DR. GERDIEN JONKER, PHD. - HISTORIAN OF RELIGION AND AUTHOR
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100 Tage.
Eine Ethnographie Berlins in der Corona-Krise

​III. Übergangsorte

Abgeschlossen

Von 18. Mai bis 25. Juni

Mittwoch, der 24. Juni - Berlin von Oben

6/24/2020

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Heute, am neunundneunzigsten Tag der Corona-Krise, geht es durch die Steinwüste des Alexanderplatzes, vorbei an Menschenschlangen, die in der Sonne stehen, vorbei an den Bögen der S-Bahn und den Türmen des Saturns, vorbei an Bekleidungs-geschäften, Bankfilialen und Imbissbuden, vorbei auch an Baustellen und fortgeworfenen Pappkartons. Der Alexanderplatz ist kein einfacher Ort zum Navigieren, doch unaufhaltsam gehen die Füße Richtung Fernsehturm. In seinem Schatten warten Besucher schon auf Einlass. Zwei Schlangen haben sich dabei gebildet. In der ersten hält man im Internet gekauften Zugangskarten in der Hand. Die zweite besitzt eine solche Ressource nicht. Solange die Türen sich nicht öffnen gibt es zwischen beiden Menschengruppen einen hektischen Wechsel. Bin ich hier falsch? Ist es dort besser? so scheinen alle sich zu fragen und wechseln noch schnell den Platz. Das ändert sich schlagartig, sobald ein junger Mann in der Türöffnung erscheint. Feierlich fängt er an, die Karten zu studieren und deren Inhaber zu belehren. Es gilt, die Etikette zu beachten, die Hände zu waschen, die Maske vor das Gesicht zu tun, die Treppe zu besteigen und vor den Aufzügen Schlangen zu bilden. Die Leute reagieren lammfromm. In einem langen Flurstück oben an der Treppe nimmt uns ein zweiter Zeremonienmeister im Empfang. In Amt und Würden ist er hier schon einunddreißig Jahre, erzählt, was er immer den Besuchern erzählt, von den 360 Metern und den vierzig Sekunden, von den zehn Etagen im Wasserkopf, vom Restaurant und von der großartigen Aussicht. Fünf Besucher dürfen heute zusammen im Aufzug fahren. Der Meister misst gerecht die Schlangen ab, teilt ein, drückt den Knopf und scheucht uns Grüppchen nach Grüppchen in die Höhe. 
 
Was ich hier suche? Im Wirrwarr der vielen Eindrücke suche ich nach der Übersicht. Kann man vielleicht von oben sehen, wo während der Corona-Krise die Post abging? Lassen sich mit dem Finger die Routen meiner Erkundungsgänge nachzeichnen? Sind im Osten und Westen, im Süden und im Norden der Stadt die S-Bahnkreuze auszumachen? Und was ist mit den Kiezen ringherum? Kann man von oben auch Baustellen sehen? Wie ist es mit dem langweiligsten Ort Berlins? Welchen Eindruck machen Berliner Friedhöfe in einer Höhe von 360 Meter? Was ist mit der Mauer? Ahnt man noch, wo sie verlief? Wie sieht es aus am Flughafen Tegel? Vielleicht sieht man dort oben Flugzeuge beim Landen zu? Kann ich bis zum Stadtrand gucken? Was ist mit den Straßen, die ich nicht gelaufen bin? 
 
Im Turm sind vier Windrichtungen hinter getönten Fenstern zu betrachten. Unter unseren Füßen erstreckt sich weit und gleichgültig Berlin. Erläuterungen buhlen um die Aufmerksamkeit der Betrachter, Fotos geben die Blickrichtungen vor. Es glitzert das Wasser der Spree. Es glitzern die Fenster der Autos, lange Karawanen vom Ostkreuz her. Es glänzen die Türme und Kuppeln am Fuße des Turms. Bilder von nah und fern und von noch ferneren Himmeln. Berlin ist ein Spielzeugkasten voller roter und weißer und grüner Scheiben, die man nicht verschieben kann. Dazwischen streben Straßen unaufhaltsam zum Horizont. In jeder Windrichtung ist dahinter Brandenburg zu sehen, einfach immer der Straße nach, dann kommt man von selber hin.
 
Da erstreckt sich Berlin, die Stadt der Aufklärer, Moses Mendelsohn am Neuen Tor, Rahel Varnhagen in der Friedrichstadt, das „Buch an meine Freunde“ und die Freunde selber, für immer zusammen hinterm Halleschen Tor. Berlin, die Stadt der Einwanderer und der kleinen Leute, den schlesischen Arbeitern am Ostkreuz, den Türken in Neukölln, dem ukrainischen Akkordeonspieler auf der Wilmersdorfer Straße, den Obdachlosen am Bahnhof Zoo. Berlin, die Stadt der vielen Unterwelten, der Geisterorte am Nordbahnhof, der grünen Aquarien unterm Alexanderplatz, den kalten Schluchten vom Hauptbahnhof. Berlin, die Stadt der Preußen und des Militarismus, die Stadt des Größenwahns und dem Kurfürstendamm. Berlin, die Stadt von Hitler und den Bomben, von den Nachbarn, die ermordet worden sind, die Stadt der Millionen Zwangsarbeiter in geteerten Schuppen, die Stadt der Trümmern, der Wehleidigkeit und haben-wir-nicht-gewusst. Berlin, die Stadt der beiden Hälften, Besserwisser alle zwei, nichts könnte deutscher sein. Berlin, die Stadt der vielen Kaninchen, die Stadt der Mauerspechte und weg damit! Berlin von ‚du bist so wunderbar‘ und Heimweh nach dem Kurfürstendamm. Berlin, die Stadt der Alten, die an der Ampel Unverständliches raunen und die der trotzigen jungen Leuten, in Corona-Party-Stimmung versetzt. Von oben ist das alles nicht zu sehen. Es erstreckt sich gleichgültig die Riesin Berlin.
 
Von oben sind die Stadtteile Kreuzberg und Neukölln gerade noch auszumachen, nicht aber der Karl-Marx-Platz, nicht die Sonnenallee und nicht der Cottbusser Tor. Der Kasten des Ostkreuzes ist im Dunst zu unterscheiden, nicht aber die Stralauer Vorstadt, nicht Treptow und nicht die Brücken über der Spree. Dort irgendwo müssten die neuen Hotspots des Corona-Virus sich befinden. Es sollten schon wieder sieben sein. Da wäre es doch hilfreich, wenn unsere Stadtmütter und -Väter weiße Ballons darüber fliegen lassen würden. So könnte man von hier oben zumindest sehen, wo genau was ist.  
 
Berlin von oben, das sind die großen Straßen und Alleen, das ist der Tiergarten, der Humboldthain und das Tempelhofer Feld. Die Stadtbahn liegt einem direkt zu Füßen. Doch die Ringbahn sieht nur, wer sie ahnen kann. In Richtung Westen sind die Uhlandstraße und der Kurfürstendamm von hier aus nicht erkennbar. Sie werden auf der Tafel auch nicht erwähnt. Die roten Dächern von Lichtenberg schimmern. Dahinter soll also das Stasi-Museum zu sehen sein? In Richtung Osten wird man auf die Schönhauser Allee, den Mauerpark und den Nordbahnhof verwiesen. Auch Geisterbahnhöfe werden erwähnt, aber zu sehen ist davon nichts. Über die Bresche, welche die Mauer durch die Stadt geschlagen hat, schweigen die Anweisungen stille. Vergeblich die Suche nach dem Weddinger Hasensprung. Wäre doch schön gewesen, ihn von oben noch einmal ausmachen zu können. Eine Reihe strategisch angebrachter Spiegel würde es schon tun.
 
So geht es rund und rund, vom Westen in den Osten, vom Osten in den Westen und wieder zurück. Man erblickt die Straßen, die auf ihre Erkundung noch warten, die Straße des siebzehnten Juni, die Straße Unter den Linden, die Landsberger- und Karl-Marx-Allee. Unbesungen die Türme der Gropiusstadt und Oberschönhausen. Aus der Ferne grüßen sie freundlich hinüber. Bis zum nächsten Mal. Wir kommen zurück.


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Freitag, der 19. Juni – Der Kurfürstendamm

6/21/2020

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Gestern wurde endlich das Urteil im Ku’Damm-Raser Prozess gesprochen und siehe da, es war Mord. Die jungen Männer Marvin und Hamdi, der eine in einem aufgemotzten Mercedes Coupé, der andere in einem frisierten Audi, hatten sich 2016 in der Nacht ein Rennen geliefert, das für einen unbeteiligten Autofahrer tödlich endete. Das Rennen war kurz und gar nicht auf dem Ku’Damm. Die jungen Männer hatten sich vor der Ampel zur Joachimthaler Straße gespottet, gaben daraufhin Gas, scheuerten am Breitscheidplatz vorbei in die Tauentzienstraße hinein, kollidierten dort mit dem Menschen dessen Tod jetzt als Mord gewertet werden darf, und das war es auch schon, noch keinen Kilometer weit, davon 200 Meter auf dem Kurfürstendamm. 

Frage: Warum hießen die beiden „Ku’Damm Raser“, wenn das Rennen wo anders verlief? Ganz einfach. Weil da „Cruisen am Kurfürstendamm“ schon seit fünfzehn Jahren als unwiderstehlich galt. Weil die geliebte Rennstrecke just am Adenauerplatz startete: zwei Kilometer den Ku’Damm herauf, links in die Joachimsthaler Straße, nochmals links die Kantstraße hoch, dann wieder rechts unter der S-Bahn durch in die Lewishamstraße Richtung Adenauerplatz und fertig, fünf Kilometer insgesamt. 2002 galt der Ku’Damm deswegen als „gefährlichste Straße der Stadt“. 2006 wurden dabei zwei Mädchen an der Bushaltestelle totgefahren. 2014 galt die Straße als „Raserstrecke Nummer 1“. Dann kamen Marvin und Hamdi, ließen am Rande die Motoren aufheulen und schon erkannte tout Berlin die Lieblingsbeschäftigung der Berliner. Sie waren „Ku’Damm Raser“ wie alle anderen auch.

Seit 135 Jahren steht der Kurfürstendamm für Glitzer, Glamour und Dazugehören, für Verwegenes und Mit-der-Nase-vorne-liegen, für Avant-Garde eben. Was aber Avant-Garde ausmacht, darüber entscheiden die Generationen und es ist ein durchaus beweglicher Begriff. 1920 mag es das Bananenröckchen gewesen sein, das allabendlich auf der Bühne hochgeschwungen wurde und Männern in wohlige Ekstase versetzte. 2020 ist es jedoch und unangefochten der Maserati, vom Fahrer geleased und auf dem Mittelstreifen geparkt, damit die Ku’Damm Spotter ihn erst fotografieren können, bevor es richtig losgeht.

Der Kurfürstendamm also, die Straße des Sehens und Gesehen-werdens, die Straße der Cruiser, in der niemand wohnt, in der aber jeder der etwas auf sich hält eine Adresse haben muss, die teuerste Straße der Stadt. Jede Hauptstadt hat so ihre Glamour-Meile und doch stimmt hier etwas nicht. Warum haben die Berliner die ihre so stiefmütterlich, ja halsabschneiderisch behandelt? Gehätschelt wurde dieser Damm jedenfalls nicht. Fangen wir einmal beim Anfang an und schauen, was davon unterwegs zu sehen ist.

Zu Zeiten des großen Kurfürsten gab es vom Zentrum der Stadt einen Wald- und Wiesenweg, der zum Schloss im Grunewald führte. Im Tiergarten zweigte er links ab, lief durch das Tiergartenviertel durch, passierte die Brücke über den Landwehrkanal und ging von dort in gerader Linie bis zu Halensee.  Dort wurde erst einmal Rast gemacht, damit die Prinzessin, Luise Henriette aus den Niederlanden, sich verschnaufen konnte. Möge diese bukolische Idylle längst verschwunden sein, heute ist das noch immer der Henriette-Platz. 200 Jahre später setzte Bismarck sich dafür ein, aus dem Wald- und Wiesenweg einen Prachtboulevard zu kreieren, nach Pariser Vorbild selbstverständlich, nur sollte sein Boulevard eine Straße der Superlative sein. Pariser Boulevards – ob Saint German, Saint Martin oder Montmartre – maßen über den Damm durchschnittlich fünfunddreißig Meter. Aber der Kurfürstendamm bekam eine Breite von fünfundfünfzig Meter eingeräumt. In Paris liefen sie nach höchstens zwei Kilometer ins Leere, der Berliner Boulevard ging beinahe fünf Kilometer lang. 

Wer so groß plant will auch große Bauten, und die bekam der Kurfürstendamm. Im Grunde war es Berliner Altbau, aber dann ins Gigantische, die an die Straße grenzende Seite vierzig und mehr Meter lang.  Am Ende wurden 266 Baugrundstücke vergeben, etwa 133 für jede Seite. Auf einer Länge von fünf Kilometer ist da für jeden genügend Platz. Zwischen Landwehrkanal und Aquarium überherrschten zwar die kleinen klassizistischen Villen des Tiergartenviertels, wovon heute noch eine zu sehen ist. Sie steht auf der alten Grundstücksnummer 265, das vorletzte Haus vor dem Kanal. Aber spätestens am Augusta-Viktoria (heute Breitscheid-) Platz, wo der Damm eine kurze Schlinge um die Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche legte, ging‘s los mit den Giganten. Um 1900 galten sie zwar bereits schon als „protzig“. Dennoch waren sie der Stolz dieser Stadt.

