DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins in der Corona-Krise

​III. Übergangsorte

Abgeschlossen

Von 18. Mai bis 25. Juni

Mittwoch, der 20. Mai, Die Bendlerstraße

5/20/2020

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Die Bendlerstraße gibt es heute nicht mehr. Es gibt nur den Bendlerblock und die Bendlerbrücke. Der Block befindet sich in der Mitte der Straße. Die Brücke verbindet die beiden Seiten des Landwehrkanals an der Stelle wo man, den Tiergarten im Rücken, die Straße bis zu Ende gelaufen ist. Sommer wie Winter kann das eine schwere Aufgabe sein. Was man da unter die Füße nimmt ist nämlich die Staufenbergstraße, die bis Ende des zweiten Weltkriegs noch Bendlerstraße hieß. Die Staufenbergstraße ist nicht zum Flanieren geeignet, keine wohnliche Straße, ohne Bäume und Schutz, eine Strecke aus der Not geboren, deren hervorstechendsten Merkmal ist, dass sie Zugang zu einem der wichtigsten Erinnerungsorte Deutschlands gibt. 
 
Die Physiognomie der Staufenbergstraße ist die der Abgrenzung. Rechterhand ist sie völlig eingezäunt von Eisenstangen und Gittern. Vom Tiergarten her kommt zuerst das scharfe, hohe Gestänge der österreichischen und der ägyptischen Botschaft. Sodann folgt der Bendlerblock, die zentrale Militäranstalt, die zuerst dem Kaiser, dann in der Weimarer Republik der Obersten Heeresleitung, im Kriege dem Kommando des Ersatzheeres und schließlich auch der Widerstandsgruppe, die am 20. Juli 1944 gegen das nationalsozialistische Regime vorging, Obdach bot. Der Bendlerblock ist ein unfrohes Gebäude, das aus schweren Granitquadern besteht und einen gedrückten Zugang zu dem Innenhof bietet, dort wo sich heute die Gedenkstätte Deutscher Widerstand befindet. Wer sich herein wagt erblickt die Schwelle, den gefesselten Mann und den Ehrenkranz, denkt vielleicht an die letzten Zeilen, die Helmut von Moltke an seine Frau Freya schrieb: ‚Meine Seele ist im tiefsten Grunde sehr wohl geborgen, nur die Oberfläche zittert von Zeit zu Zeit‘, wissend, angesichts der Übermacht, um die Nichtigkeit seines Widerstandsakts.
 
Nach dem Bendlerblock nimmt das Gestänge seinen Rhythmus wieder auf. Die restliche Straße gehört dem Verteidigungsministerium und das Terrain hinter den Stäben ist völlig durchasphaltiert worden, wohl auch wegen dem großen Zapfenstreich, der hier bis vor kurzem jährlich stattfand. Der letzte große Zapfenstreich ist gar noch nicht so lange her. Am 15. August 2019 verabschiedete sich die Bundeswehr von Ursula von der Leyen, die darum bat, die Militärkapelle möge für sie wind of change von den Scorpions spielen. Ein halbes Jahr später folgten die Änderungen, welche unsere Gesellschaft aus der Bahn geworfen haben. Die Ministerin wird sicherlich an andere Änderungen gedacht haben als sie ihre Bitte äußerte, aber was sich seitdem vollzogen hat, ist so gravierend, dass man sich fragen kann, ob hier ein Zapfenstreich je noch stattfinden wird.
 
