DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins in der Corona-Krise

​III. Übergangsorte

Abgeschlossen

Von 18. Mai bis 25. Juni

Mittwoch, der 17. Mai - Die Friedhöfe am Halleschen Tor

6/5/2020

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Südstern an einem lauen Sommertag. Aus der U-Bahn kommend steht man hinter der grauen Kirche, die von breiten Straßen umgeben ist. Geradedurch geht die Gneisenauer Straße Richtung Mehringdamm und Schöneberg. Links davon liegt der Bergmann-Kiez, genannt nach der Hauptstraße, der dem Kiez sein Flair verliehen hat. Die heutige Route geht quer durch den Bergmann-Kiez, von den Friedhöfen an der Bergmannstraße bis zum Halleschen Tor, wo ein zweites Friedhofs-Grundstück verborgen liegt. Hinter der Kirche führt ein Trampelpfad Richtung Bergmannstraße. Das Getreide, das überall in Berlin die Blumenbeeten ersetzt hat, biegt sich geschmeidig im Wind. 
 
Am Anfang der Bergmannstraße erstrecken sich linkerhand die Friedhöfe ca. 500 Meter an der Straße entlang bis zum Marheinekeplatz. Wir befinden uns auf altes Gelände. Seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurden hier die Toten der Jerusalem- und neuen Kirchgemeinde, der Friedrich-Werderschen Kirchgemeinde und der Dreifaltigkeitsgemeinde beigesetzt, bis die Mauer sie von ihren Friedhöfen abschnitt. In der Mauerzeit verwaltete West-Berlin die Grundstücke und erweiterte ihre Benützung für Anwohnende. Es sind noch immer drei Friedhöfe, voneinander zwar durch hohe Mauer getrennt, aber zur Straße hin erlauben sie ungewöhnliche Einblicke. Man schaut durch die verrosteten Gitterstäbe auf Steine und griechische Kapellen, die ihr Antlitz der Straße zugewandt haben. An der Kapelle der Jerusalem- und neuen Kirchgemeinde, die einst in den Dom gegenüber vom Berliner Schloss zur Kirche ging, steht geschrieben, „es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes.“ Paulus‘ Brief an die Hebräer, Vers 4,9. Es ist ein imposantes Gebäude aus rotem Backstein mit einer Treppe und vier rot-marmoren Säulen, welche den Trauernden einen zeremoniellen Eintritt in die Halle erlauben. Eine Allee aus Eichen lädt zum Verweilen ein. Das Goethe-Wort „Über alle Gipfeln ist Ruh‘“ ist hier am Platz.
 
Am Eingang des Friedrich-Werderschen Kirchhofes warten acht schwarz-gekleidete Herren auf Kundschaft. Die lässt auf sich warten. Verstohlen rauchen sie noch eine und ziehen kurz die Jacken aus. Die Türen der Kapelle stehen weit geöffnet, Licht flutet von oben herein. Ein Engel badet am Eingang in einer grünen Oberlichtbrechung. Direkt daneben, im anderen Teil der Kapelle, macht eine Kaffeerösterei regen Geschäfte, nur durch ein Gartentürchen vom Begräbnis-Geschehen getrennt. Hier ist der Kiez zuhause, sitzt in der Sonne bei Kaffee und Zeitung und genießt die Ruhe. Geredet wird nur wenig. Der Duft der Kaffee erfüllt die Sommerluft. Irgendwann hört man das Knirschen vieler Schuhe auf dem Kies: Die erwartete Begräbnisgesellschaft ist offensichtlich endlich eingetroffen.
 
Am Eingang der Dreifaltigkeitsgemeinde, Bergmannstraße 29, warten Mütter mit Kinderwagen und einer ganzen Kinderschar, bis sie vollzählig beisammen sind. Dann strömen alle in die Kastanienallee, die von der Friedhofskapelle ins Friedhofsinnere führt. Auch auf diesem Friedhof ist der Kiez zuhause. Er ist für sie zum Spazieren, Spielen und Schwatzen da. Im Aushang am Tor werden zudem Kurse angeboten: „Die Kunst des Abschieds“ und „Gräber schmücken“ sind Fertigkeiten, die man hier erlernen kann. 
 