Geschah es, weil dieser erste Abschnitt des Kurfürstendamms nicht genügend protzte? Jedenfalls wurde er 1925 zur persona non grata erklärt. Abgehängt als die „Budapester Straße“ lenkten spätere Baumeister sie gar Richtung Nürnberger Straße. Zu allem Überfluss wurde auch noch ein Keil in die Straßenführung gelegt: der Olaf Palme Platz. Dich kenn‘ ich nicht mehr! schien Berlin sich selber zu sagen und weg war der Anfang des Kurfürstendamms, zehn Häuser auf der Tiergartenseite, zwanzig ihr gegenüber, die bis auf einen verschwunden sind. Auch die Kirche wurde dem Breidscheidplatz überlassen, zuerst als Kaiser-Gedächtnis, dann als Bombendenkmal einer Bomben-verwüsteten Stadt. Ekklesia Bombardeada, Berlins wohl wichtigste Touristenattraktion. Erst danach begann der Kurfürstendamm von neuem und fing nunmehr mit Nummer 11 als sein erster an.

Wie vorhin gesagt, von der Joachimsthaler Straße bis zum Adenauer Platz verläuft die Rennstrecke der Cruiser und Raser. Sie ist das eigentliche Glanzstück des Kurfürstendamms. 1913 wohnten hier schon 120 Millionäre, so raunen es die Berliner. Wirklich? Ist das nun etwas, um darauf stolz zu sein? „Der Kurfürstendamm, die schönste Prachtstraße von Berlin W., hatte außer den mit Terrassen geschmückten Bürgersteigen, auch zwei Trambahnlinien und eine doppelspurige Fahrbahn aufzuweisen“, stellte 1929 Yvan Goll, aus Paris kommend, nüchtern fest. In der Tat, nach der Trennung von ihrem Anfang gab es an dieser Straße keinen Zoo mehr, kein Aquarium und keine Kirche, kein einziges Denkmal und überhaupt, keinen repräsentativen Platz. 

Geblieben waren ihr die großen Häuser und die Straßenterrassen. Geblieben war auch der Mythos, der Größte von allen zu sein. Gabriele Tergit schilderte 1931 das Spiel der Bauspekulanten mit dem schnellen Geld und den aufgeblähten Bauten. Ein paar Jahre später erschienen die Arbeiter vom Ostkreuz in den braunen Uniformen der SA, angezogen von dem Duft der Verführung, die Ohren klingelnd mit Geschichten von „Kurfürstendamm-Juden“, die hätten doch an allem Schuld. Wie sie am Kurfürstendamm darauf los hauten, das ist von vielen beschrieben worden. Mit der Verjagung und Ermordung der Juden schafften sich anschließend die Nazis selber einen Platz. Schöner Wohnen als am Kurfürstendamm kam auch für die nicht im Frage. Bis die Bomben niederkamen, dann war auch mit dieser Chimäre Schluss.

„Ich habe so Heimweh nach dem Kurfürstendamm“, sang Hildegard Knef in den Nachkriegsjahren und wenn sie in Berlin verblieb dann wohnte sie tatsächlich stets dort, nicht in einer der großen Wohnungen, sondern im Hotel Kempinski, was doch auch ein Standing war.  Später zog sie in einer der Seitenstraßen ein. Am Kurfürstendamm selber zu wohnen kam nicht mehr im Frage und heute scheint das auch niemand mehr zu tun. Schaut man früh morgens zu den Fenstern hoch, so sieht man überall verschlossene Rollläden und auch der heutige Erkundungsgang lieferte viele Hinweise, das dem so ist. Aus der Lektüre der Namensschildern an den großen Häusern ergaben sich, statt die Namen von Bewohnern, die Namen von Kliniken, Immobilienmaklern, Anwälten, Capital Investors, Mediengruppen, Hausverwaltungen, Zahnarztpraxen und Bürohäusern allerlei Couleur. Am Ku’Damm-Eck oberhalb vom Kranzler zum Beispiel kann man schon für 365€ im Monat einen Schreibtisch mieten. Auch zwei Quadratmeter haben hier ihren Preis. 

„Wird hier dann noch irgendwo gewohnt?“, frage ich einen Pförtner, der in seinem Glaskasten die Berliner Zeitung liest. Er grinst. „Darf ich nicht sagen, junge Frau, aber vielleicht da drüben schon!“ Seine Finger weist Richtung Leibniz Straße und tatsächlich, erst hinter dem Adenauer Platz erscheinen wieder Vorhänge und Pflanzen auf dem Balkon. Wir haben die Rennstrecke überwunden und siehe da, die Prachtstraße hat ihren Flair abgelegt. Statt protziger 1900 Bauten stehen nunmehr unscheinbare Kästen herum. Bis zum Henriette-Platz reihen sich die Neubauten. Die Straße erhält diese gewisse Krustigkeit, die im Übergang und Verschwinden seine Ursache hat. Links vor der S-Bahn lugt noch ein sperriger Neubau hinter Bauzäunen hervor, der S-Bahneingang daneben unscheinbar und starrend vor Schmutz. Die S-Bahnbrücke selber eine geteerte Wüste, laut und unattraktiv. Nach Überqueren der Brücke macht der gigantische Kasten eines Bauhaus sein Statement, nicht schön, dafür aber mit Parkplatz und Drive-In äußerst effektiv. 

Nun sind noch 500 Meter bis zur Stelle zu gehen, wo der Damm in die Königsallee übergeht. Und genau an dieser Stelle, dort wo der lärmige Verkehr Richtung Avus einbiegt und geradeaus die Villenviertel des Grunewalds winken, da steht auch das einzige Monument des Kurfürstendamms. Wir begutachten zwei kollidierende Chevrolets in Beton gegossen und bewerten sie als irgendwie Avant-Garde und auf jedem Fall passend zum Straßen-Arrangement. Was mit einer Kollision anfing, kann nur mit einer Kollision beendet werden. Im Aufprall verewigten Autos, was passt da mehr zu diesem Wald- und Wiesendamm? Warum der öde Kreisverkehr dennoch Rathenau-Platz genannt werden musste, nach dem genialen Außenminister, der vor hundert Jahre nicht weit von hier ermordet worden ist, das ist noch eins dieser Ku’Damm Mysterien, das wohl nie gelüftet werden wird. 
 
Literatur:
 
Yvan Goll, Sodom Berlin (1929). Frankfurt: Fischer Verlag, 1988.
Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm. (1931). Frankfurt/M: BTB, 2017.


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Montag, der 15. Juni – Das Ostkreuz

6/17/2020

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Das Berliner Ostkreuz ist weniger ein Kreuz denn ein Kleeblatt, das von einem Wirrwarr an Trassen, Schienen und Brücken geprägt worden ist. Die Ringbahn, die Stadtbahn, der Bogen rundum die Victoriastadt, die Eisenbahn nach Frankfurt, die Eisenbahn nach Güstrin, dazu ein ausgedehntes Werkstatt-Gelände haben eine Stadtlandschaft entstehen lassen, die ganze Stadtteile voneinander trennt. Erst war hier die Eisenbahn, dann besetzte die Stadt die Lücken. Entstanden sind lauter kleine Kieze, dank Trassen und Brücken einander völlig fremd. Ein Kiez ist ein abgekapseltes Viertel mit einem eigenen Selbstverständnis, das die unterschiedlichsten Menschen umschließt. Am Ostkreuz lässt sich erfahren, wie Berlin davon geprägt worden ist.
 
Um das Kreuz herum zu gehen ist viel Arbeit. Der Anfang wird einer jedoch leicht gemacht. Beim Verlassen der Ringbahn am Treptower Park riecht es nach Wasser. Der viele Regen hat die Ränder mit Klee und Hirtentäschel weiß gefärbt. Vor mir glänzen die Spreebrücken im Morgenlicht. Weit unten liegen die Rundfahrtschiffe am Ufer. Rechts erstreckt sich die Landzunge Stralau, links hinter drei Eisenbrücken der Stralauer Kiez. Geradeaus soll es zum Ostkreuz gehen, aber zu sehen ist es von hier aus noch nicht. 
 
Zuerst geht es nach unten auf die Insel. Bevor die Stadt den Zugriff startete war diese Insel ein Fischersdorf mit Kirche und Beschaulichkeit. Im zweiten Weltkrieg wurde sie vollgebaut mit Lagern, für Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, für Polen, Ukrainer, Niederländer und Franzosen, nach Status, Geschlecht und Nationalität in Gruppen eingeteilt. Die Insel bot für die Errichtung der Gefängnisse genügend Platz. Sie war jedoch nicht der einzige Ort, wo sich solches vollzog, denn „zu jener Zeit war Berlin mit Holzbaracken nur so überzogen. In jeder noch so kleinen Lücke der Riesenstadt hatten sich Fluchten brauner, Teerpappe-gedeckter Fichtenholzquader eingenistet. Groß-Berlin (..) bildet ein einziges Lager, das sich zwischen den festen Bauten, den Denkmälern, den Bürohäusern, den Bahnhöfen, den Fabriken hinkrümelt.“ 
 
Sagt Wer? François Cavanna, der es aus eigener Anschauung wusste, sagte dies. Eingepfercht in ein Riesenlager am Baumschulenweg, fuhr er 1944 jeden Tag mit der S-Bahn „zur Arbeit“, Trümmern räumen irgendwo in der Riesenstadt: „Hoch oben im S-Bahn-Wagen überfliegst du ein Lager nach dem andern. Von dort oben sehen sie alle gleich aus.“ Cavanna intoniert die Stationen, die er passierte: Ostkreuz, Warschauer Straße, Jannowitzbrücke, alle gründlich plattgebombt. Und weiter ging es in den Westen, wo die Trümmer sich türmten, zu Bellevue, Tiergarten, Zoologischem Garten und zum Kurfürstendamm. Gratis Zwangsarbeit ist für autoritäre Machthaber eine verführerische Sache. In der DDR erschien an deren Statt eine Strafanstalt für Jugendliche, die ebenfalls zur Zwangsarbeit in der A.E.G., der Glashütte und bei Borsig gezwungen wurden. An einem Eisenbahnkreuz wie diesem gab es immer viel zu tun. 
 
Dann kam die Wende und ließ ein olympisches Dorf sich auf die Insel nieder. Die Spiele wurden zwar Berlin nicht zugeschlagen, aber das Dorf wurde gebaut und erlaubt seither ein Wohnen wie nur selten in Berlin, mit Wasserblick und Uferbäumen und Spielplätzen ringsherum. Auf dem Uferweg machen junge Mütter unter Anleitung Gymnastik, ohne Mundschutz aber mit gebührend Abstand. Die Kinderwagen stehen hinter ihnen aufgereiht. ‚Da sind wir‘, scheinen sie den Vorbeigehenden sagen zu wollen: ‚Irr‘ Dich mal nicht. Das hier ist unser Platz.‘
 
Zurück zum Fußpfad entlang der Ringbahn und durch den Stralauer Tunnel hindurch. An der anderen Seite wartet der Stralauer Kiez. Eine andere Welt offenbart sich hier dem Auge. Sie besteht aus einem großen Werksgelände, der früheren „Hauptwerkstatt der Niederschl.- Märk. Eisenb.“, samt Mauern und Schuppen und sehr viel Sand. Für die Gleisarbeiter wurde ein schmaler Streifen Häuser entlang dem Osthafen gebaut, ein billiges Arbeiterviertel mit Plattenbauten durchsetzt. Seit der Wende hat die Stadt im Kiez gewütet und hinterließ blendend weiße Bauten, dazu zwei kämpfende Riesenmänner im Fluss. Ihre Wohltaten schmeckten aber nicht allen. „Gentrifizierung“ steht an eine Wand geschrieben. An der Ecke zur Markgrafenstraße verbirgt sich ein Biergarten hinter verwitterten Palisaden, darauf die Homer-Zeile von Orpheus und Eurydike: „Im abgründigen Hades festgesetzt / kann sie kraft seines rührenden Wehklangs befreit werden / wenn er sich nur den Regeln der Unterwelt fügt...“. Hinter diesen Palisaden bietet man ein solches Fügen Widerstand. 
 
Der Straßenverkehr faucht und hupt und spuckt schwarze Schwaden und macht das Gehen zu einer mühsamen Sache, wäre da nicht „Das Friedrichhainer Infrastrukturprojekt in Selbstverwaltung“. Auf einem der Werksgelände gelegen, mit Holzbaracken und alten Bäumen, mit quer gezogenen Kabeln und einer Reihe Briefkästen an der Wand zieht es die Neugierigen an. Das Betreten des Geländes ist jedoch verboten. Ein junger Italiener erscheint von irgendwo, ruft halb drohend, halb erschreckt „Cosa vuoi!“, lässt sich von einem Brocken Italienisch überraschen, und erzählt alsdann bereitwillig, was alles da hinter steckt. „No Signora! Non siamo Illegali!“ Aber außerhalb der Strukturen der Stadt, das wohl. Er schlingt die Arme um den Körper um zu zeigen, wie gut Zusammenhalt hier anfühlt: Ein Kiez mitten in dem Kiez und eine eigene Gemeinschaft. Man kenne die Polizei, mit der gäbe es manchmal gute Gespräche. Die ließen einem Raum zum Leben und damit einen Platz für freie Kunst. Aber andere wollten das so nicht verstanden wissen. Das Feindbild des Künstlerkollektivs nistet in der Nähe. Er weist auf die andere Straßenseite: „alles Faschisten!“ Ein solcher Feind hilft sicherlich dem hier gepflegten Wir-Gefühl. Letzte Frage: „War bei Euch Corona?“ Er blinzelt: „Bier?“ „Nein, das Virus.“ Ich fange einen glasigen Blick ein. Kein Anschluss unter dieser Nummer und Tschüss!
 
