bauten, den Denkmälern, den Bürohäusern, den Bahnhöfen, den Fabriken hinkrümelt.“
Sagt Wer? François Cavanna, der es aus eigener Anschauung wusste, sagte dies. Eingepfercht in ein Riesenlager am Baumschulenweg, fuhr er 1944 jeden Tag mit der S-Bahn „zur Arbeit“, Trümmern räumen irgendwo in der Riesenstadt: „Hoch oben im S-Bahn-Wagen überfliegst du ein Lager nach dem andern. Von dort oben sehen sie alle gleich aus.“ Cavanna intoniert die Stationen, die er passierte: Ostkreuz, Warschauer Straße, Jannowitzbrücke, alle gründlich plattgebombt. Und weiter ging es in den Westen, wo die Trümmer sich türmten, zu Bellevue, Tiergarten, Zoologischem Garten und zum Kurfürstendamm. Gratis Zwangsarbeit ist für autoritäre Machthaber eine verführerische Sache. In der DDR erschien an deren Statt eine Strafanstalt für Jugendliche, die ebenfalls zur Zwangsarbeit in der A.E.G., der Glashütte und bei Borsig gezwungen wurden. An einem Eisenbahnkreuz wie diesem gab es immer viel zu tun.
Dann kam die Wende und ließ ein olympisches Dorf sich auf die Insel nieder. Die Spiele wurden zwar Berlin nicht zugeschlagen, aber das Dorf wurde gebaut und erlaubt seither ein Wohnen wie nur selten in Berlin, mit Wasserblick und Uferbäumen und Spielplätzen ringsherum. Auf dem Uferweg machen junge Mütter unter Anleitung Gymnastik, ohne Mundschutz aber mit gebührend Abstand. Die Kinderwagen stehen hinter ihnen aufgereiht. ‚Da sind wir‘, scheinen sie den Vorbeigehenden sagen zu wollen: ‚Irr‘ Dich mal nicht. Das hier ist unser Platz.‘
Zurück zum Fußpfad entlang der Ringbahn und durch den Stralauer Tunnel hindurch. An der anderen Seite wartet der Stralauer Kiez. Eine andere Welt offenbart sich hier dem Auge. Sie besteht aus einem großen Werksgelände, der früheren „Hauptwerkstatt der Niederschl.- Märk. Eisenb.“, samt Mauern und Schuppen und sehr viel Sand. Für die Gleisarbeiter wurde ein schmaler Streifen Häuser entlang dem Osthafen gebaut, ein billiges Arbeiterviertel mit Plattenbauten durchsetzt. Seit der Wende hat die Stadt im Kiez gewütet und hinterließ blendend weiße Bauten, dazu zwei kämpfende Riesenmänner im Fluss. Ihre Wohltaten schmeckten aber nicht allen. „Gentrifizierung“ steht an eine Wand geschrieben. An der Ecke zur Markgrafenstraße verbirgt sich ein Biergarten hinter verwitterten Palisaden, darauf die Homer-Zeile von Orpheus und Eurydike: „Im abgründigen Hades festgesetzt / kann sie kraft seines rührenden Wehklangs befreit werden / wenn er sich nur den Regeln der Unterwelt fügt...“. Hinter diesen Palisaden bietet man ein solches Fügen Widerstand.
Der Straßenverkehr faucht und hupt und spuckt schwarze Schwaden und macht das Gehen zu einer mühsamen Sache, wäre da nicht „Das Friedrichhainer Infrastrukturprojekt in Selbstverwaltung“. Auf einem der Werksgelände gelegen, mit Holzbaracken und alten Bäumen, mit quer gezogenen Kabeln und einer Reihe Briefkästen an der Wand zieht es die Neugierigen an. Das Betreten des Geländes ist jedoch verboten. Ein junger Italiener erscheint von irgendwo, ruft halb drohend, halb erschreckt „Cosa vuoi!“, lässt sich von einem Brocken Italienisch überraschen, und erzählt alsdann bereitwillig, was alles da hinter steckt. „No Signora! Non siamo Illegali!“ Aber außerhalb der Strukturen der Stadt, das wohl. Er schlingt die Arme um den Körper um zu zeigen, wie gut Zusammenhalt hier anfühlt: Ein Kiez mitten in dem Kiez und eine eigene Gemeinschaft. Man kenne die Polizei, mit der gäbe es manchmal gute Gespräche. Die ließen einem Raum zum Leben und damit einen Platz für freie Kunst. Aber andere wollten das so nicht verstanden wissen. Das Feindbild des Künstlerkollektivs nistet in der Nähe. Er weist auf die andere Straßenseite: „alles Faschisten!“ Ein solcher Feind hilft sicherlich dem hier gepflegten Wir-Gefühl. Letzte Frage: „War bei Euch Corona?“ Er blinzelt: „Bier?“ „Nein, das Virus.“ Ich fange einen glasigen Blick ein. Kein Anschluss unter dieser Nummer und Tschüss!
Nun folgt eine öde Strecke, gesäumt von Mauern und Werksgeländen, zur Verwendung für allerlei. An der Überseite steht schon wieder eine Wagenburg, nunmehr in zerfallenen Gebäuden. „Wir sind alle Vagabunden, Wanderer, Migranten und Träumer“, verkündet die Burg der Welt. Doch die verbarrikadierten Fenster und Fetzen am Gitter sprechen eine andere Sprache. Wenn das Träume sein sollen, ist man lieber wach.