In der Grünanlage am Marheinekeplatz sitzt die Kiez-Szene zusammen und trinkt ein morgendliches Bier. Ich bleibe stehen und schaue hin. Ein blasser Mann im Unterhemd kommt mit schwingenden Armen auf mich zu. „Mal ‚ne Frage! Was machen Sie da gerade? Haben Sie uns eben durchgezählt?“ Ihn begleitet ein älterer Herr mit einer Kola-Flasche in der Hand. Er nickt bestätigend. „Ich frage“, nimmt der erste den Faden wieder auf, „weil, manche hier meinen, ‚das Gesindel muss weg‘. Das ist eine Unverschämtheit! Wir sitzen hier einfach ganz friedlich in der Sonne und unterhalten uns, statt in der Bude zu hocken.“ Nach dieser Ansprache kommt der Redestrom ins Stottern. „Das hier ist mein Kumpel“, sagt er noch und weist mit der Hand auf den älteren Herr. Ich zeige ihnen meine schnelle Skizze vom Platz und erkläre, was ich mache. Aha. Nein, auf den Friedhof gehen sie eher nicht. „Wir doch nicht!“ Wir grüßen uns recht freundlich zum Abschied.
 
In der angrenzenden Markthalle ist noch wenig Betrieb. Aber die Zeichen stehen auf einen für später erwarteten Groß-Verkauf. Es stapeln sich die Käse und Würste in den Auslagen und die Obstbecher stehen hoch aufgetürmt vor den Ständen. Im Vorbeigehen notiere ich: Die Preise sind tatsächlich nicht Jedermann‘s Sache. Der Tee, der Kaffee, das Eis und die Süßigkeiten, alles für ein gut gefülltes Portemonnaie gedacht.
 
Am Ausgang der Halle, dort wo die Bettlerinnen sind, geht es rechtsherum in die Zossener Straße. Es schlägt gerade Mittag und wer mitten auf dem Fahrdamm geht, sieht am Ende der Straße das rote Ungetüm der Heilig-Kreuz Kirche wie eine Fata Morgana über die Häuser aufgetürmt. Entlang der Straße ist ein gediegener türkisch-sprachiger Mittelstand zuhause. Auch Inder, Nepalesen, Spanier und ein Thai, das „Backhaus Liberda“, die Kosmetik „bei Ismael“, ein Samen- und Nussgeschäft, ein Mini-Market sowie Flügel und Klaviere zum An- und Verkauf tragen ihr Steinchen zur Infrastruktur bei. Diese Straße muss gänzlich ohne Bäume auskommen, dafür ist sie mit vielen Baustellen ausgestattet. Wenn der Autoverkehr wieder voll dahin brummen wird könnte es hier stressig sein. Der ganzen rechten Häuserzeile fehlt es zudem an Balkonen. Torbögen geben in regelmäßigen Abständen den Blick auf hinter einander gelegene Hinterhöfe frei. Dort wo früher die Handwerken zuhause waren wohnen jetzt die arrivierten Zuwanderer.  Vielleicht sind hier die Mieten noch erträglich? Obwohl. Der Bergmannkiez. Mir kommt ein leiser Zweifel, ob.
 
Am Ende der Zossener Straße geht links die Baruther Straße ab, deren hervorstechendstes Merkmal die Graffiti-bewährte Außenmauer der „Friedhöfe am Halleschen Tor“ ist. Dieser Friedhofskomplex hängt eng mit jenem an der Bergmannstraße zusammen. Um 1800 wurden hier schon rege Gräber ausgehoben. Als sich das Gelände dann langsam füllte, kauften die Kirchgemeinden die Felder an der Bergmannstraße dazu. Die Graffitiwand erstreckt sich indes von der Zossener Straße bis zum Mehringdamm. Große blaue und silberner Muster bieten sich dem Betrachter, auch schwarze Glyphen und Kringel darunter, aber Bildliches ist nicht dabei. Man sieht bloß, dass die Sprühfarbe nicht gut an den Kalk- und Sandstein-Quadern haftet, aus denen diese Mauer einst geformt worden ist. Das war bereits Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Vielleicht ist sie sogar eine der ältesten Gemäuer Berlins. 
 
