DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
  • Vita
  • Books
  • Digital library
  • Mosque Archives
    • The AAL Mosque Archive
    • Mosque Archives in Germany (2022)
  • Jews / Muslims
    • On the Margins (2020)
    • "Etwas hoffen muß das Herz" (2018)
    • The Ahmadiyya Quest for Religious Progress (2016)
    • Im Spiegelkabinett (2013)
  • Contact
  • Blog
    • Von 18. März bis 23. April
    • Von 25. April bis 16. Mai
    • Von 18. Mai bis 25. Juni
  • Articles

100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins in der Corona-Krise

​III. Übergangsorte

Abgeschlossen

Von 18. Mai bis 25. Juni

Mittwoch, der 10. Juni – Der Karl-Marx-Platz

6/11/2020

0 Comments

 
Wer, vom Ostkreuz herkommend, die Ringbahn an der Sonnenallee verlässt und rechts in Fahrtrichtung in das Viertel eintaucht, steht nach einem zehn-minütigen Spaziergang im Herzen Rixdorfs, auf dem Richardplatz. In den Wirren der Gegenreformation, die Anfang des achtzehnten Jahrhunderts Österreich in eine katholische Bastion verwandelten, fanden böhmische Protestanten an diesem Ort vor den Toren Berlins‘, im damaligen Richarddorf, ein neues Zuhause. Sie tauften es prompt in Český Rixdorf um, tschechisch Rixdorf, und machten sich daran, heimisch zu werden. Brandenburgische Ackerbauer und tschechisch-sprachige Handwerker wohnten fortan am selben Anger und wer den heutigen Richardplatz betrachtet, versteht, dass ihnen die Eingewöhnung gelang. Die Neuankömmlinge waren strenge Observanten in der Schule von Jan Hus, die sesshaften Ackerbauer schlichte Lutheraner, aber sie wussten sich zu arrangieren. Eine Menge Kirchen und Betsäle rundum den Platz zeugen davon, dass damals jede und jeder nach seinem eigenen Facon in den Himmel kommen konnte. „Christus ist mein Leben. Der Tod mein Gewinn“, steht noch immer über dem Hintertor des böhmischen Friedhofes geschrieben. Wer sich auf einer solchen Formel einließ, hatte gute Aussichten.
 
Der Richardplatz hat außerdem Beharrungsvermögen. Das Kopfsteinpflaster auf dem ehemaligen Anger, die Bauernhäuser ringsum, eine Schmiede in der Mitte, eine kleine Dorfkirche noch aus der Ackerbauerzeit: man läuft unter der schwer mit Blüten beladenen Linden und versteht, dass hier ein Dorf sich festgekrallt und die Gewalt der herankriechenden Stadt erfolgreich die Stirn geboten hat. Richarddorf integrierte die tschechischen Neuankömmlinge. Der tschechisch-deutsche Richardplatz hat wiederum die türkischen Neuzuwanderer einen – wenn auch bescheidenen – Platz eingeräumt. Ein Café am Anger offeriert türkischen Kuchen und Pasteten. Der Inhaber lässt das türkische Radio dröhnen und schwarzgewandete Frauen mit heruntergelassenen Mundschutz, ebenfalls in schwarzer Farbe, plaudern vergnügt überm Tisch. So gesehen heute morgen um viertel nach neun.
 
Am Ende des Richardplatzes zweigt der Karl-Marx-Platz in Gestalt einer schmalen Wohnstraße ab. Etwa 50 Meter geht das so, dann weitet die Straße sich in ein spitzes Dreieck, dessen kurze Seite an die Karl-Marx-Straße stößt. Bis 1947 hieß es hier noch Hohenzollernplatz. Dann wurde der Platz zusammen mit der angrenzenden Straße Karl Marx zum Gedenken gewidmet. Was war passiert? Im Ostteil der Stadt hatten sich im Vorjahr die FDJ, KPD und SED gegründet. Auch wurde drüben gerade die Karl-Marx-Allee mit sowjetischem Kapital aus dem Boden gestampft. Der Umgangston zwischen den Berliner Halbstädten war zunehmend rauer geworden. Vielleicht wollten die Westberliner daran erinnern, dass Karl Marx schließlich ein gesamtdeutscher Philosoph sei und als solcher nicht Eigentum der östlichen Stadt? Wo früher das Reiterdenkmal des letzten Hohenzollerns stand steht heute ein Zentaur in Bronze. Für eine Karl-Marx-Büste hat es dann doch nicht mehr gereicht.
 