Nun folgt eine öde Strecke, gesäumt von Mauern und Werksgeländen, zur Verwendung für allerlei. An der Überseite steht schon wieder eine Wagenburg, nunmehr in zerfallenen Gebäuden. „Wir sind alle Vagabunden, Wanderer, Migranten und Träumer“, verkündet die Burg der Welt. Doch die verbarrikadierten Fenster und Fetzen am Gitter sprechen eine andere Sprache. Wenn das Träume sein sollen, ist man lieber wach. 
 
Nach der Umrundung des Wasserturms öffnet sich ein futuristisches Gelände. Betontrassen auf hohen Stelzen überqueren sich, von links nach rechts, von vorne bis weit nach hinten erheben sich die Pylonen. Dort wo sie sich begegnen, sind sie von einem Glaskasten gekrönt. Das Ostkreuz. Hier wohnt niemand. Hier ist nur Ankommen und Abreisen und Durchreisen angesagt. Hier sind im Laufe der Zeit die Schlesier, die Polen und die Schwaben angekommen und haben sich in den Stadtnischen ein neues Zuhause gemacht. Hier wurden die Zwangsarbeiter und die Kriegsgefangene abgeladen und zur Arbeit in die Fabriken verbracht. Von all diesen früheren Bewohnern der Viertel rundum das Ostkreuz gibt es heute niemand mehr. Wer ihren Platz genommen hat, das sind „die Neuen“, das ist Berlins‘ neuester Zuwachs im „coolen“ Kiez.  
 
Um den dritten Kiez zu erreichen muss man zuerst das 200 Meter breite Gleisgelände überqueren. Eine überdeckte Eisenbrücke gibt uns Gelegenheit dazu. Dann steht man in der Neuen Bahnhof Straße und zwischen Kaffeeterrassen in der Sonne. Es riecht nach Kaffee und Brötchen und die Stimmung ist entspannt. Als die Berliner Göre Inge Müller 1925 im Hinterhaus der Nummer 32 geboren wurde, war diese Straße noch in Rot, Braun und Schwarz geteilt. Dann ging es schnell zur Sache, gab es nachts Schlägereien, gewannen schließlich die Braunen und folgte die Katastrophe, die hier überall ihre Spuren hinterlassen hat. Luba Derczanska, die Wilnaer Jüdin, 1927 hierhergezogen, um eine Ausbildung als Chemielaborantin abzuschließen, berichtet zu Pfingsten von Straßen voller Weltkriegs-Frontkämpfern und laut blechernem Marschmusik. 
 
Von dieser Vergangenheit weiß die Neue Bahnhof Straße heute nichts mehr. Barristos, Burritos und Tapas weisen vielmehr auf die neuesten Trendsetter hin. Coole Spanier und Italiener, Koreaner, Taiwanesen und Afrikaner flanieren mitten auf dem Pflaster, die Männer Arm in Arm, die Frauen lächelnd in Gruppen, auch Kinderwagen sind dabei. Das sind also Berlins neueste Zuwanderer, und wirklich, warum sollten sie die Geschichte dieser Straße kennen? Sie kommen aus allen Richtungen der Erde und haben sich an diesem Ort eine neue Zusammengehörigkeit geschaffen. Guten Mutes sind sie und halten die Regeln ein. Die Kellner tragen ausnahmslos den Mundschutz und ihre Kunden nehmen die ihren erst am Tisch wieder ab.
 
Am Ende der Neuen Bahnhofstraße, dort wo sie die Boxhagener kreuzt, öffnet sich rechts eine neue Eisenbrücke und damit eine Passage in wieder eine andere Welt. Die Viktoriastadt, von Gleisen ringsum eingekreist, stellt ein eigener historischer Flecken auf der Berliner Landkarte dar. Auf der Seite zum Durchgang prangt der Berliner Bär mit Krone und einem Flügelrad. Ihr wurde also das Zeichen des Reichsadlers verliehen, die Brücke 1877 gebaut. Uns bietet sie heute einen dunklen, rußigen Durchgang. Nur einige Schritte, dann stehen wir im alten Preußen, erblicken Bastionen aus rotem Backstein, leere Straßen voller historischem Bausubstanz. Ab hier fängt eine andere Geschichte an, wo Arbeiter was galten, damals, als Zille seine Milieuzeichnungen machte und der Streit zwischen Roten und Braunen als noch unentschieden galt. 
 
Die Victoriastadt ist der vierte Kiez am Ostkreuz und nochmals anders als all die anderen. Keine jungen Frauen bei der Gymnastik. Keine Künstler hinter der Wagenburg. Keine coolen jungen Leute im Wohlgeruch der Barristas, nichts von alledem, hier wird einfach nur gewohnt. Das ist also das Geheimnis eines jeden Berliner Kiezes: Nur eine Brücke, und man kennt sich nicht mehr aus.
 
Aber nun ist genug für heute. Wir tun was alle tun und schlagen den Fußpfad zum Bahnhof ein, klettern die achtundvierzig Stufen hoch und beäugen die Gehsteige, die Zugang geben zum Ring. Dort sehen wir das dichte Gedränge an den Zügen, nehmen wahr, wie viele Menschen links und rechts die Treppen zur Stadtbahn und den Vorortzügen hinabsteigen, und wissen schlagartig um das zweite Geheimnis des Kiezes: Die Möglichkeit, Tag und Nacht die ganze Stadt zu bereisen. Das ist das Gegenwicht der Berliner Nischenexistenz.
 
Literatur:
 
François Cavanna, Das Lied von der Baba. Berlin: Aufbau-Verlag, 1988.
 
Ines Geipel, Dann fiel auf einmal der Himmel um. Inge Müller. Die Biographie. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2004.
 
Gerdien Jonker, „Luba Derczanska and her friends.“ In: Gerdien Jonker, On the Margins. Jews and Muslims in Interwar Berlin (Leiden: EJ Brill, 2020), S. 153 - 179.
 
ns-zwangsarbeit.de
 
 
 

 

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Freitag, der 12. Juni – Die Bernauer Straße

6/13/2020

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In Berlin stand einmal eine Mauer. Das war nicht irgendein Bau, weder ein billiges Machwerk noch eine hübsch verzierter Backsteinmauer, wovon es in Berlin doch etliche gibt. Die Mauer wovon im Folgenden die Rede sein soll war von beachtlicher Höhe, aus gegossenen Teilen zusammengesetzt und mit runden Zinnen bedeckt, und vor allem, sie war lang, die längste Mauer Berlins. Sie umrundete einen Gutteil des alten Berliner Stadtwalls, schloss das Tor nach Brandenburg auf der Westseite ab, wurde hinter dem Reichstag durchgezogen und überquerte dort die Spree, um die Reise nach Norden anzutreten. Damit nicht genug, umrundete sie schließlich die ganze Stadt. Eine beachtliche Mauer. Unsere Erkundung kann sie nur in Teilen erfassen. 
Diese Mauer war fast unüberwindbar, aber nur fast. Im Stettiner S-Bahnhof, der mit ihr zusammenstieß, wurden bloß die Ausgänge vermauert und die Bahnsteige verbarrikadiert. Danach war auch mit der Geradlinigkeit Schluss. Wäre es nach den Baumeistern gegangen, so wäre die Mauer schnurstracks weiter verlaufen, immer der S-Bahn entlang hinauf bis Waidmannslust. Aber leider waren da noch die Franzosen. Es gab ihre Sektorengrenze zu beachten. So einfach verlief die Planung nicht.
Um den Hasensprung nachzuvollziehen, den das Bauwerk an dieser Stelle vollzog, haben wir den Nordbahnhof, den früheren Stettiner, als Ausgangspunkt der Erkundung gewählt. Zu betrachten ist daher zunächst der großflächige Platz mit den Namen der Fernziele, die es an diesem Ort nicht mehr zu befahren gibt: Zinnowitz, Bad Doberan, Cammin und Warnemünde, Sassnitz, Belgard, Swinovjscie und Gdansk. Dieser Bahnhof ist nicht mehr. Was es noch gibt ist ein kleines, flaches Gehäuse mit einem S oben auf dem Dach. An dessen Nordeingang geht es 33 Schritte in die Tiefe, und dort, auf dem Halb-Deck, gibt es Fotos davon wie es zwischen 1961 und 1989 hier war. Vermauerte Ausgänge, verlassene Bahnsteige, bewaffnete Soldaten, Gerümpel mit Stacheldraht in allen Ecken, das Ganze nur so starrend vor Schmutz: Was muss das für ein Lebensgefühl gewesen sein, sich solche Orte zuzulegen? Erleichtert steigt man die 33 Stufen wieder hoch. Von der Tür weg erstrecken sich die Gleisanlagen ins Grüne, mit Birken und Pappeln und Windrosen darauf. Man sieht kräftige Bäume darunter, im nächsten Jahr werden sie schon 60 Jahre alt. 
Der Weg führt jetzt nach rechts in die Bernauerstraße und dort erwartet uns ein dramatischer Ort. Die besondere Mauer sollte den Ostteil der Stadt nicht vor Fremden schützen, sondern ihre Einwohner daran hindern, ab und davonzugehen. Das taten sie aber doch. Sie sprangen aus den Fenstern, schwammen über den Fluss, krochen durch unterirdische Kanäle, stellten Leitern auf, gruben sich Tunnel und hauten sich Wege frei, wo das eben ging. Soldaten schossen hinter den Fortgehenden her und viele kamen dann auch zu Tode. Das Ganze war wie ein Krieg. An der Bernauerstraße lässt sich erahnen, dass die Mauer eine Todesfalle war. 
Grünes Gras bedeckt den einstigen Mauerstreifen, darin eingelassen Markierungen für die Fluchtversuche mit den Namen der Erschossenen darauf. Fünfundvierzig Schritte misst das Gelände hier von Osten nach Westen. In Wirklichkeit war es eine Anlage mit einer „Hinterlandmauer“ zur Oststadt ausgerichtet, einem „Signalzaun“ um die Wachen in Alarm zu versetzen, einer „Fahrrinne“ für die bewaffneten Patrouillen und schließlich mit einem „Westwall“ aus glattem Waschbeton und gut drei Meter fünfzig hoch. Quer darauf verliefen Fluchttunnel, heute mit Bronze-Streifen in den Rasen gezeichnet. Hier standen die Wohnhäuser, aus denen gesprungen wurde. Dort stand die Kirche, für den Mauerzweck weggesprengt. Ein blühendes Roggenfeld erstreckt sich heute an dieser Stelle. Lerchen tauchen hinein, steigen daraus wieder empor, feiern das Fest der Vergänglichkeit. Alles ist neu hier, das Gras, die Bauten, die nagelneue Tram, die Schulklasse, weit nach 1989 geboren. Doch das Columbarium mit den Bildern der Toten hält uns noch die Vergangenheit fest. Eins-komma-neun Kilometer erstreckte sich dieser Mauerabschnitt entlang der Straße. Dann machte er einen Hasensprung nach links. Ab hier verlief die Mauer wieder bequem auf den Geleisen eines Betriebsgeländes, unterm Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion lang, über den Gleimtunnel hinweg, durch den Bahnhof Bornholmerstraße und endlich hoch nach Waidmannslust. 
Auf dem Stadtplan „Berlin Hauptstadt der DDR“ von 1983 befindet sich auf der anderen Seite der Mauer ein weißer Fleck, mit darin „Westberlin“ geschrieben, als ob der brandenburgische Sand dort schon begann. Der nicht-Osten war demnach ein Ort voller Leerstellen und schraffierter grünen Oasen. ‚Da gibt’s nichts zu sehen‘ deutete dies dem Betrachter an. In Westberlin hing 1983 überall genauso eine Karte, aber dann spiegelverkehrt, mit Kreuzberg, Schöneberg und dem Wedding, aber die Mitte der Hauptstadt existierte darauf nicht. „Brauchen wir nicht“ oder „nicht interessant“, so gab man Fremden zu verstehen. Überhaupt hatte die Mauer hier einen anderen Sinn. „Geh‘ doch nach drüben“, sagten die Nachbarn, wenn‘s ihnen nicht passte. In Kreuzberg diente sie dem Hochziehen von Tomaten und Obst. Künstler machten sich an ihr zu schaffen und zwischen Reichstag und Tor zog sie Touristen in Scharen an. Wer sich einen Weg auf einem der vielen Aussichtsplattforme gebahnt hatte, sah bloß den grünen Streifen mit Kaninchen überall. Von dieser Seite besehen war die Mauer ein Objekt des Hasses, der Wehleidigkeit und der Faszination. Vor allem war sie ein Rummelplatz mit einem einträglichen Gewinn. 
1983 gab es im Westteil die Künstlerin Pat Oleszko, die, nach eingehendem Studium der vorhandenen Aussichtsgelegenheit, den Stadtvätern vorschlug dazu ein Aussichts-Kaninchen dazu zu errichten. Ihr stand vor Augen ein fünf Meter hohes, auf den Hinterpfoten sitzendes Tier, das mit Kopf und Schultern über die Mauer ragen würde. Den Mauertouristen wurde so die Chance geboten, sich im geöffneten Kaninchenmaul dem Kaninchenstudium hinzugeben. So dachte die Künstlerin aus San Francisco Berlin etwas Gutes zu tun. 
Der Plan scheiterte an dem DDR-Grenzbeamten, der für die Errichtung von Plattformen westlich der Mauer stets sein Placet gab. Vielleicht fand er die Vorstellung, noch ein Kaninchen dazu zu bekommen, nicht so betörend wie die Künstlerin? Ein Bauwerk mit zwei Seiten lädt leicht zu mehreren Sichtweisen ein. Für die einen war die Mauer eine feste Burg, mit Wachen auf hohen Türmen, die ihre Landsleute vor dem Schlimmeren zu behüten hatten. Für die anderen war sie ein Objekt der Unverdaulichkeit. Die Künstlerin versuchte es mit einer Vermittlung zwischen beiden. Von Kaninchen zu Kaninchen zu winken entspanne die Mienen, verbessere die Stimmung, sei doch nur für alle gut. Ihr Vorschlag war Ost-West Entspannungspolitik „light“. Den Kaninchen-Aussichtsturm dachte die Künstlerin übrigens im Hasenwinkel zwischen Wedding und den Prenzlauer Berg zu errichten. Vor den Geleisen des Betriebsgeländes gegenüber vom Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion war auf der Wedding-Seite noch genügend Platz. Doch der Vorschlag, einfach wie er war, wurde weiter abgewiesen. Schließlich vertauschte sie Berlin mit San Francisco und errichtete dort wunderbare Werke, nur, Berlin hatte nicht viel davon. 
Wir erreichen jetzt das ehemalige Betriebsgelände, das eine breite Schneise durch die Stadtlandschaft zieht. Linkswinkelig von der Bernauer Straße abzweigend und entleert von allen Funktionen die es im Laufe der Zeit übergestülpt bekommen hat, ist ein wildes Parkgelände mit Spielplätzen für jedes Alter geblieben, mit Schaukelanlagen, Räuberhöhlen, Abenteuergeländen, Klettermauern, Aussichtsfelsen, sogar eine Ziegenfarm ist dabei. An der Westseite des Geländes befindet sich eine Baustelle, die uns leider den Zutritt verbietet. So können wir heute nicht an der Stelle stehen, wo einst das Aussichts-Kaninchen geplant worden war. Aber es geht auch so. Man stelle sich vor: ein fünf Meter hohes Kaninchen. Und versteht sofort, es hätte hier nahtlos hineingepasst. 
An der Ostseite zieht der Mauerweg auf Kopfsteinen nach hinten. Man kommt an allen Spielplätzen vorbei. Durch den Gleimtunnel wieder in den Westen und an den Neubauten entlang durch den Bärbel-Boley-Weg. Kurz vor den Eisenbrücken der Swinemünderstraße stoßen wir doch noch auf Restanten des Betriebsgeländes. Zerfallene Torpfosten aus roten Backsteinziegeln, kaputte Mauerstücke und zwei Reihen Wellblechschuppen, alles von Gerümpel und Pappelwurzeln zersetzt. Sieht aus wie Kriegsgefangenenbaracken. Ja, doch. Auch das ist möglich in Berlin. 
 
