DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins in der Corona-Krise

​III. Übergangsorte

Abgeschlossen

Von 18. Mai bis 25. Juni

Freitag, der 12. Juni – Die Bernauer Straße

6/13/2020

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In Berlin stand einmal eine Mauer. Das war nicht irgendein Bau, weder ein billiges Machwerk noch eine hübsch verzierter Backsteinmauer, wovon es in Berlin doch etliche gibt. Die Mauer wovon im Folgenden die Rede sein soll war von beachtlicher Höhe, aus gegossenen Teilen zusammengesetzt und mit runden Zinnen bedeckt, und vor allem, sie war lang, die längste Mauer Berlins. Sie umrundete einen Gutteil des alten Berliner Stadtwalls, schloss das Tor nach Brandenburg auf der Westseite ab, wurde hinter dem Reichstag durchgezogen und überquerte dort die Spree, um die Reise nach Norden anzutreten. Damit nicht genug, umrundete sie schließlich die ganze Stadt. Eine beachtliche Mauer. Unsere Erkundung kann sie nur in Teilen erfassen. 
Diese Mauer war fast unüberwindbar, aber nur fast. Im Stettiner S-Bahnhof, der mit ihr zusammenstieß, wurden bloß die Ausgänge vermauert und die Bahnsteige verbarrikadiert. Danach war auch mit der Geradlinigkeit Schluss. Wäre es nach den Baumeistern gegangen, so wäre die Mauer schnurstracks weiter verlaufen, immer der S-Bahn entlang hinauf bis Waidmannslust. Aber leider waren da noch die Franzosen. Es gab ihre Sektorengrenze zu beachten. So einfach verlief die Planung nicht.
Um den Hasensprung nachzuvollziehen, den das Bauwerk an dieser Stelle vollzog, haben wir den Nordbahnhof, den früheren Stettiner, als Ausgangspunkt der Erkundung gewählt. Zu betrachten ist daher zunächst der großflächige Platz mit den Namen der Fernziele, die es an diesem Ort nicht mehr zu befahren gibt: Zinnowitz, Bad Doberan, Cammin und Warnemünde, Sassnitz, Belgard, Swinovjscie und Gdansk. Dieser Bahnhof ist nicht mehr. Was es noch gibt ist ein kleines, flaches Gehäuse mit einem S oben auf dem Dach. An dessen Nordeingang geht es 33 Schritte in die Tiefe, und dort, auf dem Halb-Deck, gibt es Fotos davon wie es zwischen 1961 und 1989 hier war. Vermauerte Ausgänge, verlassene Bahnsteige, bewaffnete Soldaten, Gerümpel mit Stacheldraht in allen Ecken, das Ganze nur so starrend vor Schmutz: Was muss das für ein Lebensgefühl gewesen sein, sich solche Orte zuzulegen? Erleichtert steigt man die 33 Stufen wieder hoch. Von der Tür weg erstrecken sich die Gleisanlagen ins Grüne, mit Birken und Pappeln und Windrosen darauf. Man sieht kräftige Bäume darunter, im nächsten Jahr werden sie schon 60 Jahre alt. 
Der Weg führt jetzt nach rechts in die Bernauerstraße und dort erwartet uns ein dramatischer Ort. Die besondere Mauer sollte den Ostteil der Stadt nicht vor Fremden schützen, sondern ihre Einwohner daran hindern, ab und davonzugehen. Das taten sie aber doch. Sie sprangen aus den Fenstern, schwammen über den Fluss, krochen durch unterirdische Kanäle, stellten Leitern auf, gruben sich Tunnel und hauten sich Wege frei, wo das eben ging. Soldaten schossen hinter den Fortgehenden her und viele kamen dann auch zu Tode. Das Ganze war wie ein Krieg. An der Bernauerstraße lässt sich erahnen, dass die Mauer eine Todesfalle war. 
Grünes Gras bedeckt den einstigen Mauerstreifen, darin eingelassen Markierungen für die Fluchtversuche mit den Namen der Erschossenen darauf. Fünfundvierzig Schritte misst das Gelände hier von Osten nach Westen. In Wirklichkeit war es eine Anlage mit einer „Hinterlandmauer“ zur Oststadt ausgerichtet, einem „Signalzaun“ um die Wachen in Alarm zu versetzen, einer „Fahrrinne“ für die bewaffneten Patrouillen und schließlich mit einem „Westwall“ aus glattem Waschbeton und gut drei Meter fünfzig hoch. Quer darauf verliefen Fluchttunnel, heute mit Bronze-Streifen in den Rasen gezeichnet. Hier standen die Wohnhäuser, aus denen gesprungen wurde. Dort stand die Kirche, für den Mauerzweck weggesprengt. Ein blühendes Roggenfeld erstreckt sich heute an dieser Stelle. Lerchen tauchen hinein, steigen daraus wieder empor, feiern das Fest der Vergänglichkeit. Alles ist neu hier, das Gras, die Bauten, die nagelneue Tram, die Schulklasse, weit nach 1989 geboren. Doch das Columbarium mit den Bildern der Toten hält uns noch die Vergangenheit fest. Eins-komma-neun Kilometer erstreckte sich dieser Mauerabschnitt entlang der Straße. Dann machte er einen Hasensprung nach links. Ab hier verlief die Mauer wieder bequem auf den Geleisen eines Betriebsgeländes, unterm Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion lang, über den Gleimtunnel hinweg, durch den Bahnhof Bornholmerstraße und endlich hoch nach Waidmannslust. 