Am Karl-Marx-Platz finden sich Altes und Neues enger umschlungen als an dem musealen Richardplatz. An diesem Ort schieben sich die historischen Schichten des Viertels wie Eisschollen übereinander: Shisha neben City Casino, Ali, der türkische Frisör neben dem Eingangstor des Böhmischen Gottesackers. Ihnen gegenüber befinden sich ein Trödler, ein Späti, ein Webspace, ein Wasserpfeifengeschäft. Reisebüro Çoban bietet Reisen an die türkischen Riviera an. Heute ist Markttag, in der Mitte türmen sich türkische Gemüse. Der kleine Kiosk bietet Döner an. 
 
Hinter allen Fenstern folgen wachsame Augen meinem Rundgang, sehen zu wie ich  Notizen mache, stellen stillschweigend Vermutungen an. Was ich hier suche, fragt schließlich ein alter Mann mit Wollmütze. Beim Wort Geschichte hellen seine Züge auf. Altes Pflaster! sagt er und weist dabei nach unten. Der arabische Trödler und der türkische Imbissmann hören jedes Wort mit. Was befand sich hier, bevor Sie einzogen? frage ich Ammo der Imbissmann. „Ein türkischer Imbiss“, versichert er mir, „der war vor zwanzig Jahren gewesen“. Das türkische Plusquamperfekt hüpft ihm aus dem Mund heraus und passt sich dem Berliner Dialekt nahtlos an. Der Trödler gibt dazu, „Geschichte? Fragen Sie dem Metzger drüben, der ist schon dreißig Jahre hier, der Älteste am Platz.“
 
Was ich aber suche ist eine Kneipe, die schon seit fünfundfünfzig Jahre verschwunden ist. Uwe Johnson widmete ihr 1965 die Erzählung „Eine Kneipe geht verloren“, und verloren ist sie wohl bis zum heutigen Tag. Es war eine Nachbarschaftskneipe, wie es damals viele davon gab. Schmal, unauffällig zwischen den Schaufenstern größerer Geschäften gelegen, auf der Südseite Berlins, dort wo man nachts die Ringbahn hörte und das Gebrumm der Flugzeuge am Tag, zwischen lauter großen Bürgerhäusern, an einem kleinen Platz mit Wochenmarkt und einem U-Bahnausgang vor der Tür. Johnson macht wie immer präzise Ortsangaben und genau genommen gibt es nur drei solche Orte entlang dem südlichen Ring. An den beiden anderen fehlt der Platz, an diesem liegt der U-Bahnausgang zu weit weg. Vielleicht wollte der Autor uns ein wenig austricksen? Ich schaue mir trotzdem die Geschäfte genauer an. „Zum Heinzelmann“ ist zu behäbig, um Modell zu stehen. Die Kneipen „No Limit“ und „Sportscafé“ sind ebenfalls zu breit. „Schmal wie ein Handtuch“, hatte Johnson seine Kneipe beschrieben, nicht größer als ein Wohnzimmer, zwar mit genügend Raum nach Oben, aber auf dem verschlissenen Linoleum neben dem Tresen nur für acht kleinen Tische Platz. Mein Blick bleibt auf Ammo’s Imbiss ruhen. Wenn irgendwo, so müsste der das Gesuchte sein.
 
1961 wohnten noch keine Türken im Viertel und die Böhmen hatten die tschechische Sprache bereits abgelegt. Geblieben waren Leute, die den Krieg überstanden hatten, Facharbeiter und solche ohne Arbeit, dazu Studenten mit kleinem Portemonnaie. Am 13. August, einem Sonntagmorgen, während die ersten Biertrinker eintrödelten, überbrachte das Kneipenradio die neuesten Nachrichten aus dem anderen Teil der Stadt. Als dann „Augenzeugen noch ein ungefähres Bild der kriegsgefährlichen Linie zusammenstückelten, die im vier, fünf, acht Kilometern Entfernung um die Weststadt gezogen und befestigt wurde“, da entstand in dieser Kneipe spontan eine Verschwörung. Mittags hatte man bereits die nötigen Papiere zusammen. Abends wurde schon die erste Bekannte „rübergeholt“. 
 