Literatur:
https://www.patoleszko.com/home

 
 

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Mittwoch, der 10. Juni – Der Karl-Marx-Platz

6/11/2020

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Wer, vom Ostkreuz herkommend, die Ringbahn an der Sonnenallee verlässt und rechts in Fahrtrichtung in das Viertel eintaucht, steht nach einem zehn-minütigen Spaziergang im Herzen Rixdorfs, auf dem Richardplatz. In den Wirren der Gegenreformation, die Anfang des achtzehnten Jahrhunderts Österreich in eine katholische Bastion verwandelten, fanden böhmische Protestanten an diesem Ort vor den Toren Berlins‘, im damaligen Richarddorf, ein neues Zuhause. Sie tauften es prompt in Český Rixdorf um, tschechisch Rixdorf, und machten sich daran, heimisch zu werden. Brandenburgische Ackerbauer und tschechisch-sprachige Handwerker wohnten fortan am selben Anger und wer den heutigen Richardplatz betrachtet, versteht, dass ihnen die Eingewöhnung gelang. Die Neuankömmlinge waren strenge Observanten in der Schule von Jan Hus, die sesshaften Ackerbauer schlichte Lutheraner, aber sie wussten sich zu arrangieren. Eine Menge Kirchen und Betsäle rundum den Platz zeugen davon, dass damals jede und jeder nach seinem eigenen Facon in den Himmel kommen konnte. „Christus ist mein Leben. Der Tod mein Gewinn“, steht noch immer über dem Hintertor des böhmischen Friedhofes geschrieben. Wer sich auf einer solchen Formel einließ, hatte gute Aussichten.
 
Der Richardplatz hat außerdem Beharrungsvermögen. Das Kopfsteinpflaster auf dem ehemaligen Anger, die Bauernhäuser ringsum, eine Schmiede in der Mitte, eine kleine Dorfkirche noch aus der Ackerbauerzeit: man läuft unter der schwer mit Blüten beladenen Linden und versteht, dass hier ein Dorf sich festgekrallt und die Gewalt der herankriechenden Stadt erfolgreich die Stirn geboten hat. Richarddorf integrierte die tschechischen Neuankömmlinge. Der tschechisch-deutsche Richardplatz hat wiederum die türkischen Neuzuwanderer einen – wenn auch bescheidenen – Platz eingeräumt. Ein Café am Anger offeriert türkischen Kuchen und Pasteten. Der Inhaber lässt das türkische Radio dröhnen und schwarzgewandete Frauen mit heruntergelassenen Mundschutz, ebenfalls in schwarzer Farbe, plaudern vergnügt überm Tisch. So gesehen heute morgen um viertel nach neun.
 
Am Ende des Richardplatzes zweigt der Karl-Marx-Platz in Gestalt einer schmalen Wohnstraße ab. Etwa 50 Meter geht das so, dann weitet die Straße sich in ein spitzes Dreieck, dessen kurze Seite an die Karl-Marx-Straße stößt. Bis 1947 hieß es hier noch Hohenzollernplatz. Dann wurde der Platz zusammen mit der angrenzenden Straße Karl Marx zum Gedenken gewidmet. Was war passiert? Im Ostteil der Stadt hatten sich im Vorjahr die FDJ, KPD und SED gegründet. Auch wurde drüben gerade die Karl-Marx-Allee mit sowjetischem Kapital aus dem Boden gestampft. Der Umgangston zwischen den Berliner Halbstädten war zunehmend rauer geworden. Vielleicht wollten die Westberliner daran erinnern, dass Karl Marx schließlich ein gesamtdeutscher Philosoph sei und als solcher nicht Eigentum der östlichen Stadt? Wo früher das Reiterdenkmal des letzten Hohenzollerns stand steht heute ein Zentaur in Bronze. Für eine Karl-Marx-Büste hat es dann doch nicht mehr gereicht.
 
Am Karl-Marx-Platz finden sich Altes und Neues enger umschlungen als an dem musealen Richardplatz. An diesem Ort schieben sich die historischen Schichten des Viertels wie Eisschollen übereinander: Shisha neben City Casino, Ali, der türkische Frisör neben dem Eingangstor des Böhmischen Gottesackers. Ihnen gegenüber befinden sich ein Trödler, ein Späti, ein Webspace, ein Wasserpfeifengeschäft. Reisebüro Çoban bietet Reisen an die türkischen Riviera an. Heute ist Markttag, in der Mitte türmen sich türkische Gemüse. Der kleine Kiosk bietet Döner an. 
 
Hinter allen Fenstern folgen wachsame Augen meinem Rundgang, sehen zu wie ich  Notizen mache, stellen stillschweigend Vermutungen an. Was ich hier suche, fragt schließlich ein alter Mann mit Wollmütze. Beim Wort Geschichte hellen seine Züge auf. Altes Pflaster! sagt er und weist dabei nach unten. Der arabische Trödler und der türkische Imbissmann hören jedes Wort mit. Was befand sich hier, bevor Sie einzogen? frage ich Ammo der Imbissmann. „Ein türkischer Imbiss“, versichert er mir, „der war vor zwanzig Jahren gewesen“. Das türkische Plusquamperfekt hüpft ihm aus dem Mund heraus und passt sich dem Berliner Dialekt nahtlos an. Der Trödler gibt dazu, „Geschichte? Fragen Sie dem Metzger drüben, der ist schon dreißig Jahre hier, der Älteste am Platz.“
 
Was ich aber suche ist eine Kneipe, die schon seit fünfundfünfzig Jahre verschwunden ist. Uwe Johnson widmete ihr 1965 die Erzählung „Eine Kneipe geht verloren“, und verloren ist sie wohl bis zum heutigen Tag. Es war eine Nachbarschaftskneipe, wie es damals viele davon gab. Schmal, unauffällig zwischen den Schaufenstern größerer Geschäften gelegen, auf der Südseite Berlins, dort wo man nachts die Ringbahn hörte und das Gebrumm der Flugzeuge am Tag, zwischen lauter großen Bürgerhäusern, an einem kleinen Platz mit Wochenmarkt und einem U-Bahnausgang vor der Tür. Johnson macht wie immer präzise Ortsangaben und genau genommen gibt es nur drei solche Orte entlang dem südlichen Ring. An den beiden anderen fehlt der Platz, an diesem liegt der U-Bahnausgang zu weit weg. Vielleicht wollte der Autor uns ein wenig austricksen? Ich schaue mir trotzdem die Geschäfte genauer an. „Zum Heinzelmann“ ist zu behäbig, um Modell zu stehen. Die Kneipen „No Limit“ und „Sportscafé“ sind ebenfalls zu breit. „Schmal wie ein Handtuch“, hatte Johnson seine Kneipe beschrieben, nicht größer als ein Wohnzimmer, zwar mit genügend Raum nach Oben, aber auf dem verschlissenen Linoleum neben dem Tresen nur für acht kleinen Tische Platz. Mein Blick bleibt auf Ammo’s Imbiss ruhen. Wenn irgendwo, so müsste der das Gesuchte sein.
 
1961 wohnten noch keine Türken im Viertel und die Böhmen hatten die tschechische Sprache bereits abgelegt. Geblieben waren Leute, die den Krieg überstanden hatten, Facharbeiter und solche ohne Arbeit, dazu Studenten mit kleinem Portemonnaie. Am 13. August, einem Sonntagmorgen, während die ersten Biertrinker eintrödelten, überbrachte das Kneipenradio die neuesten Nachrichten aus dem anderen Teil der Stadt. Als dann „Augenzeugen noch ein ungefähres Bild der kriegsgefährlichen Linie zusammenstückelten, die im vier, fünf, acht Kilometern Entfernung um die Weststadt gezogen und befestigt wurde“, da entstand in dieser Kneipe spontan eine Verschwörung. Mittags hatte man bereits die nötigen Papiere zusammen. Abends wurde schon die erste Bekannte „rübergeholt“. 
 
So umschreibt Johnson das spontane Hilfsangebot und auch, dass es schon bald teuer und immerzu gefährlicher wurde. Auf der Haben-Seite standen Passfotos die den Trägern ähnlich sahen, Reispässe mit den richtigen Stempeln versehen, dazu kostspielige Auslandreisen und jede Menge Nerven aus Stahl. Auf der Soll-Seite gab es die Grenze „mit Stacheldraht und Maschendraht und Stolperdraht und Hohlblocksteinen und armiertem Beton und ganzen Häusern, mit Stadtbahndämmen und Ufermauern und Rinnsteinkanten und gedachten Linien zwischen Bojen auf dem Wasser“. Vier Jahre hielten die Verschwörer durch, dann gaben sie auf. Die Kneipe sollte verkauft werden. Es folgte ein letzter Abend mit Lokalrunden aus Bier und Sekt, doch „da kamen einige nicht.“ Nicht die Kuriere, die inzwischen in ostdeutschen Gefängnissen auf Lebenszeit einsaßen, nicht die Passagiere, die nachher das Weite gesucht hatten. Vorbei war auch „das Tatmotiv, die Hilfe für den Nächsten“. Alles aus und vorbei. Das Lokal stand nur einige Wochen leer. Dann erschienen im Schaufenster rotierende Grills mit Hühnerleibern. Aus der Kneipe wurde ein Imbiss und somit die geeignete Vorlage für den unbekannten Türken, den Immo der Imbissmann vor zwanzig Jahren abgelöst hat. 
 