Auf dem Stadtplan „Berlin Hauptstadt der DDR“ von 1983 befindet sich auf der anderen Seite der Mauer ein weißer Fleck, mit darin „Westberlin“ geschrieben, als ob der brandenburgische Sand dort schon begann. Der nicht-Osten war demnach ein Ort voller Leerstellen und schraffierter grünen Oasen. ‚Da gibt’s nichts zu sehen‘ deutete dies dem Betrachter an. In Westberlin hing 1983 überall genauso eine Karte, aber dann spiegelverkehrt, mit Kreuzberg, Schöneberg und dem Wedding, aber die Mitte der Hauptstadt existierte darauf nicht. „Brauchen wir nicht“ oder „nicht interessant“, so gab man Fremden zu verstehen. Überhaupt hatte die Mauer hier einen anderen Sinn. „Geh‘ doch nach drüben“, sagten die Nachbarn, wenn‘s ihnen nicht passte. In Kreuzberg diente sie dem Hochziehen von Tomaten und Obst. Künstler machten sich an ihr zu schaffen und zwischen Reichstag und Tor zog sie Touristen in Scharen an. Wer sich einen Weg auf einem der vielen Aussichtsplattforme gebahnt hatte, sah bloß den grünen Streifen mit Kaninchen überall. Von dieser Seite besehen war die Mauer ein Objekt des Hasses, der Wehleidigkeit und der Faszination. Vor allem war sie ein Rummelplatz mit einem einträglichen Gewinn. 
1983 gab es im Westteil die Künstlerin Pat Oleszko, die, nach eingehendem Studium der vorhandenen Aussichtsgelegenheit, den Stadtvätern vorschlug dazu ein Aussichts-Kaninchen dazu zu errichten. Ihr stand vor Augen ein fünf Meter hohes, auf den Hinterpfoten sitzendes Tier, das mit Kopf und Schultern über die Mauer ragen würde. Den Mauertouristen wurde so die Chance geboten, sich im geöffneten Kaninchenmaul dem Kaninchenstudium hinzugeben. So dachte die Künstlerin aus San Francisco Berlin etwas Gutes zu tun. 
Der Plan scheiterte an dem DDR-Grenzbeamten, der für die Errichtung von Plattformen westlich der Mauer stets sein Placet gab. Vielleicht fand er die Vorstellung, noch ein Kaninchen dazu zu bekommen, nicht so betörend wie die Künstlerin? Ein Bauwerk mit zwei Seiten lädt leicht zu mehreren Sichtweisen ein. Für die einen war die Mauer eine feste Burg, mit Wachen auf hohen Türmen, die ihre Landsleute vor dem Schlimmeren zu behüten hatten. Für die anderen war sie ein Objekt der Unverdaulichkeit. Die Künstlerin versuchte es mit einer Vermittlung zwischen beiden. Von Kaninchen zu Kaninchen zu winken entspanne die Mienen, verbessere die Stimmung, sei doch nur für alle gut. Ihr Vorschlag war Ost-West Entspannungspolitik „light“. Den Kaninchen-Aussichtsturm dachte die Künstlerin übrigens im Hasenwinkel zwischen Wedding und den Prenzlauer Berg zu errichten. Vor den Geleisen des Betriebsgeländes gegenüber vom Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion war auf der Wedding-Seite noch genügend Platz. Doch der Vorschlag, einfach wie er war, wurde weiter abgewiesen. Schließlich vertauschte sie Berlin mit San Francisco und errichtete dort wunderbare Werke, nur, Berlin hatte nicht viel davon. 
Wir erreichen jetzt das ehemalige Betriebsgelände, das eine breite Schneise durch die Stadtlandschaft zieht. Linkswinkelig von der Bernauer Straße abzweigend und entleert von allen Funktionen die es im Laufe der Zeit übergestülpt bekommen hat, ist ein wildes Parkgelände mit Spielplätzen für jedes Alter geblieben, mit Schaukelanlagen, Räuberhöhlen, Abenteuergeländen, Klettermauern, Aussichtsfelsen, sogar eine Ziegenfarm ist dabei. An der Westseite des Geländes befindet sich eine Baustelle, die uns leider den Zutritt verbietet. So können wir heute nicht an der Stelle stehen, wo einst das Aussichts-Kaninchen geplant worden war. Aber es geht auch so. Man stelle sich vor: ein fünf Meter hohes Kaninchen. Und versteht sofort, es hätte hier nahtlos hineingepasst. 
An der Ostseite zieht der Mauerweg auf Kopfsteinen nach hinten. Man kommt an allen Spielplätzen vorbei. Durch den Gleimtunnel wieder in den Westen und an den Neubauten entlang durch den Bärbel-Boley-Weg. Kurz vor den Eisenbrücken der Swinemünderstraße stoßen wir doch noch auf Restanten des Betriebsgeländes. Zerfallene Torpfosten aus roten Backsteinziegeln, kaputte Mauerstücke und zwei Reihen Wellblechschuppen, alles von Gerümpel und Pappelwurzeln zersetzt. Sieht aus wie Kriegsgefangenenbaracken. Ja, doch. Auch das ist möglich in Berlin. 
 
Literatur:
https://www.patoleszko.com/home

 
 

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    Die Autorin wohnt in Berlin-Wilmersdorf

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    June 2020
    May 2020

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