Nach der Umrundung des Wasserturms öffnet sich ein futuristisches Gelände. Betontrassen auf hohen Stelzen überqueren sich, von links nach rechts, von vorne bis weit nach hinten erheben sich die Pylonen. Dort wo sie sich begegnen, sind sie von einem Glaskasten gekrönt. Das Ostkreuz. Hier wohnt niemand. Hier ist nur Ankommen und Abreisen und Durchreisen angesagt. Hier sind im Laufe der Zeit die Schlesier, die Polen und die Schwaben angekommen und haben sich in den Stadtnischen ein neues Zuhause gemacht. Hier wurden die Zwangsarbeiter und die Kriegsgefangene abgeladen und zur Arbeit in die Fabriken verbracht. Von all diesen früheren Bewohnern der Viertel rundum das Ostkreuz gibt es heute niemand mehr. Wer ihren Platz genommen hat, das sind „die Neuen“, das ist Berlins‘ neuester Zuwachs im „coolen“ Kiez.
Um den dritten Kiez zu erreichen muss man zuerst das 200 Meter breite Gleisgelände überqueren. Eine überdeckte Eisenbrücke gibt uns Gelegenheit dazu. Dann steht man in der Neuen Bahnhof Straße und zwischen Kaffeeterrassen in der Sonne. Es riecht nach Kaffee und Brötchen und die Stimmung ist entspannt. Als die Berliner Göre Inge Müller 1925 im Hinterhaus der Nummer 32 geboren wurde, war diese Straße noch in Rot, Braun und Schwarz geteilt. Dann ging es schnell zur Sache, gab es nachts Schlägereien, gewannen schließlich die Braunen und folgte die Katastrophe, die hier überall ihre Spuren hinterlassen hat. Luba Derczanska, die Wilnaer Jüdin, 1927 hierhergezogen, um eine Ausbildung als Chemielaborantin abzuschließen, berichtet zu Pfingsten von Straßen voller Weltkriegs-Frontkämpfern und laut blechernem Marschmusik.
Von dieser Vergangenheit weiß die Neue Bahnhof Straße heute nichts mehr. Barristos, Burritos und Tapas weisen vielmehr auf die neuesten Trendsetter hin. Coole Spanier und Italiener, Koreaner, Taiwanesen und Afrikaner flanieren mitten auf dem Pflaster, die Männer Arm in Arm, die Frauen lächelnd in Gruppen, auch Kinderwagen sind dabei. Das sind also Berlins neueste Zuwanderer, und wirklich, warum sollten sie die Geschichte dieser Straße kennen? Sie kommen aus allen Richtungen der Erde und haben sich an diesem Ort eine neue Zusammengehörigkeit geschaffen. Guten Mutes sind sie und halten die Regeln ein. Die Kellner tragen ausnahmslos den Mundschutz und ihre Kunden nehmen die ihren erst am Tisch wieder ab.
Am Ende der Neuen Bahnhofstraße, dort wo sie die Boxhagener kreuzt, öffnet sich rechts eine neue Eisenbrücke und damit eine Passage in wieder eine andere Welt. Die Viktoriastadt, von Gleisen ringsum eingekreist, stellt ein eigener historischer Flecken auf der Berliner Landkarte dar. Auf der Seite zum Durchgang prangt der Berliner Bär mit Krone und einem Flügelrad. Ihr wurde also das Zeichen des Reichsadlers verliehen, die Brücke 1877 gebaut. Uns bietet sie heute einen dunklen, rußigen Durchgang. Nur einige Schritte, dann stehen wir im alten Preußen, erblicken Bastionen aus rotem Backstein, leere Straßen voller historischem Bausubstanz. Ab hier fängt eine andere Geschichte an, wo Arbeiter was galten, damals, als Zille seine Milieuzeichnungen machte und der Streit zwischen Roten und Braunen als noch unentschieden galt.
Die Victoriastadt ist der vierte Kiez am Ostkreuz und nochmals anders als all die anderen. Keine jungen Frauen bei der Gymnastik. Keine Künstler hinter der Wagenburg. Keine coolen jungen Leute im Wohlgeruch der Barristas, nichts von alledem, hier wird einfach nur gewohnt. Das ist also das Geheimnis eines jeden Berliner Kiezes: Nur eine Brücke, und man kennt sich nicht mehr aus.
Aber nun ist genug für heute. Wir tun was alle tun und schlagen den Fußpfad zum Bahnhof ein, klettern die achtundvierzig Stufen hoch und beäugen die Gehsteige, die Zugang geben zum Ring. Dort sehen wir das dichte Gedränge an den Zügen, nehmen wahr, wie viele Menschen links und rechts die Treppen zur Stadtbahn und den Vorortzügen hinabsteigen, und wissen schlagartig um das zweite Geheimnis des Kiezes: Die Möglichkeit, Tag und Nacht die ganze Stadt zu bereisen. Das ist das Gegenwicht der Berliner Nischenexistenz.
Literatur:
François Cavanna, Das Lied von der Baba. Berlin: Aufbau-Verlag, 1988.
Ines Geipel, Dann fiel auf einmal der Himmel um. Inge Müller. Die Biographie. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2004.
Gerdien Jonker, „Luba Derczanska and her friends.“ In: Gerdien Jonker, On the Margins. Jews and Muslims in Interwar Berlin (Leiden: EJ Brill, 2020), S. 153 - 179.
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