An der Basis des spitzen Dreiecks wird der Karl-Marx-Platz von der Karl-Marx-Straße eingegrenzt. Links steht feste die Elisabeth-Kirche, dahinter thronen die steinernen Engeln des Elisabeth-Friedhofes auf ihren Säulen, in der Ferne blinkt die Ringbahn-Überführung in der Sonne. An der gegenüberliegenden Seite der Straße winken ein Goldankauf, eine Apotheke und ein Bekleidungsgeschäft mit arabischer Schrift. Musik-Bading daneben hat schon lange zugemacht, seine Buchstaben sind abmontiert, nur ihr Abdruck ist ihnen geblieben. Wir sind im Herzen Neuköllns angekommen, wo die Mädchen mit flauschigen Kopftüchern flanieren gehen, abends die Jungs ihre Motoren aufheulen lassen, wo arabische Clans die Läden kontrollieren und es regelmäßig Razzien gibt. Wenn die Karl-Marx-Straße die Gegenwart abbildet und der Richardplatz die Vergangenheit, so wirkt der Karl-Marx-Platz wie eine Schleuse zwischen beiden, der Ort, an dem die Wässer angeglichen und es noch Schleusentore gibt. 
 
In der S-Bahn Richtung Schöneberg singt ein Bänkelsänger uns mit klarer Stimme ein Lied vom lieben Geld: „Ich schick‘ dir tausend Euro und denk‘ mir nichts dabei / Ich schick‘ dir tausend Euro und denk‘ mir nichts dabei / Du kannst noch nachzählen, ob es stimmt.“ Als er fertig ist fragt er, „hat es euch gefallen?“ Kopfnicken. Börsen werden geöffnet, Geld hervorgekramt. Zufrieden verlässt er den Zug. So rund kann es gehen. In Berlin. 
 
Literatur:

Uwe Johnson, „Eine Kneipe geht verloren.“ In: Berliner Sachen. Aufsätze (Frankfurt/M: Suhrkamp, 1975), S. 64-95.
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Freitag, der 5. Juni – Berliner Baustellen

6/11/2020

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Heute Nachmittag um halb drei war die Geburt einer neuen Baustelle zu besichtigen. Mitten auf der Uhlandstraße standen zwei Hebekranwagen aufgebockt. Ein Riesenarm schwenkte Betonblöcke durch die Lüfte. Hoch über den Häuser hielt ein anderer Teile eines Baukrans fest. Die Stelle war ringsum mit rot-weißen Absperrungen und Blinklichtern gesichert, aber weiter oben an der Uhlandstraße fehlte noch das runde Stoppschild mit dem roten Rand, das „Einfahrt verboten!“ signalisiert. Und weil das so war, fuhren die Autos in einem endlosen Reigen in die Falle hinein und setzten eins nach dem andern an der Absperrung zurück. Ein Mann mit Bau-Helm und orangener Jacke schwenkte eine Fahne im Regen, damit die Lücke auf der Mitte der Fahrbahn nicht durchlässig, dennoch für den Busverkehr geöffnet blieb. Bus 249 Richtung Roseneck näherte sich gerade von hinten und quetschte sich durch die Lücke hindurch. Anschließend machte der Fahrer einen Slalom um die Doppel-Parker und wich kunstvoll die zurücksetzenden Autos aus. Dann legte er mitten im Chaos die Schaltung wieder hoch. Berliner Busfahrer sind wohl Schlimmeres gewohnt. 
 
Auf meine Frage „Warum jetzt?“ meinte der Kranfahrer, „weil heute morgen die Bewilligung gekommen ist“. Darauf hatten sie lange gewartet, die Leute von dem Hotel, das ein neues Dach bekommen soll, die Leute vom Hoch- und Tiefbau, die dazu die Vorbereitungen treffen sollen, die Zimmerleute, Maurer, Verputzer, Elektriker und Dachdecker, die die Arbeit anschließend im Angriff nehmen werden. Wegen der Corona-Krise saßen sie zweiundeinhalb Monate zuhause fest und nun wollten sie endlich loslegen. „Verstehen Sie?“ Ich verstehe. Solche Probleme habe ich nicht. Ein heftiger Platzregen macht weitere Unterhaltung zunichte. Die Tür zum Fahrhaus schlägt zu. Der Mann mit der Flagge sucht sich ein Stück Pappe, um den Kopf zu schützen. Auf dem Gehsteig spannen die Zuschauer sich die Schirme auf.
 
Was ist eine Berliner Baustelle? Es lässt sich zunächst einmal feststellen, dass es davon viele gibt. Vladimir Nabokov beschrieb 1920 die riesigen schwarzen Rohre die, an der Kante des Bürgersteigs abgelegt, auf Versenkung warteten. Von einem Loch, in dem sie gelegt werden konnten, schrieb er aber nicht. Beim Wiederlesen der Stelle wird mir klar, dass ein passendes Loch noch gehoben werden musste. Aber 2020 sind die Straßen Berlins mit Löchern nur so übersät. Wie viele Baustellen es gibt kann niemand mehr beziffern. Das Stromnetz teilte mit, im Jahr für 600 größere und 5.000 Kleinstbaustellen verantwortlich zu sein. Das Fernwärmenetz, die Berliner Verkehrsbetriebe, die Wasserbetriebe und die Telekom zählen jeder für sich noch eine Menge dazu. Hinzu kommen die privaten Baustellen, die, um doppeltes Aufreißen zu vermeiden, in einen Baustellenatlas eingetragen werden sollten. Die Stadtverwaltung, die dafür verantwortlich ist, hat jedoch verlautbaren lassen, sie komme wegen dem Andrang nicht mehr mit. 
 
Ein kurzer Gang durch das Viertel nützt eine Baustellen-Bestandaufnahme im näheren Kreis. Ich laufe von der Uhland- in die Ludwigkirchstraße hinein und sehe nach 200 Metern schon den nächsten Ort. Entlang der Pfalzburgerstraße und quer über den Ludwigkirch Platz stehen rot-weiße Absperrungen auf dem Gehsteig, orangene Blinklichter reichlich darauf. Im abgesperrten Raum direkt an der Ecke gibt es im Innern ein kleines mit Brettern gestütztes Loch. Weiter hinten jedoch scheint das Pflaster noch ganz unversehrt. Ich folge der Absperrung ca. 300 Meter Richtung Düsseldorferstraße, bis ich im letzten Viertel auf eine Gruppe Straßenpflasterer mit einer kleinen Stampfmaschine stoße. Der Abschnitt zur Düsseldorferstraße wird zum Wochenende wieder zugemacht, der Berliner Sand feste zusammengestampft und die Gehsteigplatten darauf zurückgelegt. Ein Stapel Absperrgitter wartet an der Kante noch auf Abholung. „Wofür ist das?“ frage ich in die Runde. Der Vormann klärt mich auf: „Junge Frau! Das ist ganz einfach! Die Straßenlaternen müssen von Gas auf Elektrizität umgestellt!“ Sein Arbeitertrupp ist für das Auf- und Zumachen der Erde verantwortlich. Wie lange es zwischen beiden dauert, das hängt von der GASAG ab, wie viel Zeit sie braucht, um den Strang abzuschließen, von der Berliner Elektrizität, die die neuen Stromkabel dadurch ziehen muss. So arbeiten sie sich schon seit fünf Jahre quer durch die Stadt. 6.500 Kilometer werden es am Ende sein und somit stehe ich hier vor der längsten Baustelle Berlins. Ich bedanke mich für die Information und begebe mich auf die Suche nach dem nächsten Ort.
 
Die nächste Brache gähnt, gar nicht so weit von der letzten entfernt, an der Ecke Düsseldorferstraße und Hohenzollerndamm. Für diese Baustelle wurde der Fahrdamm aufgerissen und der Sand bis zu zwei Metern tief entfernt. Eine orangene Grabmaschine steht neben dem Loch, das ringsum mit Brettern abgestützt worden ist. Eine Leiter ragt daraus empor. Die Stelle wurde mit hohen Gitterzäunen gesichert. Die rot-weiße Absperrstreifen stehen davor. Auf dem Mittelstreifen des Hohenzollerndamms warten bereits nagelneue Rohre auf ihre Verwendung. PA 22 630 X 37,4 - 22.01.20 steht mit Kreide auf einer der Rohre geschrieben. 630 Zentimeter Durchschnitt bieten eine Menge Platz. Wenn vor den Löchern keine Kappen aufgeschraubt wären, könnte ein Mensch für die Nacht sein Lager darin machen. Das Datum ist noch aus Vor-Corona Zeiten und seitdem ist hier nicht allzu viel mehr passiert. Auf Nachfrage gibt die Besitzerin des angrenzenden Kaffees zu Protokoll, dass ab und zu noch ein Arbeiter gesichtet wurde, der nach den Maschinen sah. Wie lange es noch dauern wird, hatte sie ihn mal gefragt. Der habe aber die Schultern gezuckt und sie auf die Stadt verwiesen: „Fragen Sie die Bürokratie!“
 
Himmelsblaue Rohre von 30 Zentimeter Durchschnitt laufen hinter den Kaffeetischen an der Bordsteinkante entlang, erheben sich an der Kreuzung zur Fasanenstraße in die Luft, bilden eine kantige Pforte für den Verkehr und legen sich anschließend wieder ins Gras. Ich folge ihnen dem Hohenzollerndamm entlang bis zur Bundesallee, eine Strecke von knapp 400 Meter. Dort erheben sie sich nach links über den Fahrdamm, um sich anschließend im nächsten Bau Loch zu versenken. Damit ist die nächste Baustelle erreicht. Die vierzig Baucontainer auf dem Mittelstreifen deuten schon an, dass es sich diesmal um ein größeres Bauunternehmen handelt. Tatsächlich gähnt hinter dem Bauzaun, der an der Ecke Hohenzollerndamm und Bundesallee beginnt, wieder eine Brache. Diesmal ist es ein ganz tiefes Loch. Es ist von hohen Gitterzäunen umgeben, über die hier und dort grüne Netze gehängt worden sind. Zwei ganze Häuserblocks sind im Loch verschwunden. Ich erblicke verlassene Grabmaschinen in vier Metern Tiefe. Auf der Kante wo es heruntergeht stehen noch Abfallcontainer und eine Reihe Dixi-Klos. Die beiseite geworfenen Sandhaufen sind rundherum mit Abfallsäcken und Müll bedeckt. Seit Anfang des Jahres ist das hier der Status quo. 
 
Ich blicke noch einmal über die breite Kreuzung, wo auf der anderen Seite gleich zwei neue Baustellen beginnen, die eine links, direkt vor der Investitionsbank, die andere rechts, an der Ecke, an der ein neues Gebäude sich in die Luft erhebt. Dann entscheide ich mich doch dafür, die hiesige Brache näher zu betrachten und stapfe links in die Bundesallee. Die Brandmauern der Häuser der Pariserstraße sind von hier aus gut zu sehen. Doch das grüne Tuch versperrt vieles anderes den Blick. Was die da unten wohl machen? Ein Spanntuch am Zaun verschafft den Überblick: „Abbruch. Entkernung. Erdarbeiten. Schadstoffrückbau. Altlastensanierung und Vieles mehr...“. 
 
Immer stand an dieser Ecke ein Monstrum von einem Bürogebäude – braunes Rauchglas und Metall - mit dem in den 1980er Jahren vorzugsweise ausgebombte Lücken gefüllt wurden. Nun ist es endlich abgerissen worden, Asbest und Erde sind bereits entsorgt. Das Gelände ist bereitet für das, was kommt, das zukünftige Berlin. Die Tiefe des Lochs lässt indes vermuten, dass es in Zukunft hoch hinaus gehen wird. Was die Stadt sich wohl diesmal hat einfallen lassen? „Wohnen an der Bundesallee“ etwa? Oder „Der Spichernpalast“, ganz nach dem Geschmack der Zeit? Ein einsamer Bagger arbeitet sich noch weit hinten in Richtung Meier-Otto-Straße vor. Sonst ist dort niemand zu finden, in der ganzen Brache nicht, der meine Frage hätte beantworten können. 
 
Vom U-Bahnausgang Spichernstraße führt ein provisorischer Fußweg durch die Baustelle. Wer auf diese Weise die Pariserstraße betritt, kann kurz nacheinander noch folgende Baustellen in Augenschau nehmen: eine Absperrung rundum einer Laterne, eine zweite an einem Hauseingang, schließlich an der Fasanenstraße ein langgestrecktes Gehege, das lediglich ein paar Baubretter und ein neues Dixi-Klo umfasst. Das Männchen kneift die Oberschenkel zusammen. Das Weibchen hält die Hände schützend vors Geschlecht. Auf dem Dixi-Wort stehen Herzchen statt Punkte. Niedlich. Doch hilft es alles nichts. Die Dinger riechen doch. Dann steht man unvermittelt wieder auf der Uhlandstraße. Rechterhand ragen wieder die Hebekräne empor. Das war eine Runde von 2.200 Schritten oder knapp 1.5 Kilometer, während der ich den Anblick einer Baustelle nie ganz aus den Augen verlor. 
 
