DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins in der Corona-Krise

​III. Übergangsorte

Abgeschlossen

Von 18. Mai bis 25. Juni

Freitag, der 5. Juni – Berliner Baustellen

6/11/2020

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Heute Nachmittag um halb drei war die Geburt einer neuen Baustelle zu besichtigen. Mitten auf der Uhlandstraße standen zwei Hebekranwagen aufgebockt. Ein Riesenarm schwenkte Betonblöcke durch die Lüfte. Hoch über den Häuser hielt ein anderer Teile eines Baukrans fest. Die Stelle war ringsum mit rot-weißen Absperrungen und Blinklichtern gesichert, aber weiter oben an der Uhlandstraße fehlte noch das runde Stoppschild mit dem roten Rand, das „Einfahrt verboten!“ signalisiert. Und weil das so war, fuhren die Autos in einem endlosen Reigen in die Falle hinein und setzten eins nach dem andern an der Absperrung zurück. Ein Mann mit Bau-Helm und orangener Jacke schwenkte eine Fahne im Regen, damit die Lücke auf der Mitte der Fahrbahn nicht durchlässig, dennoch für den Busverkehr geöffnet blieb. Bus 249 Richtung Roseneck näherte sich gerade von hinten und quetschte sich durch die Lücke hindurch. Anschließend machte der Fahrer einen Slalom um die Doppel-Parker und wich kunstvoll die zurücksetzenden Autos aus. Dann legte er mitten im Chaos die Schaltung wieder hoch. Berliner Busfahrer sind wohl Schlimmeres gewohnt. 
 
Auf meine Frage „Warum jetzt?“ meinte der Kranfahrer, „weil heute morgen die Bewilligung gekommen ist“. Darauf hatten sie lange gewartet, die Leute von dem Hotel, das ein neues Dach bekommen soll, die Leute vom Hoch- und Tiefbau, die dazu die Vorbereitungen treffen sollen, die Zimmerleute, Maurer, Verputzer, Elektriker und Dachdecker, die die Arbeit anschließend im Angriff nehmen werden. Wegen der Corona-Krise saßen sie zweiundeinhalb Monate zuhause fest und nun wollten sie endlich loslegen. „Verstehen Sie?“ Ich verstehe. Solche Probleme habe ich nicht. Ein heftiger Platzregen macht weitere Unterhaltung zunichte. Die Tür zum Fahrhaus schlägt zu. Der Mann mit der Flagge sucht sich ein Stück Pappe, um den Kopf zu schützen. Auf dem Gehsteig spannen die Zuschauer sich die Schirme auf.
 
Was ist eine Berliner Baustelle? Es lässt sich zunächst einmal feststellen, dass es davon viele gibt. Vladimir Nabokov beschrieb 1920 die riesigen schwarzen Rohre die, an der Kante des Bürgersteigs abgelegt, auf Versenkung warteten. Von einem Loch, in dem sie gelegt werden konnten, schrieb er aber nicht. Beim Wiederlesen der Stelle wird mir klar, dass ein passendes Loch noch gehoben werden musste. Aber 2020 sind die Straßen Berlins mit Löchern nur so übersät. Wie viele Baustellen es gibt kann niemand mehr beziffern. Das Stromnetz teilte mit, im Jahr für 600 größere und 5.000 Kleinstbaustellen verantwortlich zu sein. Das Fernwärmenetz, die Berliner Verkehrsbetriebe, die Wasserbetriebe und die Telekom zählen jeder für sich noch eine Menge dazu. Hinzu kommen die privaten Baustellen, die, um doppeltes Aufreißen zu vermeiden, in einen Baustellenatlas eingetragen werden sollten. Die Stadtverwaltung, die dafür verantwortlich ist, hat jedoch verlautbaren lassen, sie komme wegen dem Andrang nicht mehr mit. 
 
Ein kurzer Gang durch das Viertel nützt eine Baustellen-Bestandaufnahme im näheren Kreis. Ich laufe von der Uhland- in die Ludwigkirchstraße hinein und sehe nach 200 Metern schon den nächsten Ort. Entlang der Pfalzburgerstraße und quer über den Ludwigkirch Platz stehen rot-weiße Absperrungen auf dem Gehsteig, orangene Blinklichter reichlich darauf. Im abgesperrten Raum direkt an der Ecke gibt es im Innern ein kleines mit Brettern gestütztes Loch. Weiter hinten jedoch scheint das Pflaster noch ganz unversehrt. Ich folge der Absperrung ca. 300 Meter Richtung Düsseldorferstraße, bis ich im letzten Viertel auf eine Gruppe Straßenpflasterer mit einer kleinen Stampfmaschine stoße. Der Abschnitt zur Düsseldorferstraße wird zum Wochenende wieder zugemacht, der Berliner Sand feste zusammengestampft und die Gehsteigplatten darauf zurückgelegt. Ein Stapel Absperrgitter wartet an der Kante noch auf Abholung. „Wofür ist das?“ frage ich in die Runde. Der Vormann klärt mich auf: „Junge Frau! Das ist ganz einfach! Die Straßenlaternen müssen von Gas auf Elektrizität umgestellt!“ Sein Arbeitertrupp ist für das Auf- und Zumachen der Erde verantwortlich. Wie lange es zwischen beiden dauert, das hängt von der GASAG ab, wie viel Zeit sie braucht, um den Strang abzuschließen, von der Berliner Elektrizität, die die neuen Stromkabel dadurch ziehen muss. So arbeiten sie sich schon seit fünf Jahre quer durch die Stadt. 6.500 Kilometer werden es am Ende sein und somit stehe ich hier vor der längsten Baustelle Berlins. Ich bedanke mich für die Information und begebe mich auf die Suche nach dem nächsten Ort.
 