Über die Graffiti-Mauer ragen manchmal recht große Denkmäler empor, Tempel mit einem Kreuz auf dem Dach, auch griechische Zinnen aus rotem Ton, im Krieg kaputt geschossen und im Laufe der Zeit mit Goldrute überwuchert. Ich passiere einen  verschlossenen Hintereingang. Das offizielle Eingangstor befindet sich ganz auf der anderen Seite, am Mehringdamm neben der Friedhofskapelle, in der der Sarg Rahel Levins‘ von 1833 bis 1864 über die Erde stand. Die damalige Friedhofsverwaltung empfahl sich nämlich mit einer neuen Maschine, die Scheintote aufzuwecken wusste. Und da dies Rahel‘s letzter Wunsch gewesen war, wurde ihr Leichnam der Machination ausgesetzt. Warum sie hernach für so lange Zeit nicht unter die Erde gebracht wurde bleibt ein Mysterium, das wahrscheinlich nur ihre Nächsten lösen können.
 
Wer die „Friedhöfe am Halleschen Tor“ betritt, steht sogleich auf dem Jerusalem- und neuen Kirchfriedhof. Das war also der Todesacker der Domgemeinde gegenüber vom Berliner Schloss. 1734 kaufte die Gemeinde hier ihr erstes Grundstück außerhalb der Stadtmauer, den Jerusalem- und neuen Kirchfriedhof I, der hinten auf dem Grundstück an der Baruther Straße ausgestreckt liegt. Was den Besucher dort erwartet ist Berliner Geschichte aus der Zeit, als es noch ein König und ein Schloss dazu gab. Entlang der Alleen und in den Ilex-Wucherungen ragen überall Griechische Tempel, barocke Engel und Säulengänge empor. Man liest die Namen und realisiert sich allmählich, dass der Hofstaat, die Kammergerichtsräte und die Professoren der Akademie alle zu dieser Gemeinde gehörten und hier versammelt sind. Auf diesem Friedhof liegen Generationen Damen und Herren vom Hofe sowie die Spitze des preußischen Beamtentums standesgemäß begraben. Die Friedhofsverwaltung sorgte über Jahrhunderte dafür, dass dieses Ensemble auch so erhalten blieb. 
 
In der Mitte, an drei Seiten von den Domleuten umgeben, aber dennoch durch hohe Mauern von ihnen getrennt, befindet sich seit 1734 der Dreifaltigkeitsfriedhof. Er umfasst die schlichten Kreuze und Steine, unter denen die letzten Aufklärer gebettet worden sind. Einst gehörte dieser Friedhof zur Dreifaltigkeitsgemeinde. Die Kirche existiert heute jedoch nur noch auf dem Papier. Sie stand lange in der Friedrichstadt an der Mauer- Ecke Kronenstraße. Ihre Prediger, darunter Friedrich Schleiermacher, wohnten eine Häuserzeile weiter in den noch erhaltenen Häusern aus der Hugenottenzeit. Schleiermacher war ein Aufklärer und in den Salons zuhause und seine Gemeinde war es ebenso. Um 1800 kaufte die Dreifaltigkeitsgemeinde diese Begräbnisstätte am damaligen Stadtrand, am Ende der Friedrichstadt gegenüber von der Belle Alliance. Es war ein von Mauern umschlossener Hof, der nicht mehr als 80 x 80 Meter misst und heute mit Abstand der kleinste Friedhof in Berlin. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erwarb die Gemeinde dann noch einen zweiten Friedhof an der Bergmannstraße und brachte fortan ihre Tote dorthin. Und so kommt es, dass auf dem kleinsten Friedhof Berlins überwiegend Tote liegen, die vor 1850 begraben worden sind.
 
„Religion ist ein Gefühl“ sagte Schleiermacher von der Kanzel und er zog mit seinen Aussprachen ein außergewöhnliches Publikum an. Das von ihm benannte Gefühl schaffte gleitende Übergänge zwischen den Konfessionen, zwischen Protestanten und Katholiken und zwischen Juden- und Christentum. In diesem Hof liegt seitdem beisammen wer sich davon inspirieren ließ: Moritz, Ludwig und Clara Louise Heine, Rahel und Karl August Varnhagen, der geniale Felix Mendelsohn, die Komponistin Fanny Hensel und Wilhelm Hensel, der Bildhauer. Schleiermacher’s Gemeinde war eine Gemeinschaft von Aufklärern, von Männern und Frauen, von Schriftstellern, Bildhauern und Komponisten, von getauften Juden und jüdisch-christlichen Ehen. Auf dem kleinsten Friedhof Berlins haben sie bis heute ihre Annäherung bewahrt. 
 