Später am Mittag kehre ich noch einmal zu den Hebekränen zurück. Die letzten Betonteile werden gerade über die Dächer geschwungen und ich stelle fest, es handelt sich nicht um einen, sondern um zwei Kräne, die hinter den Häuserzeilen aufgebaut worden sind. Rechts ragt einer hinter dem Hotel empor. Der andere steht auf der gegenüberliegenden Seite hinter dem blauen Wohnblock, in dem auch zwei Märkte untergebracht worden sind. Auf dem Gehsteig sind inzwischen auch die Baucontainer abgesetzt worden, vier auf einander gestapelten grauen Kästen mit einer Treppe davor. Klos, Bauzäune und Hölzer stehen ordentlich daneben gestapelt. Wenn die Hebekräne einmal verschwunden sind wird hier eine beachtliche Baustelle zurückbleiben, die seine Zeit wohl dauern wird.
 
In der Nacht denke ich an die vielen Rohre und Kabel, auf die ich tagsüber meine Füße setze. Die breiten Abflussrohre und die Abwasserrohre, in denen unsere Abfälle fortgeschwemmt werden; die schmalere Rohrverbindungen, die das Trinkwasser bis oben in die Wohnung bringen; die Röhrchen mit Elektrokabeln und den Kabeln der Telecom, zu denen unser Zugang zur digitalen Welt an einem dünnen Faden hängt; das alte Rohrgeflecht der Berliner Gasversorgung, - erwies sich das nicht als marode, als Anfang der 1990er Jahren russisches Gas den Druck erhöhen kam? Nicht zu vergessen die Fernwärme. Wie geht die denn von statten? Heiße Luft durch ein Rohr, nehme ich mal an. Vor meinem inneren Auge steigt eine Stadt unter der Stadt auf, eine Unterwelt, die für die obere die Grundlagen zu Verfügung stellt.  Ich stelle mich sie vor, ihre Schwärze und ihren Geruch, wie sie unablässig rauscht und brummt und blaue Funken schlägt. Ist dort der Ort, wo auch die Ratten wohnen? Gibt es nicht überall diese kleine Erdeingängen, von Gitter bedeckt, wohin sich im Sommer die Steckmücken sammeln und die schwarze Krähenschar nach Essbarem schielt? 
 
Wir Stadtbewohner alle, die wir uns ernähren aus derselben Unterwelt, die einen mit Essen, die anderen mit Wasser und Licht, was wissen wir schon davon, was sich unter unseren Füßen abspielt? Berliner mögen sich über die Baustellen ärgern. Sie mögen sie belächeln oder deftig beschimpfen. Dennoch sind sie es, die Zutritt zu einer Unterwelt verschaffen, die für das obere Wachsen schlicht unabdingbar ist. Baustellen sind Übergangsorte, wie es kaum Vergleichbare gibt. 
 
Literatur:
 
Vladimir Nabokov, „Stadtführer Berlin“. In: Stadtführer Berlin. Fünf Erzählungen (Stuttgart: Reclam, 1985), S. 3.
 
 
 


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Mittwoch, der 17. Mai - Die Friedhöfe am Halleschen Tor

6/5/2020

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Südstern an einem lauen Sommertag. Aus der U-Bahn kommend steht man hinter der grauen Kirche, die von breiten Straßen umgeben ist. Geradedurch geht die Gneisenauer Straße Richtung Mehringdamm und Schöneberg. Links davon liegt der Bergmann-Kiez, genannt nach der Hauptstraße, der dem Kiez sein Flair verliehen hat. Die heutige Route geht quer durch den Bergmann-Kiez, von den Friedhöfen an der Bergmannstraße bis zum Halleschen Tor, wo ein zweites Friedhofs-Grundstück verborgen liegt. Hinter der Kirche führt ein Trampelpfad Richtung Bergmannstraße. Das Getreide, das überall in Berlin die Blumenbeeten ersetzt hat, biegt sich geschmeidig im Wind. 
 
Am Anfang der Bergmannstraße erstrecken sich linkerhand die Friedhöfe ca. 500 Meter an der Straße entlang bis zum Marheinekeplatz. Wir befinden uns auf altes Gelände. Seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurden hier die Toten der Jerusalem- und neuen Kirchgemeinde, der Friedrich-Werderschen Kirchgemeinde und der Dreifaltigkeitsgemeinde beigesetzt, bis die Mauer sie von ihren Friedhöfen abschnitt. In der Mauerzeit verwaltete West-Berlin die Grundstücke und erweiterte ihre Benützung für Anwohnende. Es sind noch immer drei Friedhöfe, voneinander zwar durch hohe Mauer getrennt, aber zur Straße hin erlauben sie ungewöhnliche Einblicke. Man schaut durch die verrosteten Gitterstäbe auf Steine und griechische Kapellen, die ihr Antlitz der Straße zugewandt haben. An der Kapelle der Jerusalem- und neuen Kirchgemeinde, die einst in den Dom gegenüber vom Berliner Schloss zur Kirche ging, steht geschrieben, „es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes.“ Paulus‘ Brief an die Hebräer, Vers 4,9. Es ist ein imposantes Gebäude aus rotem Backstein mit einer Treppe und vier rot-marmoren Säulen, welche den Trauernden einen zeremoniellen Eintritt in die Halle erlauben. Eine Allee aus Eichen lädt zum Verweilen ein. Das Goethe-Wort „Über alle Gipfeln ist Ruh‘“ ist hier am Platz.
 
Am Eingang des Friedrich-Werderschen Kirchhofes warten acht schwarz-gekleidete Herren auf Kundschaft. Die lässt auf sich warten. Verstohlen rauchen sie noch eine und ziehen kurz die Jacken aus. Die Türen der Kapelle stehen weit geöffnet, Licht flutet von oben herein. Ein Engel badet am Eingang in einer grünen Oberlichtbrechung. Direkt daneben, im anderen Teil der Kapelle, macht eine Kaffeerösterei regen Geschäfte, nur durch ein Gartentürchen vom Begräbnis-Geschehen getrennt. Hier ist der Kiez zuhause, sitzt in der Sonne bei Kaffee und Zeitung und genießt die Ruhe. Geredet wird nur wenig. Der Duft der Kaffee erfüllt die Sommerluft. Irgendwann hört man das Knirschen vieler Schuhe auf dem Kies: Die erwartete Begräbnisgesellschaft ist offensichtlich endlich eingetroffen.
 
Am Eingang der Dreifaltigkeitsgemeinde, Bergmannstraße 29, warten Mütter mit Kinderwagen und einer ganzen Kinderschar, bis sie vollzählig beisammen sind. Dann strömen alle in die Kastanienallee, die von der Friedhofskapelle ins Friedhofsinnere führt. Auch auf diesem Friedhof ist der Kiez zuhause. Er ist für sie zum Spazieren, Spielen und Schwatzen da. Im Aushang am Tor werden zudem Kurse angeboten: „Die Kunst des Abschieds“ und „Gräber schmücken“ sind Fertigkeiten, die man hier erlernen kann. 
 
In der Grünanlage am Marheinekeplatz sitzt die Kiez-Szene zusammen und trinkt ein morgendliches Bier. Ich bleibe stehen und schaue hin. Ein blasser Mann im Unterhemd kommt mit schwingenden Armen auf mich zu. „Mal ‚ne Frage! Was machen Sie da gerade? Haben Sie uns eben durchgezählt?“ Ihn begleitet ein älterer Herr mit einer Kola-Flasche in der Hand. Er nickt bestätigend. „Ich frage“, nimmt der erste den Faden wieder auf, „weil, manche hier meinen, ‚das Gesindel muss weg‘. Das ist eine Unverschämtheit! Wir sitzen hier einfach ganz friedlich in der Sonne und unterhalten uns, statt in der Bude zu hocken.“ Nach dieser Ansprache kommt der Redestrom ins Stottern. „Das hier ist mein Kumpel“, sagt er noch und weist mit der Hand auf den älteren Herr. Ich zeige ihnen meine schnelle Skizze vom Platz und erkläre, was ich mache. Aha. Nein, auf den Friedhof gehen sie eher nicht. „Wir doch nicht!“ Wir grüßen uns recht freundlich zum Abschied.
 
In der angrenzenden Markthalle ist noch wenig Betrieb. Aber die Zeichen stehen auf einen für später erwarteten Groß-Verkauf. Es stapeln sich die Käse und Würste in den Auslagen und die Obstbecher stehen hoch aufgetürmt vor den Ständen. Im Vorbeigehen notiere ich: Die Preise sind tatsächlich nicht Jedermann‘s Sache. Der Tee, der Kaffee, das Eis und die Süßigkeiten, alles für ein gut gefülltes Portemonnaie gedacht.
 
Am Ausgang der Halle, dort wo die Bettlerinnen sind, geht es rechtsherum in die Zossener Straße. Es schlägt gerade Mittag und wer mitten auf dem Fahrdamm geht, sieht am Ende der Straße das rote Ungetüm der Heilig-Kreuz Kirche wie eine Fata Morgana über die Häuser aufgetürmt. Entlang der Straße ist ein gediegener türkisch-sprachiger Mittelstand zuhause. Auch Inder, Nepalesen, Spanier und ein Thai, das „Backhaus Liberda“, die Kosmetik „bei Ismael“, ein Samen- und Nussgeschäft, ein Mini-Market sowie Flügel und Klaviere zum An- und Verkauf tragen ihr Steinchen zur Infrastruktur bei. Diese Straße muss gänzlich ohne Bäume auskommen, dafür ist sie mit vielen Baustellen ausgestattet. Wenn der Autoverkehr wieder voll dahin brummen wird könnte es hier stressig sein. Der ganzen rechten Häuserzeile fehlt es zudem an Balkonen. Torbögen geben in regelmäßigen Abständen den Blick auf hinter einander gelegene Hinterhöfe frei. Dort wo früher die Handwerken zuhause waren wohnen jetzt die arrivierten Zuwanderer.  Vielleicht sind hier die Mieten noch erträglich? Obwohl. Der Bergmannkiez. Mir kommt ein leiser Zweifel, ob.
 
Am Ende der Zossener Straße geht links die Baruther Straße ab, deren hervorstechendstes Merkmal die Graffiti-bewährte Außenmauer der „Friedhöfe am Halleschen Tor“ ist. Dieser Friedhofskomplex hängt eng mit jenem an der Bergmannstraße zusammen. Um 1800 wurden hier schon rege Gräber ausgehoben. Als sich das Gelände dann langsam füllte, kauften die Kirchgemeinden die Felder an der Bergmannstraße dazu. Die Graffitiwand erstreckt sich indes von der Zossener Straße bis zum Mehringdamm. Große blaue und silberner Muster bieten sich dem Betrachter, auch schwarze Glyphen und Kringel darunter, aber Bildliches ist nicht dabei. Man sieht bloß, dass die Sprühfarbe nicht gut an den Kalk- und Sandstein-Quadern haftet, aus denen diese Mauer einst geformt worden ist. Das war bereits Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Vielleicht ist sie sogar eine der ältesten Gemäuer Berlins. 
 
Über die Graffiti-Mauer ragen manchmal recht große Denkmäler empor, Tempel mit einem Kreuz auf dem Dach, auch griechische Zinnen aus rotem Ton, im Krieg kaputt geschossen und im Laufe der Zeit mit Goldrute überwuchert. Ich passiere einen  verschlossenen Hintereingang. Das offizielle Eingangstor befindet sich ganz auf der anderen Seite, am Mehringdamm neben der Friedhofskapelle, in der der Sarg Rahel Levins‘ von 1833 bis 1864 über die Erde stand. Die damalige Friedhofsverwaltung empfahl sich nämlich mit einer neuen Maschine, die Scheintote aufzuwecken wusste. Und da dies Rahel‘s letzter Wunsch gewesen war, wurde ihr Leichnam der Machination ausgesetzt. Warum sie hernach für so lange Zeit nicht unter die Erde gebracht wurde bleibt ein Mysterium, das wahrscheinlich nur ihre Nächsten lösen können.
 
Wer die „Friedhöfe am Halleschen Tor“ betritt, steht sogleich auf dem Jerusalem- und neuen Kirchfriedhof. Das war also der Todesacker der Domgemeinde gegenüber vom Berliner Schloss. 1734 kaufte die Gemeinde hier ihr erstes Grundstück außerhalb der Stadtmauer, den Jerusalem- und neuen Kirchfriedhof I, der hinten auf dem Grundstück an der Baruther Straße ausgestreckt liegt. Was den Besucher dort erwartet ist Berliner Geschichte aus der Zeit, als es noch ein König und ein Schloss dazu gab. Entlang der Alleen und in den Ilex-Wucherungen ragen überall Griechische Tempel, barocke Engel und Säulengänge empor. Man liest die Namen und realisiert sich allmählich, dass der Hofstaat, die Kammergerichtsräte und die Professoren der Akademie alle zu dieser Gemeinde gehörten und hier versammelt sind. Auf diesem Friedhof liegen Generationen Damen und Herren vom Hofe sowie die Spitze des preußischen Beamtentums standesgemäß begraben. Die Friedhofsverwaltung sorgte über Jahrhunderte dafür, dass dieses Ensemble auch so erhalten blieb. 
 
