Heute, am neunundneunzigsten Tag der Corona-Krise, geht es durch die Steinwüste des Alexanderplatzes, vorbei an Menschenschlangen, die in der Sonne stehen, vorbei an den Bögen der S-Bahn und den Türmen des Saturns, vorbei an Bekleidungs-geschäften, Bankfilialen und Imbissbuden, vorbei auch an Baustellen und fortgeworfenen Pappkartons. Der Alexanderplatz ist kein einfacher Ort zum Navigieren, doch unaufhaltsam gehen die Füße Richtung Fernsehturm. In seinem Schatten warten Besucher schon auf Einlass. Zwei Schlangen haben sich dabei gebildet. In der ersten hält man im Internet gekauften Zugangskarten in der Hand. Die zweite besitzt eine solche Ressource nicht. Solange die Türen sich nicht öffnen gibt es zwischen beiden Menschengruppen einen hektischen Wechsel. Bin ich hier falsch? Ist es dort besser? so scheinen alle sich zu fragen und wechseln noch schnell den Platz. Das ändert sich schlagartig, sobald ein junger Mann in der Türöffnung erscheint. Feierlich fängt er an, die Karten zu studieren und deren Inhaber zu belehren. Es gilt, die Etikette zu beachten, die Hände zu waschen, die Maske vor das Gesicht zu tun, die Treppe zu besteigen und vor den Aufzügen Schlangen zu bilden. Die Leute reagieren lammfromm. In einem langen Flurstück oben an der Treppe nimmt uns ein zweiter Zeremonienmeister im Empfang. In Amt und Würden ist er hier schon einunddreißig Jahre, erzählt, was er immer den Besuchern erzählt, von den 360 Metern und den vierzig Sekunden, von den zehn Etagen im Wasserkopf, vom Restaurant und von der großartigen Aussicht. Fünf Besucher dürfen heute zusammen im Aufzug fahren. Der Meister misst gerecht die Schlangen ab, teilt ein, drückt den Knopf und scheucht uns Grüppchen nach Grüppchen in die Höhe.
Was ich hier suche? Im Wirrwarr der vielen Eindrücke suche ich nach der Übersicht. Kann man vielleicht von oben sehen, wo während der Corona-Krise die Post abging? Lassen sich mit dem Finger die Routen meiner Erkundungsgänge nachzeichnen? Sind im Osten und Westen, im Süden und im Norden der Stadt die S-Bahnkreuze auszumachen? Und was ist mit den Kiezen ringherum? Kann man von oben auch Baustellen sehen? Wie ist es mit dem langweiligsten Ort Berlins? Welchen Eindruck machen Berliner Friedhöfe in einer Höhe von 360 Meter? Was ist mit der Mauer? Ahnt man noch, wo sie verlief? Wie sieht es aus am Flughafen Tegel? Vielleicht sieht man dort oben Flugzeuge beim Landen zu? Kann ich bis zum Stadtrand gucken? Was ist mit den Straßen, die ich nicht gelaufen bin?
Im Turm sind vier Windrichtungen hinter getönten Fenstern zu betrachten. Unter unseren Füßen erstreckt sich weit und gleichgültig Berlin. Erläuterungen buhlen um die Aufmerksamkeit der Betrachter, Fotos geben die Blickrichtungen vor. Es glitzert das Wasser der Spree. Es glitzern die Fenster der Autos, lange Karawanen vom Ostkreuz her. Es glänzen die Türme und Kuppeln am Fuße des Turms. Bilder von nah und fern und von noch ferneren Himmeln. Berlin ist ein Spielzeugkasten voller roter und weißer und grüner Scheiben, die man nicht verschieben kann. Dazwischen streben Straßen unaufhaltsam zum Horizont. In jeder Windrichtung ist dahinter Brandenburg zu sehen, einfach immer der Straße nach, dann kommt man von selber hin.