So umschreibt Johnson das spontane Hilfsangebot und auch, dass es schon bald teuer und immerzu gefährlicher wurde. Auf der Haben-Seite standen Passfotos die den Trägern ähnlich sahen, Reispässe mit den richtigen Stempeln versehen, dazu kostspielige Auslandreisen und jede Menge Nerven aus Stahl. Auf der Soll-Seite gab es die Grenze „mit Stacheldraht und Maschendraht und Stolperdraht und Hohlblocksteinen und armiertem Beton und ganzen Häusern, mit Stadtbahndämmen und Ufermauern und Rinnsteinkanten und gedachten Linien zwischen Bojen auf dem Wasser“. Vier Jahre hielten die Verschwörer durch, dann gaben sie auf. Die Kneipe sollte verkauft werden. Es folgte ein letzter Abend mit Lokalrunden aus Bier und Sekt, doch „da kamen einige nicht.“ Nicht die Kuriere, die inzwischen in ostdeutschen Gefängnissen auf Lebenszeit einsaßen, nicht die Passagiere, die nachher das Weite gesucht hatten. Vorbei war auch „das Tatmotiv, die Hilfe für den Nächsten“. Alles aus und vorbei. Das Lokal stand nur einige Wochen leer. Dann erschienen im Schaufenster rotierende Grills mit Hühnerleibern. Aus der Kneipe wurde ein Imbiss und somit die geeignete Vorlage für den unbekannten Türken, den Immo der Imbissmann vor zwanzig Jahren abgelöst hat. 
 
An der Basis des spitzen Dreiecks wird der Karl-Marx-Platz von der Karl-Marx-Straße eingegrenzt. Links steht feste die Elisabeth-Kirche, dahinter thronen die steinernen Engeln des Elisabeth-Friedhofes auf ihren Säulen, in der Ferne blinkt die Ringbahn-Überführung in der Sonne. An der gegenüberliegenden Seite der Straße winken ein Goldankauf, eine Apotheke und ein Bekleidungsgeschäft mit arabischer Schrift. Musik-Bading daneben hat schon lange zugemacht, seine Buchstaben sind abmontiert, nur ihr Abdruck ist ihnen geblieben. Wir sind im Herzen Neuköllns angekommen, wo die Mädchen mit flauschigen Kopftüchern flanieren gehen, abends die Jungs ihre Motoren aufheulen lassen, wo arabische Clans die Läden kontrollieren und es regelmäßig Razzien gibt. Wenn die Karl-Marx-Straße die Gegenwart abbildet und der Richardplatz die Vergangenheit, so wirkt der Karl-Marx-Platz wie eine Schleuse zwischen beiden, der Ort, an dem die Wässer angeglichen und es noch Schleusentore gibt. 
 
In der S-Bahn Richtung Schöneberg singt ein Bänkelsänger uns mit klarer Stimme ein Lied vom lieben Geld: „Ich schick‘ dir tausend Euro und denk‘ mir nichts dabei / Ich schick‘ dir tausend Euro und denk‘ mir nichts dabei / Du kannst noch nachzählen, ob es stimmt.“ Als er fertig ist fragt er, „hat es euch gefallen?“ Kopfnicken. Börsen werden geöffnet, Geld hervorgekramt. Zufrieden verlässt er den Zug. So rund kann es gehen. In Berlin. 
 
Literatur:

Uwe Johnson, „Eine Kneipe geht verloren.“ In: Berliner Sachen. Aufsätze (Frankfurt/M: Suhrkamp, 1975), S. 64-95.
0 Comments



Leave a Reply.

    Author

    Die Autorin wohnt in Berlin-Wilmersdorf

    Archives

    June 2020
    May 2020

    Categories

    All

    RSS Feed

Powered by Create your own unique website with customizable templates.