In der Mitte, an drei Seiten von den Domleuten umgeben, aber dennoch durch hohe Mauern von ihnen getrennt, befindet sich seit 1734 der Dreifaltigkeitsfriedhof. Er umfasst die schlichten Kreuze und Steine, unter denen die letzten Aufklärer gebettet worden sind. Einst gehörte dieser Friedhof zur Dreifaltigkeitsgemeinde. Die Kirche existiert heute jedoch nur noch auf dem Papier. Sie stand lange in der Friedrichstadt an der Mauer- Ecke Kronenstraße. Ihre Prediger, darunter Friedrich Schleiermacher, wohnten eine Häuserzeile weiter in den noch erhaltenen Häusern aus der Hugenottenzeit. Schleiermacher war ein Aufklärer und in den Salons zuhause und seine Gemeinde war es ebenso. Um 1800 kaufte die Dreifaltigkeitsgemeinde diese Begräbnisstätte am damaligen Stadtrand, am Ende der Friedrichstadt gegenüber von der Belle Alliance. Es war ein von Mauern umschlossener Hof, der nicht mehr als 80 x 80 Meter misst und heute mit Abstand der kleinste Friedhof in Berlin. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erwarb die Gemeinde dann noch einen zweiten Friedhof an der Bergmannstraße und brachte fortan ihre Tote dorthin. Und so kommt es, dass auf dem kleinsten Friedhof Berlins überwiegend Tote liegen, die vor 1850 begraben worden sind.
 
„Religion ist ein Gefühl“ sagte Schleiermacher von der Kanzel und er zog mit seinen Aussprachen ein außergewöhnliches Publikum an. Das von ihm benannte Gefühl schaffte gleitende Übergänge zwischen den Konfessionen, zwischen Protestanten und Katholiken und zwischen Juden- und Christentum. In diesem Hof liegt seitdem beisammen wer sich davon inspirieren ließ: Moritz, Ludwig und Clara Louise Heine, Rahel und Karl August Varnhagen, der geniale Felix Mendelsohn, die Komponistin Fanny Hensel und Wilhelm Hensel, der Bildhauer. Schleiermacher’s Gemeinde war eine Gemeinschaft von Aufklärern, von Männern und Frauen, von Schriftstellern, Bildhauern und Komponisten, von getauften Juden und jüdisch-christlichen Ehen. Auf dem kleinsten Friedhof Berlins haben sie bis heute ihre Annäherung bewahrt. 
 
Die Berliner Friedhofstopographie trennte für gewöhnlich entlang den Linien der Konfessionen. Nur hier brechen die Trennlinien ein wenig auf. Auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde, immer strikt von der Domgemeinde getrennt, liegen getaufte Juden und Christen zusammen. Nicht allen Berlinern gefiel das damals, und ihre Ablehnung wirkt bis heute noch fort. Einen Notiz am Familiengrab der Mendelsohns, zugleich eine Ausstellungs- und Gedenkstätte, ist zu entnehmen, dass die Stätte vor einem halben Jahr mit Hakenkreuzen beschmiert worden ist. 
 
Auf Berliner Friedhöfen bleiben Gruppen, die sich im Leben gebildet haben, auch im Tod zusammen. 224 Friedhöfe auf tausend Hektare Grünfläche sorgen dafür, dass das auch so bleibt. Am Mehringdamm und an der Bergmannstraße fanden die Dom-, die Friedrich Werdersche- und die Dreifaltigkeitsgemeinde ihren Platz unter der Erde. Die Hugenotten in der Friedrichstadt kauften ihr Grundstück auf dem Dorotheenfriedhof. Die ersten fünfzig jüdischen Familien, die von Wien nach Berlin übersiedelten, verfügten über einen Friedhof an der Großen Hamburger Straße. Die Osmanen und Türken betten seit 1790 in der Hasenheide auf einem Gelände, das Friedrich III ihnen eigens dafür überließ. Die Russen zog es hundert Jahre später nach Tegel in die Wittestraße. 
 
Um 1900 wurde die Vorherrschaft der konfessionellen Gemeinschaften von den städtischen Friedhöfen gebrochen. Es bildeten sich die Kiezgemeinschaften in Gartenanlagen, die uns heute erzählen, wer einst dort lebte und den Ton angab. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts folgten die Urnenfelder und anonyme Gemeinschaftsgräber. Die Gewohnheit, die Namen der Verstorbenen dazu zu schreiben verlor an Popularität. Aber auch diese Toten sind im Tode längst eine neue Gemeinschaft eingegangen: Ihre Knochen und Asche haben sich bis zur Unkenntlichkeit vermischt.
 
Es gibt auf den Friedhöfen am Halleschen Tor nur wenige Besucher, obwohl es doch an dieser Stelle keine bessere Grünanlage gibt. Eine Gärtner wässert die Blumen am Eingang. Zwei Polizisten laufen Streife durch die Allee. Eine Dame steckt grüßend ihren Schaufel hoch. Die Toten verhalten sich mucksmäusestill. Ruhe ringsum. Wer will noch an sie denken? Berliner Friedhöfe waren doch immer auch Orte der Erinnerung. Fragt sich nur, wer welche Erinnerung sucht. Lev Nussimbaum erzählt uns von den russischen Migranten, den Hofdamen, Adeligen und Gardeoffizieren, die in den 1920er Jahren  in Tegel zwischen den Gräbern spazieren gingen, sich gegenseitig die Inschriften von alten Bekannten vorlasen und wehmütig dem Glanz des Zarenhofes nachtrauerten. In der Hasenheide wurden die Gräber der vor hundert Jahren in Berlin ermordeten „Jungtürken“ neulich zu Märtyrer-Gräber ausgebaut und ihren Namen mit goldener Tinte ausgeschmückt. Mehmet Talat, 1922 erschossen an der Hardenbergstraße, Djamal Azmi und Bahaettin Shakir, kurze Zeit später mitten auf der Uhlandstraße dahingemordet, - sie sind an diesem Ort bekannte Persönlichkeiten, denen regelmäßig Respekt gezollt wird. So rege geht es auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof nicht zu. Aber auch die Neo-Nazis, die neulich das Erbbegräbnis der Mendelsohns schändeten, hatten zumindest den Namen „Mendelsohn“ schon mal gehört.
 
Literatur
 
Gerhard Höpp, „Bestattung von Muslimen in Berlin“. In: Gerhard Höpp und Gerdien Jonker (Hg.), In Fremder Erde (Berlin: Das arabische Buch, 1996), 18-43.
 
Lev Nussimbaum (Essad Bey), Das weiße Russland (Berlin: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1930), 79-80.
 
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Samstag, der 23. Mai, Die Friedrichstadt

5/25/2020

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Die fehlende Öffentlichkeit bekümmert mich zunehmend. Zwar gibt es nach wie vor den öffentlichen Raum, gibt es die Berliner Straßen und Plätze, wo man sich im Augenblick in Slalom ausweicht oder aber auf Konfrontationskurs geht. Es gibt die Wochenmärkte, wo man sich grüßt und über Abstände hinweg Gespräche führt. Seit der 22. April gibt es auch wieder die Läden, in denen man verhüllt um Mund und Nase einen verschluckten Austausch pflegen kann. Und seit einer Woche ist da noch die kleine Öffentlichkeit hinzugekommen: die Lokale, die mit Stühlen und Tischen im Freien werben. Bei Letzteren geht es ums gemeinsame Essen, um das gemeinsame Anstoßen, und vor allem um das gemeinsame Reden bei Tisch, kurzum, um die private Geselligkeit im öffentlichen Raum. Was aber schmerzlich fehlt sind die Orte, wo man das Eigene und das Dritte mit Unbekannten teilt; wo vorgetragen, diskutiert, musiziert, inszeniert, gespielt, aufgeführt, unterrichtet, vermittelt und demonstriert wird; wo Ungeahntes und Meinungen, die nicht unbedingt die eigenen sind, gehört werden können; wo man sich unter Umständen schütteln lässt; von wo man anders nachhause kommt als dass man vorher hingegangen ist. Das alles gehörte früher zur Öffentlichkeit. Es ist sie, die jetzt überall fehlt.
Am Anfang dieser Öffentlichkeit stand die öffentliche Geselligkeit, nicht nur, aber auch in Berlin. Um 1800 kamen die Berliner zum ersten Mal bei Tee und Rum zusammen, um sich im größeren Kreis auszutauschen. Zu den Anfangsbedingungen gehörten ein privates Empfangszimmer, eine Gastgeberin, junge Leute aus verschiedenen Gesellschaftsschichten die sich neugierig waren, sowie die gemeinsame Überzeugung, dass man sich im Gedankenaustausch weiterbilden könne, dass man sogar gemeinsame Ideen und Vorstellungen entwickeln könne, die dem Land voran helfen würden. Das war der Salon. Von Demokratie war da noch nicht die Rede, man tauschte sich lediglich aus. Daraus erwuchsen im Laufe der Zeit die Vereine, die Lesegesellschaften, die Frauen- und Jugendbewegungen, die Parteien und die Gewerkschaften, in denen der Gedankenaustausch gepflegt wurde. In jüngerer Zeit kamen da noch die halb-öffentlichen Orte hinzu, an denen gelehrt und gelernt und in Konflikten vermittelt wurde; wo man zusammensaß, die Körpersprache des anderen las und versuchte, eine gemeinsame Ebene zu finden.  Was hatten die Tee und Rumtrinker bloß angestellt, dass sie eine solche Bandbreite entfachten? Und gibt es einen Hebel, um den Prozess wieder im Gang zu setzen? Es ist an die Zeit, sich auf die Suche zu begeben.
Wo lässt sich in Berlin nach Spuren öffentlicher Geselligkeit suchen? Eine Möglichkeit ist es, Menschen auf der Straße – Müßiggängern, Shoppern, Terrassenbesuchern - zuzuschauen, um in Erfahrung zu bringen, was sie mit ihrer Freiheit tun. Eine andere ist die Suche nach Orten, wo die Berliner Geselligkeit einst einen Anfang nahm, wo Brüche und Umbrüche stattfanden, wie sie uns jetzt auch ins Haus stehen. Beide waren früher in der Friedrichstadt zuhause. Ich begebe mich dorthin, um einmal nachzuschauen
Der Tag der Erkundung ist ein Samstag und die Uhrzeit 12.00 mittags. Die Route ist vorher festgelegt. Start ist das kurze Stück der Mauerstraße, das von der Leipzigerstraße in das Viertel sticht. Von dort geht es durch die Kronen-, Mohren-, Tauben-, Jäger-, Französische- und Behrenstraße, bis alles restlos durchquert worden ist. Insgesamt kreuzt die Route sechs Mal die Friedrich-, die Charlotten- und die Markengrafenstraße und wird an zehn Straßenecken eine Kurve von 90 Grad gemacht. Als Endpunkt ist die verlängerte Behrenstraße an der Ecke zum Tiergarten bestimmt. Es ist also kein Flanieren, sondern eine strikte Erkundung, die hier begangen wird. 
Was in der Friedrichstadt zuallererst ins Auge springt ist sein eigenartiges Spielbrettmuster, das seine Prägung von einem König empfing. Um 1700 entwarf Friedrich I das Viertel zwischen der Akzisemauer (eine Berliner Besonderheit) und dem Wall, der damals noch den Schlossbezirk umlief. Damit der Handel in Berlin Aufwind bekommen würde, hatte er Migranten aus Frankreich und der Schweiz zu sich geladen. Als sie dann kamen und auch irgendwo wohnen sollten, zeichnete er schlichte Linien in den brandenburgischen Sand. Gemessen wurden 800 x 800 Meter, oben von der Stadtmauer und unten von der Landstraße nach Leipzig begrenzt, darin senkrecht die Mauer-, Friedrich-, Charlotten- und Markgrafenstraße und horizontal die Behren-, Jäger-, Tauben-, Mohren- und Kronenstraße. Daraus ergaben sich längliche Baublöcke, militärisch in Reih und Glied. Das Viertel selber wurde von den Migranten errichtet. Sie wäre mit Recht das Franzosenviertel getauft. Aber Mitspracherecht in solchen Dingen hatten die Migranten mitnichten. Also wurde eine Friedrichstadt daraus. In ihrer Mitte errichteten sie eine französische und eine schweizerische Kirche, das Konzerthaus dazwischen und die Akademie der Wissenschaften gerade gegenüber. Im zweiten Weltkrieg ist zwar alles kaputt gegangen, aber heute sieht es auf dem Gendarmenmarkt wieder genauso aus. 
Von den 1.054 Häusern, die die Franzosen errichteten, stehen heute genau noch drei. Das ist das Karree mit den gelben Pfarrhäusern Ecke Tauben- und Mauer- (heute Glinka-) Straße. Wer das Viertel abschreitet findet stattdessen Neu-Gotik und DDR Plattenbauten in trauter Zweisamkeit, dazwischen kleine Empirehäuser mit griechischem Ornament, neu errichtete Appartementgebäude für Diplomaten und höhere Beamte, dazu noch ein paar letzte Lücken mit umkleideten Baukonstruktionen. Bundesministerien, Bildungsakademien, Stiftungen, Hotels, Immobilienunternehmen, Sportzentren und Autovermietungen haben sich in das Viertel eingenistet und verleihen dem Ganzen einen Eindruck von Unbewohntheit. Dennoch. Bei früheren Besuchen waren die Straßen immer voll.
Entlang der Straßen finden sich zwar viele Kaffeehäuser und Lokale, an diesem Tag aber sind sie fast alle leer. In der Friedrichstraße wirken die Läden verlassen. An diesem Samstag fährt kein Auto, geht kaum ein Mensch dahin. Auf dem Hausvogteiplatz ist statt Autoreifen ein Plätschern zu hören und die Tauben, die am Brunnen sitzen, gurren laut vor sich hin. Ein dicker Taubengeruch erfüllt die Luft. Die Kronenstraße durch, in die Mohrenstraße herein, über die Taubenstraße wieder zurück: das Bild bleibt sich gleich, abwechseln tun sich nur die Häuserfronten. ‚Verkündung der Reisefreiheit‘ steht irgendwo im Fenster geschrieben. Gemeint ist aber die von 1989, nicht die Herbeigesehnte für den kommenden Sommer. Bummeln – die kleine Reisefreiheit - scheinen hier nur wenige wahrzunehmen. Es fehlen die Anwohnenden. Es fehlt auch das große Berliner Publikum. Auch wenn Touristen erst nächste Woche wieder Berlin besuchen dürfen, - wo sind die Berliner denn alle hin? Mir kommt ein düsteres Bild davon, wie sie zuhause gerade die elektronischen Bestellungen abschicken um sich anschließend wieder in die Kachelkommunikation zu versenken (so hat Ines Geipel die um sich greifenden Bildschirmkonferenzen genannt). Diese taubengurrende Leere - wird das die Stadt der Zukunft sein?  
Rechts oben in der Ecke, am Ende der französischen Straße, steht verlassen in der Sonne die Barenboim-Said Akademie. Der Eingang zum Konzertsaal ist verschlossen, aber aus den oberen Fenstern weht Musik. Es wird noch geübt in der Akademie, Hörner und ein Cello klingen hinüber. Wann wird denn wieder die Eröffnung sein? Bis dass die Öffentlichkeit aufhörte zu existieren machte die Akademie uns vor, was keine andere vermag: sie koordinierte das Zusammenspiel von Israelis und Palästinensern auf der Suche nach einem musikalischen Kontrapunkt. „Jeder ist ein ‚anderer‘, schrieb Barenboim kürzlich, aber erst zusammengenommen bilden sie eine vollständige Einheit. Musik erzählt nie eine einzige Erzählung. Es gibt immer Dialog oder Kontrapunkt.“ Für eine solche Suche ist die atmende Gegenwart der ‚anderen‘ schlechthin unabdingbar. Was sie braucht ist das gemeinsame Üben, die gemeinsamen Auftritte und ein lebendiges Publikum, auf das die Spannung überspringt. Eine Kachelkommunikation reicht da niemals aus.
​ 
‚Nichts bleibt. Und ist man nicht veränderlich, so muß man sich so machen,‘ schrieb Rahel Levin 1793 an einen Freund. Damals wohnte sie, 22 Jahre alt, bei den Eltern in der Jägerstraße 54 oberhalb vom Bankhaus Levin, wo sie ‚tout Berlin‘ - die bereits genannten Tee und Rumtrinker aus allen gesellschaftlichen Schichten - in ihrer Dachstube empfing. Die Änderungen, die ihr vor Auge schwebten, umfassten, neben einer gesellschaftlichen Öffnung hin zur bürgerlichen Gesellschaft, auch die eigene Person. Ihre ersten Briefe schrieb sie noch in hebräischen Buchstaben. Um 1790 zogen die Levins vom Spandauer Viertel, wo die meisten Juden wohnten, in die Friedrichstadt. Das war ein enormer gesellschaftlicher Aufstieg. Zu etwa derselben Zeit schrieb der Aufklärer und Verleger Friedrich Nicolai über die Juden in Berlin, „Seit einiger Zeit arbeitet man daran, ihnen eine bessere bürgerliche Verfassung zu geben. Die reichen Häusern haben nützliche Fabriken und Manufakturen angelegt und führen ansehnliche Wechselbanken.“ Damit waren auch das Bankhaus Levin und das der Mendelsohns in der Jägerstraße gemeint. Rahel Levin befand sich just an der Schwelle von Diskriminierung zur gesellschaftlichen Akzeptanz. Sie schaffte sich indes einen eigenen Zugang zur Gesellschaft, indem sie andere zum Nachdenken animierte. Da oben in der Jägerstraße wurde das gesellschaftliche Debattieren erfunden, das für unser Verständnis von Öffentlichkeit prägend gewesen ist.  
Rahel Levin, die spätere Rahel Varnhagen, hat wie keine andere die Friedrichstadt geprägt. Sie liebte das Viertel und das Viertel liebte sie zurück. Außer in der Jägerstraße wohnte sie in der Behrenstraße (an zwei verschiedenen Adressen), der Französischen Straße, der Charlottenstraße und der Mauerstraße.  Als sie 1833 starb hatte sie eine ganze Generation Berliner dazu ermutigt, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, mit einander zu reden und sich zuzuhören. Ihre Ziele waren die der Aufklärung: Auszug aus der (politischen) Unmündigkeit und gesellschaftliche Gleichstellung, - von Männern und Frauen sowie von Christen und Juden. Und sie wusste, dass sich dies nur durch die Zusammenführung von Menschen, durch ihre leibhaftige Nähe, bewerkstelligen ließ.