Da erstreckt sich Berlin, die Stadt der Aufklärer, Moses Mendelsohn am Neuen Tor, Rahel Varnhagen in der Friedrichstadt, das „Buch an meine Freunde“ und die Freunde selber, für immer zusammen hinterm Halleschen Tor. Berlin, die Stadt der Einwanderer und der kleinen Leute, den schlesischen Arbeitern am Ostkreuz, den Türken in Neukölln, dem ukrainischen Akkordeonspieler auf der Wilmersdorfer Straße, den Obdachlosen am Bahnhof Zoo. Berlin, die Stadt der vielen Unterwelten, der Geisterorte am Nordbahnhof, der grünen Aquarien unterm Alexanderplatz, den kalten Schluchten vom Hauptbahnhof. Berlin, die Stadt der Preußen und des Militarismus, die Stadt des Größenwahns und dem Kurfürstendamm. Berlin, die Stadt von Hitler und den Bomben, von den Nachbarn, die ermordet worden sind, die Stadt der Millionen Zwangsarbeiter in geteerten Schuppen, die Stadt der Trümmern, der Wehleidigkeit und haben-wir-nicht-gewusst. Berlin, die Stadt der beiden Hälften, Besserwisser alle zwei, nichts könnte deutscher sein. Berlin, die Stadt der vielen Kaninchen, die Stadt der Mauerspechte und weg damit! Berlin von ‚du bist so wunderbar‘ und Heimweh nach dem Kurfürstendamm. Berlin, die Stadt der Alten, die an der Ampel Unverständliches raunen und die der trotzigen jungen Leuten, in Corona-Party-Stimmung versetzt. Von oben ist das alles nicht zu sehen. Es erstreckt sich gleichgültig die Riesin Berlin.
Von oben sind die Stadtteile Kreuzberg und Neukölln gerade noch auszumachen, nicht aber der Karl-Marx-Platz, nicht die Sonnenallee und nicht der Cottbusser Tor. Der Kasten des Ostkreuzes ist im Dunst zu unterscheiden, nicht aber die Stralauer Vorstadt, nicht Treptow und nicht die Brücken über der Spree. Dort irgendwo müssten die neuen Hotspots des Corona-Virus sich befinden. Es sollten schon wieder sieben sein. Da wäre es doch hilfreich, wenn unsere Stadtmütter und -Väter weiße Ballons darüber fliegen lassen würden. So könnte man von hier oben zumindest sehen, wo genau was ist.
Berlin von oben, das sind die großen Straßen und Alleen, das ist der Tiergarten, der Humboldthain und das Tempelhofer Feld. Die Stadtbahn liegt einem direkt zu Füßen. Doch die Ringbahn sieht nur, wer sie ahnen kann. In Richtung Westen sind die Uhlandstraße und der Kurfürstendamm von hier aus nicht erkennbar. Sie werden auf der Tafel auch nicht erwähnt. Die roten Dächern von Lichtenberg schimmern. Dahinter soll also das Stasi-Museum zu sehen sein? In Richtung Osten wird man auf die Schönhauser Allee, den Mauerpark und den Nordbahnhof verwiesen. Auch Geisterbahnhöfe werden erwähnt, aber zu sehen ist davon nichts. Über die Bresche, welche die Mauer durch die Stadt geschlagen hat, schweigen die Anweisungen stille. Vergeblich die Suche nach dem Weddinger Hasensprung. Wäre doch schön gewesen, ihn von oben noch einmal ausmachen zu können. Eine Reihe strategisch angebrachter Spiegel würde es schon tun.
So geht es rund und rund, vom Westen in den Osten, vom Osten in den Westen und wieder zurück. Man erblickt die Straßen, die auf ihre Erkundung noch warten, die Straße des siebzehnten Juni, die Straße Unter den Linden, die Landsberger- und Karl-Marx-Allee. Unbesungen die Türme der Gropiusstadt und Oberschönhausen. Aus der Ferne grüßen sie freundlich hinüber. Bis zum nächsten Mal. Wir kommen zurück.
Was ich hier suche? Im Wirrwarr der vielen Eindrücke suche ich nach der Übersicht. Kann man vielleicht von oben sehen, wo während der Corona-Krise die Post abging? Lassen sich mit dem Finger die Routen meiner Erkundungsgänge nachzeichnen? Sind im Osten und Westen, im Süden und im Norden der Stadt die S-Bahnkreuze auszumachen? Und was ist mit den Kiezen ringherum? Kann man von oben auch Baustellen sehen? Wie ist es mit dem langweiligsten Ort Berlins? Welchen Eindruck machen Berliner Friedhöfe in einer Höhe von 360 Meter? Was ist mit der Mauer? Ahnt man noch, wo sie verlief? Wie sieht es aus am Flughafen Tegel? Vielleicht sieht man dort oben Flugzeuge beim Landen zu? Kann ich bis zum Stadtrand gucken? Was ist mit den Straßen, die ich nicht gelaufen bin?