Die nächste Brache gähnt, gar nicht so weit von der letzten entfernt, an der Ecke Düsseldorferstraße und Hohenzollerndamm. Für diese Baustelle wurde der Fahrdamm aufgerissen und der Sand bis zu zwei Metern tief entfernt. Eine orangene Grabmaschine steht neben dem Loch, das ringsum mit Brettern abgestützt worden ist. Eine Leiter ragt daraus empor. Die Stelle wurde mit hohen Gitterzäunen gesichert. Die rot-weiße Absperrstreifen stehen davor. Auf dem Mittelstreifen des Hohenzollerndamms warten bereits nagelneue Rohre auf ihre Verwendung. PA 22 630 X 37,4 - 22.01.20 steht mit Kreide auf einer der Rohre geschrieben. 630 Zentimeter Durchschnitt bieten eine Menge Platz. Wenn vor den Löchern keine Kappen aufgeschraubt wären, könnte ein Mensch für die Nacht sein Lager darin machen. Das Datum ist noch aus Vor-Corona Zeiten und seitdem ist hier nicht allzu viel mehr passiert. Auf Nachfrage gibt die Besitzerin des angrenzenden Kaffees zu Protokoll, dass ab und zu noch ein Arbeiter gesichtet wurde, der nach den Maschinen sah. Wie lange es noch dauern wird, hatte sie ihn mal gefragt. Der habe aber die Schultern gezuckt und sie auf die Stadt verwiesen: „Fragen Sie die Bürokratie!“
 
Himmelsblaue Rohre von 30 Zentimeter Durchschnitt laufen hinter den Kaffeetischen an der Bordsteinkante entlang, erheben sich an der Kreuzung zur Fasanenstraße in die Luft, bilden eine kantige Pforte für den Verkehr und legen sich anschließend wieder ins Gras. Ich folge ihnen dem Hohenzollerndamm entlang bis zur Bundesallee, eine Strecke von knapp 400 Meter. Dort erheben sie sich nach links über den Fahrdamm, um sich anschließend im nächsten Bau Loch zu versenken. Damit ist die nächste Baustelle erreicht. Die vierzig Baucontainer auf dem Mittelstreifen deuten schon an, dass es sich diesmal um ein größeres Bauunternehmen handelt. Tatsächlich gähnt hinter dem Bauzaun, der an der Ecke Hohenzollerndamm und Bundesallee beginnt, wieder eine Brache. Diesmal ist es ein ganz tiefes Loch. Es ist von hohen Gitterzäunen umgeben, über die hier und dort grüne Netze gehängt worden sind. Zwei ganze Häuserblocks sind im Loch verschwunden. Ich erblicke verlassene Grabmaschinen in vier Metern Tiefe. Auf der Kante wo es heruntergeht stehen noch Abfallcontainer und eine Reihe Dixi-Klos. Die beiseite geworfenen Sandhaufen sind rundherum mit Abfallsäcken und Müll bedeckt. Seit Anfang des Jahres ist das hier der Status quo. 
 
Ich blicke noch einmal über die breite Kreuzung, wo auf der anderen Seite gleich zwei neue Baustellen beginnen, die eine links, direkt vor der Investitionsbank, die andere rechts, an der Ecke, an der ein neues Gebäude sich in die Luft erhebt. Dann entscheide ich mich doch dafür, die hiesige Brache näher zu betrachten und stapfe links in die Bundesallee. Die Brandmauern der Häuser der Pariserstraße sind von hier aus gut zu sehen. Doch das grüne Tuch versperrt vieles anderes den Blick. Was die da unten wohl machen? Ein Spanntuch am Zaun verschafft den Überblick: „Abbruch. Entkernung. Erdarbeiten. Schadstoffrückbau. Altlastensanierung und Vieles mehr...“. 
 