Die Berliner Friedhofstopographie trennte für gewöhnlich entlang den Linien der Konfessionen. Nur hier brechen die Trennlinien ein wenig auf. Auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde, immer strikt von der Domgemeinde getrennt, liegen getaufte Juden und Christen zusammen. Nicht allen Berlinern gefiel das damals, und ihre Ablehnung wirkt bis heute noch fort. Einen Notiz am Familiengrab der Mendelsohns, zugleich eine Ausstellungs- und Gedenkstätte, ist zu entnehmen, dass die Stätte vor einem halben Jahr mit Hakenkreuzen beschmiert worden ist. 
 
Auf Berliner Friedhöfen bleiben Gruppen, die sich im Leben gebildet haben, auch im Tod zusammen. 224 Friedhöfe auf tausend Hektare Grünfläche sorgen dafür, dass das auch so bleibt. Am Mehringdamm und an der Bergmannstraße fanden die Dom-, die Friedrich Werdersche- und die Dreifaltigkeitsgemeinde ihren Platz unter der Erde. Die Hugenotten in der Friedrichstadt kauften ihr Grundstück auf dem Dorotheenfriedhof. Die ersten fünfzig jüdischen Familien, die von Wien nach Berlin übersiedelten, verfügten über einen Friedhof an der Großen Hamburger Straße. Die Osmanen und Türken betten seit 1790 in der Hasenheide auf einem Gelände, das Friedrich III ihnen eigens dafür überließ. Die Russen zog es hundert Jahre später nach Tegel in die Wittestraße. 
 
Um 1900 wurde die Vorherrschaft der konfessionellen Gemeinschaften von den städtischen Friedhöfen gebrochen. Es bildeten sich die Kiezgemeinschaften in Gartenanlagen, die uns heute erzählen, wer einst dort lebte und den Ton angab. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts folgten die Urnenfelder und anonyme Gemeinschaftsgräber. Die Gewohnheit, die Namen der Verstorbenen dazu zu schreiben verlor an Popularität. Aber auch diese Toten sind im Tode längst eine neue Gemeinschaft eingegangen: Ihre Knochen und Asche haben sich bis zur Unkenntlichkeit vermischt.
 
Es gibt auf den Friedhöfen am Halleschen Tor nur wenige Besucher, obwohl es doch an dieser Stelle keine bessere Grünanlage gibt. Eine Gärtner wässert die Blumen am Eingang. Zwei Polizisten laufen Streife durch die Allee. Eine Dame steckt grüßend ihren Schaufel hoch. Die Toten verhalten sich mucksmäusestill. Ruhe ringsum. Wer will noch an sie denken? Berliner Friedhöfe waren doch immer auch Orte der Erinnerung. Fragt sich nur, wer welche Erinnerung sucht. Lev Nussimbaum erzählt uns von den russischen Migranten, den Hofdamen, Adeligen und Gardeoffizieren, die in den 1920er Jahren  in Tegel zwischen den Gräbern spazieren gingen, sich gegenseitig die Inschriften von alten Bekannten vorlasen und wehmütig dem Glanz des Zarenhofes nachtrauerten. In der Hasenheide wurden die Gräber der vor hundert Jahren in Berlin ermordeten „Jungtürken“ neulich zu Märtyrer-Gräber ausgebaut und ihren Namen mit goldener Tinte ausgeschmückt. Mehmet Talat, 1922 erschossen an der Hardenbergstraße, Djamal Azmi und Bahaettin Shakir, kurze Zeit später mitten auf der Uhlandstraße dahingemordet, - sie sind an diesem Ort bekannte Persönlichkeiten, denen regelmäßig Respekt gezollt wird. So rege geht es auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof nicht zu. Aber auch die Neo-Nazis, die neulich das Erbbegräbnis der Mendelsohns schändeten, hatten zumindest den Namen „Mendelsohn“ schon mal gehört.
 
Literatur
 
Gerhard Höpp, „Bestattung von Muslimen in Berlin“. In: Gerhard Höpp und Gerdien Jonker (Hg.), In Fremder Erde (Berlin: Das arabische Buch, 1996), 18-43.
 
Lev Nussimbaum (Essad Bey), Das weiße Russland (Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1930), 79-80.
 
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