Im Turm sind vier Windrichtungen hinter getönten Fenstern zu betrachten. Unter unseren Füßen erstreckt sich weit und gleichgültig Berlin. Erläuterungen buhlen um die Aufmerksamkeit der Betrachter, Fotos geben die Blickrichtungen vor. Es glitzert das Wasser der Spree. Es glitzern die Fenster der Autos, lange Karawanen vom Ostkreuz her. Es glänzen die Türme und Kuppeln am Fuße des Turms. Bilder von nah und fern und von noch ferneren Himmeln. Berlin ist ein Spielzeugkasten voller roter und weißer und grüner Scheiben, die man nicht verschieben kann. Dazwischen streben Straßen unaufhaltsam zum Horizont. In jeder Windrichtung ist dahinter Brandenburg zu sehen, einfach immer der Straße nach, dann kommt man von selber hin.
Da erstreckt sich Berlin, die Stadt der Aufklärer, Moses Mendelsohn am Neuen Tor, Rahel Varnhagen in der Friedrichstadt, das „Buch an meine Freunde“ und die Freunde selber, für immer zusammen hinterm Halleschen Tor. Berlin, die Stadt der Einwanderer und der kleinen Leute, den schlesischen Arbeitern am Ostkreuz, den Türken in Neukölln, dem ukrainischen Akkordeonspieler auf der Wilmersdorfer Straße, den Obdachlosen am Bahnhof Zoo. Berlin, die Stadt der vielen Unterwelten, der Geisterorte am Nordbahnhof, der grünen Aquarien unterm Alexanderplatz, den kalten Schluchten vom Hauptbahnhof. Berlin, die Stadt der Preußen und des Militarismus, die Stadt des Größenwahns und dem Kurfürstendamm. Berlin, die Stadt von Hitler und den Bomben, von den Nachbarn, die ermordet worden sind, die Stadt der Millionen Zwangsarbeiter in geteerten Schuppen, die Stadt der Trümmern, der Wehleidigkeit und haben-wir-nicht-gewusst. Berlin, die Stadt der beiden Hälften, Besserwisser alle zwei, nichts könnte deutscher sein. Berlin, die Stadt der vielen Kaninchen, die Stadt der Mauerspechte und weg damit! Berlin von ‚du bist so wunderbar‘ und Heimweh nach dem Kurfürstendamm. Berlin, die Stadt der Alten, die an der Ampel Unverständliches raunen und die der trotzigen jungen Leuten, in Corona-Party-Stimmung versetzt. Von oben ist das alles nicht zu sehen. Es erstreckt sich gleichgültig die Riesin Berlin.
Von oben sind die Stadtteile Kreuzberg und Neukölln gerade noch auszumachen, nicht aber der Karl-Marx-Platz, nicht die Sonnenallee und nicht der Cottbusser Tor. Der Kasten des Ostkreuzes ist im Dunst zu unterscheiden, nicht aber die Stralauer Vorstadt, nicht Treptow und nicht die Brücken über der Spree. Dort irgendwo müssten die neuen Hotspots des Corona-Virus sich befinden. Es sollten schon wieder sieben sein. Da wäre es doch hilfreich, wenn unsere Stadtmütter und -Väter weiße Ballons darüber fliegen lassen würden. So könnte man von hier oben zumindest sehen, wo genau was ist.
Berlin von oben, das sind die großen Straßen und Alleen, das ist der Tiergarten, der Humboldthain und das Tempelhofer Feld. Die Stadtbahn liegt einem direkt zu Füßen. Doch die Ringbahn sieht nur, wer sie ahnen kann. In Richtung Westen sind die Uhlandstraße und der Kurfürstendamm von hier aus nicht erkennbar. Sie werden auf der Tafel auch nicht erwähnt. Die roten Dächern von Lichtenberg schimmern. Dahinter soll also das Stasi-Museum zu sehen sein? In Richtung Osten wird man auf die Schönhauser Allee, den Mauerpark und den Nordbahnhof verwiesen. Auch Geisterbahnhöfe werden erwähnt, aber zu sehen ist davon nichts. Über die Bresche, welche die Mauer durch die Stadt geschlagen hat, schweigen die Anweisungen stille. Vergeblich die Suche nach dem Weddinger Hasensprung. Wäre doch schön gewesen, ihn von oben noch einmal ausmachen zu können. Eine Reihe strategisch angebrachter Spiegel würde es schon tun.
So geht es rund und rund, vom Westen in den Osten, vom Osten in den Westen und wieder zurück. Man erblickt die Straßen, die auf ihre Erkundung noch warten, die Straße des siebzehnten Juni, die Straße Unter den Linden, die Landsberger- und Karl-Marx-Allee. Unbesungen die Türme der Gropiusstadt und Oberschönhausen. Aus der Ferne grüßen sie freundlich hinüber. Bis zum nächsten Mal. Wir kommen zurück.