Immer stand an dieser Ecke ein Monstrum von einem Bürogebäude – braunes Rauchglas und Metall - mit dem in den 1980er Jahren vorzugsweise ausgebombte Lücken gefüllt wurden. Nun ist es endlich abgerissen worden, Asbest und Erde sind bereits entsorgt. Das Gelände ist bereitet für das, was kommt, das zukünftige Berlin. Die Tiefe des Lochs lässt indes vermuten, dass es in Zukunft hoch hinaus gehen wird. Was die Stadt sich wohl diesmal hat einfallen lassen? „Wohnen an der Bundesallee“ etwa? Oder „Der Spichernpalast“, ganz nach dem Geschmack der Zeit? Ein einsamer Bagger arbeitet sich noch weit hinten in Richtung Meier-Otto-Straße vor. Sonst ist dort niemand zu finden, in der ganzen Brache nicht, der meine Frage hätte beantworten können. 
 
Vom U-Bahnausgang Spichernstraße führt ein provisorischer Fußweg durch die Baustelle. Wer auf diese Weise die Pariserstraße betritt, kann kurz nacheinander noch folgende Baustellen in Augenschau nehmen: eine Absperrung rundum einer Laterne, eine zweite an einem Hauseingang, schließlich an der Fasanenstraße ein langgestrecktes Gehege, das lediglich ein paar Baubretter und ein neues Dixi-Klo umfasst. Das Männchen kneift die Oberschenkel zusammen. Das Weibchen hält die Hände schützend vors Geschlecht. Auf dem Dixi-Wort stehen Herzchen statt Punkte. Niedlich. Doch hilft es alles nichts. Die Dinger riechen doch. Dann steht man unvermittelt wieder auf der Uhlandstraße. Rechterhand ragen wieder die Hebekräne empor. Das war eine Runde von 2.200 Schritten oder knapp 1.5 Kilometer, während der ich den Anblick einer Baustelle nie ganz aus den Augen verlor. 
 
Später am Mittag kehre ich noch einmal zu den Hebekränen zurück. Die letzten Betonteile werden gerade über die Dächer geschwungen und ich stelle fest, es handelt sich nicht um einen, sondern um zwei Kräne, die hinter den Häuserzeilen aufgebaut worden sind. Rechts ragt einer hinter dem Hotel empor. Der andere steht auf der gegenüberliegenden Seite hinter dem blauen Wohnblock, in dem auch zwei Märkte untergebracht worden sind. Auf dem Gehsteig sind inzwischen auch die Baucontainer abgesetzt worden, vier auf einander gestapelten grauen Kästen mit einer Treppe davor. Klos, Bauzäune und Hölzer stehen ordentlich daneben gestapelt. Wenn die Hebekräne einmal verschwunden sind wird hier eine beachtliche Baustelle zurückbleiben, die seine Zeit wohl dauern wird.
 
In der Nacht denke ich an die vielen Rohre und Kabel, auf die ich tagsüber meine Füße setze. Die breiten Abflussrohre und die Abwasserrohre, in denen unsere Abfälle fortgeschwemmt werden; die schmalere Rohrverbindungen, die das Trinkwasser bis oben in die Wohnung bringen; die Röhrchen mit Elektrokabeln und den Kabeln der Telecom, zu denen unser Zugang zur digitalen Welt an einem dünnen Faden hängt; das alte Rohrgeflecht der Berliner Gasversorgung, - erwies sich das nicht als marode, als Anfang der 1990er Jahren russisches Gas den Druck erhöhen kam? Nicht zu vergessen die Fernwärme. Wie geht die denn von statten? Heiße Luft durch ein Rohr, nehme ich mal an. Vor meinem inneren Auge steigt eine Stadt unter der Stadt auf, eine Unterwelt, die für die obere die Grundlagen zu Verfügung stellt.  Ich stelle mich sie vor, ihre Schwärze und ihren Geruch, wie sie unablässig rauscht und brummt und blaue Funken schlägt. Ist dort der Ort, wo auch die Ratten wohnen? Gibt es nicht überall diese kleine Erdeingängen, von Gitter bedeckt, wohin sich im Sommer die Steckmücken sammeln und die schwarze Krähenschar nach Essbarem schielt? 
 
Wir Stadtbewohner alle, die wir uns ernähren aus derselben Unterwelt, die einen mit Essen, die anderen mit Wasser und Licht, was wissen wir schon davon, was sich unter unseren Füßen abspielt? Berliner mögen sich über die Baustellen ärgern. Sie mögen sie belächeln oder deftig beschimpfen. Dennoch sind sie es, die Zutritt zu einer Unterwelt verschaffen, die für das obere Wachsen schlicht unabdingbar ist. Baustellen sind Übergangsorte, wie es kaum Vergleichbare gibt. 
 
Literatur:
 
Vladimir Nabokov, „Stadtführer Berlin“. In: Stadtführer Berlin. Fünf Erzählungen (Stuttgart: Reclam, 1985), S. 3.
 
 
 


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Excavation Contractors Overland Park link
10/4/2022 05:53:39 am

I really enjoyed your blog posts thank you.

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