500 Meter misst die Staufenbergstraße. Rechterhand befinden sich vier Gebäudekomplexe, linkerhand nur drei. Sie ist auf eine Weise angeordnet, die nicht hinsehen lässt und die Spaziergänger eher dazu verführt, sich so schnell wie möglich zu entfernen. Es kostet tatsächlich einige Anstrengung, innezuhalten und sich vor Augen zu führen, wie die Straße vielleicht einmal ausgesehen hat. Stadtpläne, Fotos und Augenzeugen können dabei helfen. In Berliner Kindheit um Neunzehnhundert berichtet Walter Benjamin zum Beispiel, dass es ihm einmal im Leben gelungen sei, sich in Berlin zu verirren. Das war 1926 und verirren tat er sich in der Bendlerstraße, irgendwo zwischen der Bendlerbrücke und den Statuen von Luise und ihrem Friedrich Wilhelm, die am Ende der Straße noch immer im Tiergarten stehen. Nicht dass er nicht wusste, wo er sich befand. Der erwachsene Mann wurde lediglich dort dem Kinde erinnerlich, das er einmal gewesen war und vermochte so, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, für einen Moment der Gegenwart entschlüpfen. 
 
Das Kind Walter war nämlich nicht weit von dort am Magdeburger Platz aufgewachsen, wo der Vater eine Apotheke führte und er seine ersten Eindrücke sammelte. Vom Magdeburger Platz konnte man die Bendlerbrücke schon sehen. Wie Benjamin schreibt, stürmte dieses Kind jeden Tag zum Tiergarten, zuerst über die Brückenwölbung, die ihm bereits wie ein Hügelrücken vorkam und dann durch die dahinterliegende Straße bis zum Park. Sein Ziel waren Luise und Ferdinand auf ihren Sockeln. Dort verträumte er die Zeit und schwärmte von den Geheimnissen, die er noch nicht zu durchdringen vermochte, vor allen Dingen vom Geheimnis, das man Liebe nannte. Walter‘s Weg führte ihn nicht nur in das Traumland eines Adoleszenten, sondern auch immer wieder an die einundvierzig kleinen und großen Villen vorbei, die in tiefen Gärten entlang der Bendlerstraße standen. Das waren Häuser mit freundlichen Butzengläsern und kleinen Vortreppen, die bereits Mitte des neunzehnten Jahrhundert errichtet worden waren, gebaut für das Biedemeiersche Familienleben, später angepasst an die Repräsentationsnotwendigkeiten der Diplomaten, die um die Ecke in der Tiergartenstraße ihren Geschäften nachgingen. 
 
Diese Welt, die Benjamin mit Kinderaugen beschreibt, ging im zweiten Weltkrieg unwiderruflich verloren. Während dem Bombardement von Berlin wurde auch das Diplomatenviertel schwer getroffen. Als die Kapitulation endlich gezeichnet worden war standen von den ursprünglich 529 Gebäuden des Viertels nur noch 49 Ruinen. Die Militäranstalt in der Bendlerstraße, die heute als Stätte des Deutschen Widerstands dient, war eine davon. Die übrigen Gebäude, die einen heute dazu anspornen, so schnell wie möglich daran vorbei zu gehen, wirken wie von einer Riesenhand auf einem Schachbrett herumgeschoben. Ihre Zäune, Stäbe und Gestänge sind nur Riesen-Ornament. 
 
Heute Morgen um 9.30 wirkte die Stauffenbergstraße wie ausgestorben. Ein orangener Müllwagen fuhr die Tonnen ab. Auf dem Parkplatz des Ministeriums stand eine Handvoll Autos. Mitte auf der Bendlerbrücke stehend sah ich dem Schöneberger Ufer und dem Reichspietsch Ufer dabei zu, wie sie verlassen in der Sonne lagen. Ein Bus durchquerte die Sonne- und Schattenpartien Richtung Zentrum. Die Kastanien streuten ihre Blüten auf die Fahrbahn. Auf dem mobility index mag Berlin mit 26 Prozent ihres ursprünglichen Verkehrsaufkommens im Augenblick zu den meistbefahrenen Städten der Welt gehören, auf der Brücke merkte man nichts davon. Es war dieser Blick, der mir zur Hilfe kam, um in den Schemen der Vergangenheit die Konturen der aufziehenden  Gegenwart nachzuzeichnen. Heute ist Tag dreiundsechzig. Die Ansätze lassen sich jetzt erahnen.


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    Die Autorin wohnt in Berlin-Wilmersdorf

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    June 2020
    May 2020

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