Literatur:

Daniel Barenboim, ‚Nur Verstehen führt zur Freiheit‘. Frankfurter Allgemeine Zeitung (12.05.2020).
Ines Geipel, ‚Augen schauen dich an‘. Frankfurter Allgemeine Zeitung (6.05.2020).
Friedrich Nicolai, Wegweiser für Fremde und Einheimische durch die königl. Residenzstädte Berlin und Potsdam (Berlin: Nicolai, 1793 / Hildesheim: Olms, 1987), S. 52.
K.A. Varnhagen von Ense (Hg.), Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Erster Teil (Berlin: Bei Duncker und Humblot, 1834), S. 63.


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Mittwoch, der 20. Mai, Die Bendlerstraße

5/20/2020

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Die Bendlerstraße gibt es heute nicht mehr. Es gibt nur den Bendlerblock und die Bendlerbrücke. Der Block befindet sich in der Mitte der Straße. Die Brücke verbindet die beiden Seiten des Landwehrkanals an der Stelle wo man, den Tiergarten im Rücken, die Straße bis zu Ende gelaufen ist. Sommer wie Winter kann das eine schwere Aufgabe sein. Was man da unter die Füße nimmt ist nämlich die Staufenbergstraße, die bis Ende des zweiten Weltkriegs noch Bendlerstraße hieß. Die Staufenbergstraße ist nicht zum Flanieren geeignet, keine wohnliche Straße, ohne Bäume und Schutz, eine Strecke aus der Not geboren, deren hervorstechendsten Merkmal ist, dass sie Zugang zu einem der wichtigsten Erinnerungsorte Deutschlands gibt. 
 
Die Physiognomie der Staufenbergstraße ist die der Abgrenzung. Rechterhand ist sie völlig eingezäunt von Eisenstangen und Gittern. Vom Tiergarten her kommt zuerst das scharfe, hohe Gestänge der österreichischen und der ägyptischen Botschaft. Sodann folgt der Bendlerblock, die zentrale Militäranstalt, die zuerst dem Kaiser, dann in der Weimarer Republik der Obersten Heeresleitung, im Kriege dem Kommando des Ersatzheeres und schließlich auch der Widerstandsgruppe, die am 20. Juli 1944 gegen das nationalsozialistische Regime vorging, Obdach bot. Der Bendlerblock ist ein unfrohes Gebäude, das aus schweren Granitquadern besteht und einen gedrückten Zugang zu dem Innenhof bietet, dort wo sich heute die Gedenkstätte Deutscher Widerstand befindet. Wer sich herein wagt erblickt die Schwelle, den gefesselten Mann und den Ehrenkranz, denkt vielleicht an die letzten Zeilen, die Helmut von Moltke an seine Frau Freya schrieb: ‚Meine Seele ist im tiefsten Grunde sehr wohl geborgen, nur die Oberfläche zittert von Zeit zu Zeit‘, wissend, angesichts der Übermacht, um die Nichtigkeit seines Widerstandsakts.
 
Nach dem Bendlerblock nimmt das Gestänge seinen Rhythmus wieder auf. Die restliche Straße gehört dem Verteidigungsministerium und das Terrain hinter den Stäben ist völlig durchasphaltiert worden, wohl auch wegen dem großen Zapfenstreich, der hier bis vor kurzem jährlich stattfand. Der letzte große Zapfenstreich ist gar noch nicht so lange her. Am 15. August 2019 verabschiedete sich die Bundeswehr von Ursula von der Leyen, die darum bat, die Militärkapelle möge für sie wind of change von den Scorpions spielen. Ein halbes Jahr später folgten die Änderungen, welche unsere Gesellschaft aus der Bahn geworfen haben. Die Ministerin wird sicherlich an andere Änderungen gedacht haben als sie ihre Bitte äußerte, aber was sich seitdem vollzogen hat, ist so gravierend, dass man sich fragen kann, ob hier ein Zapfenstreich je noch stattfinden wird.
 
500 Meter misst die Staufenbergstraße. Rechterhand befinden sich vier Gebäudekomplexe, linkerhand nur drei. Sie ist auf eine Weise angeordnet, die nicht hinsehen lässt und die Spaziergänger eher dazu verführt, sich so schnell wie möglich zu entfernen. Es kostet tatsächlich einige Anstrengung, innezuhalten und sich vor Augen zu führen, wie die Straße vielleicht einmal ausgesehen hat. Stadtpläne, Fotos und Augenzeugen können dabei helfen. In Berliner Kindheit um Neunzehnhundert berichtet Walter Benjamin zum Beispiel, dass es ihm einmal im Leben gelungen sei, sich in Berlin zu verirren. Das war 1926 und verirren tat er sich in der Bendlerstraße, irgendwo zwischen der Bendlerbrücke und den Statuen von Luise und ihrem Friedrich Wilhelm, die am Ende der Straße noch immer im Tiergarten stehen. Nicht dass er nicht wusste, wo er sich befand. Der erwachsene Mann wurde lediglich dort dem Kinde erinnerlich, das er einmal gewesen war und vermochte so, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, für einen Moment der Gegenwart entschlüpfen. 
 
Das Kind Walter war nämlich nicht weit von dort am Magdeburger Platz aufgewachsen, wo der Vater eine Apotheke führte und er seine ersten Eindrücke sammelte. Vom Magdeburger Platz konnte man die Bendlerbrücke schon sehen. Wie Benjamin schreibt, stürmte dieses Kind jeden Tag zum Tiergarten, zuerst über die Brückenwölbung, die ihm bereits wie ein Hügelrücken vorkam und dann durch die dahinterliegende Straße bis zum Park. Sein Ziel waren Luise und Ferdinand auf ihren Sockeln. Dort verträumte er die Zeit und schwärmte von den Geheimnissen, die er noch nicht zu durchdringen vermochte, vor allen Dingen vom Geheimnis, das man Liebe nannte. Walter‘s Weg führte ihn nicht nur in das Traumland eines Adoleszenten, sondern auch immer wieder an die einundvierzig kleinen und großen Villen vorbei, die in tiefen Gärten entlang der Bendlerstraße standen. Das waren Häuser mit freundlichen Butzengläsern und kleinen Vortreppen, die bereits Mitte des neunzehnten Jahrhundert errichtet worden waren, gebaut für das Biedemeiersche Familienleben, später angepasst an die Repräsentationsnotwendigkeiten der Diplomaten, die um die Ecke in der Tiergartenstraße ihren Geschäften nachgingen. 
 
Diese Welt, die Benjamin mit Kinderaugen beschreibt, ging im zweiten Weltkrieg unwiderruflich verloren. Während dem Bombardement von Berlin wurde auch das Diplomatenviertel schwer getroffen. Als die Kapitulation endlich gezeichnet worden war standen von den ursprünglich 529 Gebäuden des Viertels nur noch 49 Ruinen. Die Militäranstalt in der Bendlerstraße, die heute als Stätte des Deutschen Widerstands dient, war eine davon. Die übrigen Gebäude, die einen heute dazu anspornen, so schnell wie möglich daran vorbei zu gehen, wirken wie von einer Riesenhand auf einem Schachbrett herumgeschoben. Ihre Zäune, Stäbe und Gestänge sind nur Riesen-Ornament. 
 
Heute Morgen um 9.30 wirkte die Stauffenbergstraße wie ausgestorben. Ein orangener Müllwagen fuhr die Tonnen ab. Auf dem Parkplatz des Ministeriums stand eine Handvoll Autos. Mitte auf der Bendlerbrücke stehend sah ich dem Schöneberger Ufer und dem Reichspietsch Ufer dabei zu, wie sie verlassen in der Sonne lagen. Ein Bus durchquerte die Sonne- und Schattenpartien Richtung Zentrum. Die Kastanien streuten ihre Blüten auf die Fahrbahn. Auf dem mobility index mag Berlin mit 26 Prozent ihres ursprünglichen Verkehrsaufkommens im Augenblick zu den meistbefahrenen Städten der Welt gehören, auf der Brücke merkte man nichts davon. Es war dieser Blick, der mir zur Hilfe kam, um in den Schemen der Vergangenheit die Konturen der aufziehenden  Gegenwart nachzuzeichnen. Heute ist Tag dreiundsechzig. Die Ansätze lassen sich jetzt erahnen.


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    Die Autorin wohnt in Berlin-Wilmersdorf

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    June 2020
    May 2020

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